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Sterne über dem Meer - Roman

Kimberley Freeman

 

Verlag Goldmann, 2018

ISBN 9783641226084 , 512 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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7,99 EUR


 

GEGENWART

»Mum?«

»Sie ist noch ein bisschen verwirrt. Machen Sie sich keine Sorgen, wenn sie …«

»Mum?«, wiederhole ich mit ein wenig mehr Nachdruck, so wie ich früher manchmal als junges Mädchen mit ihr gesprochen habe, wenn ich leicht genervt war. Ich sehe meiner Mutter ins Gesicht, und sie erwidert meinen Blick, trotzdem scheint sich ein Schleier zwischen uns zu befinden. Auf der einen Seite die blassgrünen Krankenhauswände, die Schwester und ich. Auf der anderen meine Mutter, komplett durch den Wind.

Aber dann lüftet sich der Schleier endlich. »Victoria?«, sagt sie.

Ich lächle. »Ja, ich bin’s.« Sie ist die Einzige, die mich bei meinem vollen Vornamen nennt. Für alle anderen bin ich Tori – ein stinknormaler Null-acht-fünfzehn-Name. Sie hat mich nach einer Königin benannt. Aber ich bin keine Königin.

»Ich bin vor ein Auto gelaufen«, sagt sie – als Erklärung für die Abschürfungen in ihrem blassen, von leichten Falten durchzogenen Gesicht.

»Ich hab’s gehört.«

»Na ja, es hätte schlimmer ausgehen können. Ich habe mir ja nichts gebrochen.« Sie schnieft. »Aber deshalb bist du bestimmt nicht extra aus Australien hergekommen.«

Die Krankenschwester tätschelt ihren Oberschenkel. »Ich lasse Sie beide jetzt allein, in Ordnung, Mrs Camber?«

»Professor Camber«, korrigieren wir sie gleichzeitig in gereiztem Tonfall.

»Na, sieh mal einer an, wie schnell sich Ihr Gedächtnis plötzlich erholt«, sagt die Schwester und geht zur Tür. Sie klingt gar nicht nett. Ich dachte immer, Krankenschwestern wären grundsätzlich freundliche Menschen, aber allein schon, wie sie über meine Mutter gesprochen hat: »Die alte Madam« und »die dumme Nuss«, dabei ist Mum gerade mal siebzig und weder dumm noch sonst was.

Doch jetzt sind wir allein, und ich sehe sie wieder an. Sie sieht verängstigt aus, und ich spüre, wie sich ihre Furcht auf mich überträgt, und bekomme ein flaues Gefühl im Magen. Wovor hat sie Angst? Sollte ich vor etwas Angst haben? Ich zwinge mich zu einem Lächeln. »Tja«, sage ich.

Meine Mutter lächelt ebenfalls. Mein Lächeln scheint sie zu beruhigen. »Aber deshalb bist du bestimmt nicht extra aus Australien hergekommen«, sagt sie noch einmal – vielleicht als rhetorische Wendung oder bloß, weil sie schon wieder vergessen hat, dass sie das gerade gesagt hat.

»Wegen deinem Unfall? Nein, eigentlich nicht. Ich bin hier, weil ich …«

Sie starrt ins Leere. In ihrer Jugend war meine Mutter eine echte Schönheit, und wahre Schönheit vergeht nie. Zwar sind ihre Haare mittlerweile stahlgrau und ihre Wangen hohl, und um ihren Mund kräuseln sich zahllose Fältchen, aber sie hat immer noch schöne große, blaue Augen und lange, dunkle Wimpern.

Ein schwacher Sonnenstrahl fällt durch das Fenster, und vom Bristol Channel hört man das gedämpfte Kreischen der Möwen. Mum arbeitet in Bristol, hat jedoch immer in Portishead gelebt. Ihr Haus liegt fünf Minuten von der Klinik entfernt. Bei ihren Nachmittagsspaziergängen ist sie bestimmt unzählige Male daran vorbeigekommen, ohne je auf die Idee zu kommen, dass sie eines Tages hier landen würde: in dem »Heim für alte Ladys, die plemplem geworden sind«, wie sie oft gesagt hat.

Wird sie noch in Bristol arbeiten? In den E-Mails, die sie mir in den letzten achtzehn Monaten geschrieben hat, klang mehr als deutlich durch, dass sie sich mit ihrem Ruhestand nur sehr zögernd anfreunden konnte.

»Es ist nicht so schlimm, wie die glauben«, sagt sie schließlich. »Ich vergesse manche Dinge, aber dafür erinnere ich mich wieder an andere.«

»Deine Ärztin hat mir gesagt, es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass du durch die Gegend geirrt bist.«

»Ich bin an der falschen Haltestelle ausgestiegen. Sie haben die Busroute geändert, und das hat mich durcheinandergebracht. Hör nicht auf Dr. Chaudry. Sie ist jung und glaubt, sie weiß alles.«

Ich hake nicht weiter nach. Vier Mal, hat die Ärztin gesagt. Vier Mal ist meine Mutter verwirrt und orientierungslos auf der Straße aufgegriffen worden. »Wahrscheinlich ist es öfter vorgekommen, aber dann hat sie doch noch nach Hause gefunden oder mir nichts davon erzählt«, hat Dr. Chaudry gesagt. Eine Reihe von Tests sind ohne mein Wissen durchgeführt worden, und die Diagnose ist keine Überraschung. Margaret Camber, die gefürchtete emeritierte Professorin für Geschichte am Locksley College: plemplem.

Definitiv plemplem.

Für jede Frau ist das eine schreckliche Diagnose, für eine so hochintelligente Frau wie meine Mutter jedoch muss es doppelt so schlimm sein.

Dreifach so schlimm sogar, weil sie meine Mum ist.

Ich sitze neben ihrem Bett und kann es immer noch nicht glauben. Dass meine Mutter nicht unbesiegbar ist. Dass sie ebenso wenig immun gegen Krankheit und Sterblichkeit ist wie alle anderen auch. Ich habe Kopfschmerzen vom Jetlag und das Gefühl, als könnte ich nicht klar denken. Ich bin traurig, bedrückt. Ich möchte, dass meine Mutter mich tröstet, doch seltsamerweise sind plötzlich unsere Rollen vertauscht, und es sieht ganz so aus, als müsse ich die Rolle der Trösterin übernehmen.

»Wie lange bleibst du?«, fragt sie nach einer Weile.

»So lange, wie du mich brauchst.«

»Geoff wird sauer sein, wenn ich deine Hilfe über Gebühr in Anspruch nehme.«

»Ach was.«

Erneut herrscht Stille. Dann: »Wie lange bleibst du?«

»So lange, wie … Ich weiß noch nicht genau. Ich habe keinen Rückflug gebucht.«

»Kannst du bitte so schnell wie möglich in mein Büro gehen?«

»Dein Büro? An der Uni?«

Sie nickt, und ich merke, wie sie sofort neue Energie verspürt. »Sonst schmeißen die alles weg, und ich bin noch nicht mit Sortieren fertig.«

»Du meinst deine Bücher und Unterlagen? Soll ich sie zusammenpacken?«

»Die haben meine ganzen Sachen mitten im Zimmer gestapelt. Die verdammten Mistkerle!«

»Reg dich nicht auf, Mum. Wo ist dein Büroschlüssel?«

»Bei meinen anderen Schlüsseln. Meine Handtasche ist in der Schublade da drüben.«

Sie zeigt auf eine Kommode auf der anderen Seite des Bettes. Ich ziehe die unterste Schublade auf und nehme die Schlüssel aus ihrer Handtasche.

»Ich fahre hin, sobald die Schwester mich rausschmeißt«, sage ich.

Sie entspannt sich wieder. »Ich dachte, ich hätte ihn gesehen. Emile.«

»Wer ist Emile?«

»Aber jetzt ist mir klar, dass das ja gar nicht möglich ist. Ich habe da irgendwas durcheinandergebracht. Aber ich dachte, ich hätte ihn auf der anderen Straßenseite gesehen, und habe nicht auf den Verkehr geachtet.«

»Wer ist Emile?«, wiederhole ich.

Traurig schüttelt sie den Kopf. »Ich wollte ihn nur fragen, wie die Geschichte ausgegangen ist.« Sie murmelt irgendetwas vor sich hin. Der Schleier senkt sich wieder. Ich bin mir nicht mal sicher, ob sie mich überhaupt noch wahrnimmt.

Schweigend streichle ich ihre Hand. Die Schwester kommt herein und verkündet gut gelaunt, es sei Zeit für den Tee. Ich weiß nicht, ob es an meinem Jetlag oder am Zustand meiner Mutter liegt, aber ich fühle mich ganz und gar nicht nach einem nachmittäglichen Tässchen Tee. Mir ist, als wäre finsterste Nacht.

Das Locksley College liegt an einer langen, von Bäumen gesäumten Straße oberhalb der Clifton Suspension Bridge. Meine Mutter ist jeden Tag auf dem Weg zur Arbeit voller Freude über diese Ikone der viktorianischen Architektur gefahren, insbesondere als Historikerin und Spezialistin für die Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts – der Alltagsgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts, um genau zu sein. Sie hat auf BBC 2 sogar für kurze Zeit eine Sendereihe mit dem Titel Das Leben viktorianischer Frauen moderiert. Das war in den Neunzigern, als es mir noch peinlich war, wenn meine Arbeitskollegen sich darüber ausließen, wie attraktiv sie meine Mutter fanden: Mum war fünfzig, ich neunzehn, und ich schien dazu verdammt, für den Rest meines Lebens in ihrem Schatten zu stehen.

Ich fahre im Schritttempo die Straße entlang, halte Ausschau nach einer Parklücke. Eigentlich bin ich sehr müde, aber die zwei Stunden mit dem Mietwagen von Heathrow nach Bristol habe ich schließlich auch überlebt. Ich finde einen Parkplatz, werfe ein paar Münzen in die Parkuhr. Dann gehe ich zum Beech House hinüber (1901 erbaut, also gerade noch viktorianisch) und die abgetretenen Steinstufen hinauf in den dritten Stock in Mums Büro.

Ich werfe kurz einen Blick über die Schulter, bevor ich den Schlüssel ins Schloss stecke. Schuldig fühle ich mich nicht, vielleicht eher wie auf einer geheimen Mission. Stille. Es ist schon nach sechs. Die einen sind wahrscheinlich nach Hause gegangen, um den langen englischen Sommerabend zu genießen, die anderen längst in den Ferien. Ich schließe die Tür hinter mir und bin schlagartig von den Gerüchen umgeben, die ich mit meiner Mutter verbinde, der Muff von alten Büchern, der Duft von Rosenöl. Ich halte einen Augenblick inne und atme tief durch.

Als ich mich umsehe, zieht sich vor Zorn mein Magen zusammen. Mum hatte recht: Irgendwelche »Mistkerle« haben all ihre Akten und Unterlagen aus den Schubladen und Regalen gerissen und sie achtlos in Kartons geworfen, die aufeinandergetürmt in der Mitte des Zimmers stehen. Ein einziges Chaos, die Bücher auf dem Boden und dem Schreibtisch, in den Regalen nur noch Staub.

»Oh, Mum«, sage ich leise, während ich ein paar lose Seiten aus einem Rezeptbuch von 1881 zur Hand nehme und mir...