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Never Loved Before - Roman

Monica Murphy

 

Verlag Heyne, 2018

ISBN 9783641221973 , 512 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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8,99 EUR


 

Katherine


Gegenwart


Als ich vorhin das Interview geschaut und all die alten Fotos von mir gesehen habe, Bilder vom Tatort, von der Gerichtsverhandlung … sind alle Erinnerungen zurückgekehrt. Eine nach der anderen sind sie über mich hergefallen, nachdem ich sie so viele Jahre lang ganz tief in meinem Gedächtnis verbannt hatte. Ein überwältigender Ansturm. Und das Ergebnis waren schließlich fürchterliche Kopfschmerzen.

Ich habe viele Geschichten gehört, wie das Gehirn Menschen beschützt, die ein traumatisches Erlebnis hatten, indem es die Erinnerung löscht. In der Grundschule wurde eine Klassenkameradin von einem Auto angefahren, flog fünfzehn Meter durch die Luft und erinnerte sich …

… an nichts. An absolut gar nichts.

Wie sehr ich mir wünsche, mein Gehirn hätte mich vor den traumatischen Tagen beschützt, die ich durchmachen musste, indem es diese schrecklichen Erinnerungen abblockte, aber bei mir war es nicht so. Ich mag diese Erinnerungen nach Kräften verdrängt haben, doch sie sind immer da. Sie lauern auf mich. Sie warten nur darauf, zurückzukehren und mich heimzusuchen.

Heute Abend habe ich zum ersten Mal seit … einer Ewigkeit an ihn gedacht. Und mit ihm meine ich nicht das böse Monster, den schrecklichen Mann.

Ich denke an den anderen. Den Sohn. William.

Will.

Während des Interviews brachte Lisa das Gespräch auf ihn und fragte, ob ich nach allem, was passiert sei, je Kontakt mit ihm gehabt habe.

Ich log.

Aber er hatte mir als Erster geschrieben, gleich nach meiner Rückkehr zu meiner Familie. Ein Brief in einer kaum lesbaren steilen Handschrift, schnell hingeschmierte Zeilen auf liniertem Papier. Schmerzerfüllte Worte, der Wunsch, dass es mir wieder besser gehen möge, die Hoffnung, dass ich mich erholt habe, und eine Entschuldigung.

Eine lange, von Herzen kommende Entschuldigung, für die er nicht den geringsten Grund hatte. Er war gut zu mir gewesen. Er hatte mich gerettet. Außerdem lag seinem Brief noch ein Geschenk bei – ein Armband, an dem ein Schutzengel hing.

Ich trug dieses Schmuckstück monatelang, es war der einzige Gegenstand, der mir ein Gefühl der Sicherheit vermittelte und mir half weiterzumachen. Anfangs schrieben wir uns wöchentlich, dann ein, zwei Mal im Monat. Gelegentlich schickten wir uns E-Mails, und als ich endlich ein eigenes Handy bekam, auch SMS. Aber irgendwann brach er den Kontakt zu mir ab.

Ich hatte das Armband, Wills Geschenk, seit Jahren nicht mehr getragen und bewahrte es in einer alten Schmuckdose auf. Doch am Abend, nachdem ich das Interview gesehen hatte, kramte ich es hervor, legte es an und ließ die Finger immer wieder über den Anhänger gleiten, damit er mir Kraft gab. Damit er mir Mut machte.

Lisa warf mir einen skeptischen Blick zu, als ich ihre Frage über Will verneinte, aber ich blieb dabei. Ich zuckte mit keiner Wimper. Nach einem langen Moment des Schweigens erklärte sie, sie selbst wisse auch nichts über ihn. Sie könne nur vermuten, dass er seinen Namen geändert und eine andere Identität angenommen habe. Dass er nun ein neues Leben führe.

Hoffentlich war das wirklich so. Die Alternative wollte ich mir gar nicht erst ausmalen. Was, wenn er sich genau wie sein Vater dem Verbrechen zugewandt hatte? Was, wenn er die Schuldgefühle nicht abschütteln konnte, der Sohn dieses furchtbaren Mannes zu sein? Was, wenn … was, wenn er sich das Leben genommen hatte? Ich selbst hatte im Laufe der Jahre durchaus diese Versuchung verspürt. Gerade auch als ich noch jünger war und nicht wusste, wie ich mit allem fertigwerden sollte, gingen mir ständig Selbstmordgedanken durch den Kopf.

Aber ich machte weiter. Hielt durch. Und fand wieder zu mir selbst. Und Will? Hatte er es ebenfalls geschafft und einfach weitergemacht?

Während der Sendung streifte Lisa ihn nur ganz am Rande. Ein paar Anmerkungen hier und da – dabei hatte er mehr verdient. Er ist der einzige Grund, aus dem ich noch lebe. Der Teil des Interviews, in dem wir über ihn sprachen, wurde in der Sendung stark gekürzt. Warum mich das so traurig machte, weiß ich nicht.

Will war nicht mein Feind. Er hat mir geholfen. Ich gebe nichts auf die vielen Artikel und Berichte, in denen unterstellt wird, er sei an den bösen Taten seines Vaters beteiligt gewesen. Immer wieder wurde er bei den Verhören gefragt, warum er mich nicht früher zur Polizeiwache gebracht habe. Auch mich hat man andauernd zu Wills Rolle gelöchert.

Hat er dich belästigt?

Nein.

Hat er dich gezwungen, ihn zu berühren?

Nein.

Hatte er Sex mit dir?

Nein.

Hat er dich zu etwas genötigt? Ist er gewalttätig geworden?

Nein und nochmals nein.

Die Polizisten wirkten nie richtig zufrieden mit meinen Antworten.

War ihnen nicht klar, dass er einfach nur ein Kind war, so wie ich? Ich war beinahe dreizehn, als es passierte. Er war damals fünfzehn. Fast schon ein Erwachsener, hatte einer der Cops während meiner Erstbefragung in sich hineingemurmelt. Wir haben schon Mörder ins Gefängnis gesteckt, die jünger waren.

Was sie ihm unterstellten, stimmte nicht. Er war mein Held.

Mein Schutzengel.

Meine Antwort auf seinen Brief und sein Geschenk war eine Karte mit meinem innigen Dank in mädchenhafter Schrift. Ich schickte ihm ebenfalls ein kleines Geschenk. Mehr war nicht möglich, denn ich war noch ein Kind und wusste, dass meine Eltern außer sich sein würden, wenn sie herausfänden, dass ich mit dem Sohn meines Entführers korrespondierte. Für sie spielte es keine Rolle, dass er mich gerettet hatte. In ihren Augen war Will der Feind.

Irgendwann im Verlauf des Interviews höre ich nicht mehr hin und googele stattdessen auf meinem Laptop nach Will. Doch ich werde nicht fündig. Lisa hat wohl recht gehabt. Anscheinend hat er Namen und Identität gewechselt und ist weit weggezogen.

Nach dem Ende der Sendung suche ich weiter, und als ich mich endlich aufrichte, tun mir Rücken und Schultern weh. Im Fernsehen macht gerade ein spätnächtlicher Showmaster seine Scherze, und ich schalte aus, weil ich die brav auf jede Pointe folgenden Lachsalven des Publikums nicht ertrage.

Wie eine Lachkonserve. Als wäre alles ein Fake. Unwirklich. Ich halte die Hand vor Augen, balle sie zur Faust, öffne sie so heftig, dass meine Knöchel knacken, und bemerke, dass meine Finger …

Sie zittern.

Ich schlage den Laptop zu, springe auf und wandere rastlos durch mein winziges Haus. Nach der Sendung hat Mom sich in einer Textnachricht erkundigt, ob mit mir alles in Ordnung ist, und ich habe sie beruhigt. Es ginge mir gut. Und das tut es auch. Mich selbst im Fernsehen zu sehen … fand ich eigenartig, aber mir beim Erzählen der Geschichte zuzuhören, war wie eine innere Reinigung. Ich hatte diese Worte so lange zurückgehalten, und da ist es fast befreiend, nun zu wissen, dass die Geschichte an die Öffentlichkeit gelangt ist.

Alle können meine Schande sehen.

Es ist spät, und ich bin müde. Ich muss ins Bett, und so mache ich mich fertig. Ich wasche mir das Gesicht, putze mir die Zähne, bürste mein Haar und binde es zu einem unordentlichen Knoten oben auf dem Kopf zusammen. Lange schaue ich mein Spiegelbild an, meine schlichten Gesichtszüge, das verblichene blonde Haar und die glanzlosen blauen Augen. Ich fühle mich … leer.

Reizlos.

Nichtssagend.

Ich schlüpfe in ein T-Shirt und eine Jogginghose und werfe meine Kleider in den Wäschekorb. Jeden Abend mache ich gewohnheitsmäßig das Gleiche. Ich mag Gewohnheiten. Das gibt mir das Gefühl, alles unter Kontrolle zu haben.

In Sicherheit zu sein.

Ich schlüpfe unter die Bettdecke, stecke mein Handy zum Aufladen ein und schalte die Nachttischlampe aus. Im Haus ist es still, fast unheimlich still, und normalerweise mag ich das. Ich wohne im letzten Haus einer Sackgasse; nach hinten stößt mein Garten an den Wald. Mom fand es verrückt von mir, in so ein Haus zu ziehen.

Sie hat Angst, dass jemand im Dunkeln zwischen den Bäumen lauern könnte, bemerkte Brenna einmal leichthin, als wäre es ein Scherz, aber ich wusste, dass sie es ernst meinte.

Böse Menschen gibt es überall, antwortete ich. Sie lauern im Dunkeln. Egal, wo wir sind oder was wir machen. Wenn jemand hinter uns her ist, findet er auch eine Möglichkeit, uns zu schnappen.

Daraufhin sagte Brenna, das sei makaber. Und sie hat recht. Ich finde das Leben makaber. Wenn man schon einmal dem Tod ins Auge gesehen hat, was bleibt dann noch, wovor man Angst haben müsste? Ich sage mir, dass ich das Leben in vollen Zügen genießen sollte. Dass ich mich nicht in meinem sicheren kleinen Häuschen verstecken sollte, mit meinen sicheren kleinen Gewohnheiten und meiner reizlosen, nichtssagenden Existenz.

Doch so einfach ist das nicht. Keine Angst zu haben. Sich selbst zu glauben, dass man mutig ist. Ich bewundere die Menschen, die völlig unbeschwert durchs Leben gehen. Die tun, was sie wollen, wann sie es wollen.

Aber das schaffe ich nicht. Ich gestatte es mir nicht. Meine Angst ist zu groß.

Und so bleibe ich vorläufig hier. Mein Haus, die Stille, die Nachbarschaft und meine direkte Nachbarin Mrs. Anderson, die manchmal ein bisschen wichtigtuerisch und neugierig ist, aber es doch gut meint – das alles beruhigt mich.

Genau wie meine Gewohnheiten.

Ich...