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Schattendämmerung - Roman

Nora Roberts

 

Verlag Heyne, 2019

ISBN 9783641224837 , 592 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

Prolog


Es hieß, ein Virus habe das Ende der bisherigen Welt verursacht. Doch es war Zauberei, Magie so schwarz wie eine mondlose Mitternacht. Das Virus war ihre Waffe, ein schwirrender Pfeilhagel, lautlos treffende Kugeln, eine gezackte, geschliffene Klinge. Und dennoch waren es Unschuldige, die das Verderben verbreiteten und Milliarden von Menschen einen plötzlichen, schmerzhaften, hässlichen Tod brachten – durch eine kleine Berührung etwa, den Gutenachtkuss einer Mutter.

Viele, die diesen ersten Schock überlebten, starben durch eigene oder fremde Hand, als die dornigen Ranken von Irrsinn, Kummer und Angst die Welt erstickten. Andere, die weder Schutz noch Nahrung, Medikamente oder sauberes Wasser fanden, verdorrten einfach, starben, auf Hilfe und Hoffnung wartend, die niemals eintrafen.

Alle Technik brach zusammen, Stille und Dunkel kamen über die Welt. Regierungen stürzten, verloren Rückhalt und Macht.

Das Verderben kannte kein Pardon. Mit stets gleicher Gier raffte es Staatsoberhäupter ebenso dahin wie Bewohner der Städte und Farmer auf dem Land.

Aus der Finsternis flackerten seit Jahrtausenden erloschene Lichter auf und erwachten. Zauberer der weißen wie der schwarzen Magie erstanden aus dem Chaos. Entfesselte Kräfte boten die Wahl zwischen Gut und Böse, Dunkel und Licht.

Manche entschieden sich für die dunkle Seite.

Übernatürliche teilten sich, was von der Welt geblieben war, mit den Menschen. Und die, die sich auf die dunkle Seite schlugen – Magische wie Nichtmagische –, verwandelten große Städte in Trümmerwüsten, jagten jene, die sich vor ihnen versteckten, oder bekämpften sie, um sie zu vernichten, zu versklaven, in deren Blut zu schwelgen, während Leichen den Boden übersäten.

Panisch agierende Regierungen befahlen ihren Militärs, Überlebende aufzusammeln und Übernatürliche »unter Kontrolle« zu halten. Ein Kind, das eben seine Flügel entdeckt hatte, konnte sich so womöglich im Namen der Wissenschaft auf einem Labortisch fixiert wiederfinden.

Geistesgestörte verfielen einem religiösen Wahn, schürten Furcht und Hass, stellten eigene Armeen auf, um zu liquidieren, was »anders« war. Magie, so predigten sie, komme aus der Hand des Teufels, und jeder, der sie besitze, sei ein Dämon und müsse zurück in die Hölle geschickt werden.

Räuberische Raider durchstreiften die Städteruinen, machten Highways und Landstraßen unsicher, brandschatzten und töteten aus purer Lust. Immer wieder fanden Menschen Mittel und Wege, um anderen Grausames anzutun.

Wer sollte sie in einer derart aus den Fugen geratenen Welt aufhalten?

Und doch gab es immer wieder Gerüchte über das Kommen einer Kriegerin. Sie, die Tochter der Tuatha de Danann, würde verborgen bleiben, bis sie ihr Schwert und ihren Schild aufnahm. Bis sie, die Eine, das Licht gegen die Finsternis anführen würde.

Doch aus Monaten wurden Jahre, und die Welt blieb zerrüttet. Hetzjagden, Raubzüge, Plünderungen dauerten an.

Manche versteckten sich und schwirrten nachts umher, um sich mit dem Nötigsten zu versorgen oder genug zu stehlen, um über den nächsten Tag zu kommen. Andere begaben sich auf eine plan- und ziellose Wanderschaft. Wieder andere flüchteten in die Wälder, um zu jagen, oder auf das Land, um etwas anzubauen. Einige bildeten Gemeinschaften, die mit wechselhaftem Erfolg um ihr Überleben kämpften in einer Welt, in der eine Handvoll Salz kostbarer war als Gold. Und manche, etwa die, die New Hope fanden und formten, bauten wieder auf.

Als die Welt zusammenbrach, hatte Arlys Reid darüber berichtet – von dem Sprechertisch aus, den sie in New York von ihrem Vorgänger übernommen hatte. Sie hatte beobachtet, wie die Stadt um sie herum in Flammen aufging, und sich am Ende dafür entschieden, all jenen, die sie noch hören und die noch fliehen konnten, die Wahrheit bekannt zu geben.

Sie hatte den Tod direkt vor Augen gehabt, hatte selbst getötet, um zu überleben.

Sie hatte die Albträume und die Wunder gesehen.

Zusammen mit einer Handvoll Leuten, darunter drei Babys, hatte sie den verlassenen Ort gefunden, den sie New Hope nannten. Dort hatten sie sich eingerichtet.

Nun, im Jahr vier, hatte New Hope mehr als dreihundert Bewohner, eine Bürgermeisterin und einen Gemeinderat, eine Polizei, zwei Schulen – eine davon lehrte Zauberei und Magie –, einen Gemeinschaftsgarten mit Küche, zwei Farmen, eine davon mit einer Getreidemühle, ein Krankenhaus – samt kleiner Zahnarztpraxis –, eine Bücherei, eine Waffenkammer und eine Bürgerwehr.

Es gab Ärzte, Heiler, Kräuterkundige, Weber, Nähkreise, Installateure, Mechaniker, Zimmerleute, Köche. Einige von ihnen waren diesen Berufen schon in der alten Welt nachgegangen. Die meisten jedoch hatten sie erst in der neuen erlernt.

Ein bewaffneter Sicherheitsdienst bewachte New Hope rund um die Uhr. Und auch wenn Kampf- und Waffentraining auf freiwilliger Basis blieben, nahmen die meisten Bewohner daran teil.

Das New-Hope-Massaker im ersten Jahr blieb eine offene Wunde in den Herzen und Gedanken der Menschen hier. Diese Wunde und die Gräber der Toten führten zur Aufstellung der Bürgerwehr und der Rettungsmannschaften, die ihr Leben riskierten, um andere zu retten.

Arlys stand auf dem Gehsteig, schaute auf New Hope und wusste genau, weshalb das alles wichtig war. Wichtiger als bloß zu überleben, so wie in jenen ersten schrecklichen Monaten, und sogar wichtiger als der Wiederaufbau in den darauf folgenden Monaten.

Es ging um die Hoffnung auf ein lebenswertes Leben, die der ganze Ort verkörperte.

Es war wichtig, dachte sie erneut, als Laurel, eine Elfe, an diesem kühlen Frühlingsmorgen herauskam und die Veranda des Hauses fegte, in dem sie wohnte. Weiter die Straße hinauf putzte Bill Anderson das Schaufenster seines Ladens, in dessen Regalen er alle möglichen nützlichen Dinge zum Tauschhandel bereithielt.

Fred, die junge Medizinpraktikantin, die zusammen mit Arlys den Horror der U-Bahnschächte auf dem Weg aus New York heraus durchlebt hatte, arbeitete gerne im Gemeinschaftsgarten. Fred, mit ihren Zauberschwingen und ihrem nie endenden Optimismus, lebte jeden Tag voller Hoffnung.

Rachel – Ärztin und eine sehr gute Freundin – erschien auf dem Gehsteig, öffnete die Tür der Klinik und winkte.

»Wo ist das Baby?«, rief Arlys.

»Er schläft – wenn ihn Jonah sich nicht wieder geschnappt hat, sobald ich mich umgedreht habe. Er ist einfach hin und weg.«

»Wie es ein Papa sein sollte. Ist heute nicht dein Check-up nach sechs Wochen, Frau Doktor?«

»Die besagte Doktorin hat ihrer Patientin bereits Entwarnung gegeben, und den Schreibkram erledigt Ray. Wie geht’s dir?«

»Großartig. Ich bin aufgeregt. Ein bisschen nervös.«

»Ich werde einschalten – und sobald du fertig bist, möchte ich dich hier in der Klinik sehen.«

»Ich werde kommen.« Bei ihrer Antwort legte Arlys eine Hand auf ihren Babybauch. »Dieses Baby hier ist bestimmt schon überfällig. Wenn es noch lange dauert, werde ich bald nicht mal mehr watscheln können.«

»Wir sehen es uns an. Guten Morgen, Clarice«, sagte Rachel, als die erste Patientin des Tages den Gehsteig entlangkam. »Komm gleich rein. Viel Glück, Arlys. Wir hören dir zu.«

Arlys lief langsam weiter – und blieb stehen, als sie jemanden ihren Namen rufen hörte.

Sie wartete auf Will Anderson – ihr Nachbar aus Kindheitstagen, derzeitiger stellvertretender Bürgermeister von New Hope und, wie sich herausgestellt hatte, die Liebe ihres Lebens.

Er legte eine Hand auf ihren Bauch und küsste sie. »Soll ich dich zur Arbeit begleiten?«

»Klar doch.«

Hand in Hand gingen sie zu dem Haus, in dem er während seiner ersten Monate in der Gemeinschaft gewohnt hatte. »Ist es okay für dich, wenn ich dabei bin und zuschaue?«

»Wenn du willst, aber ich weiß nicht, wie lange der Aufbau dauern wird. Chuck ist optimistisch, aber …«

»Wenn Chuck sagt, wir können das, dann klappt es.«

Ihr Magen krampfte sich zusammen; sie atmete laut aus. »Es ist gut, wenn du mitkommst.«

Chuck war während des Verderbens ihre wichtigste Informationsquelle gewesen, ein Hacker und IT-Genie, der nun für die gesamte Technik von New Hope zuständig war. Im Keller, natürlich. Der Typ war eine überzeugte Kellerassel.

»Ich will dich bei der Arbeit sehen«, fügte Will hinzu.

»Und wie nennst du das, was ich zu Hause für das New Hope Bulletin mache?«

»Auch Arbeit, und einen Segen für die Gemeinschaft. Aber jetzt reden wir von einer Liveübertragung, Baby. Und das ist dein eigentlicher Job.«

»Ich weiß, einige machen sich Sorgen wegen des Risikos, dass wir zu viel Aufmerksamkeit auf uns lenken könnten – eine falsche Art von Aufmerksamkeit.«

»Das ist es wert. Glaub mir, Chuck weiß, was er tut, und wir werden zudem die magischen Schilde in Betrieb haben. Wenn du einen Menschen da draußen erreichen kannst, kannst du auch hundert erreichen. Viele wissen noch immer nicht, was eigentlich los ist, wo sie Hilfe, Sachen, Medikamente kriegen können. Das ist wichtig, Arlys.«

Wichtig, sehr wichtig, war für sie, wenn er nach einer Rettungsaktion, bei der er sein Leben aufs Spiel gesetzt hatte, wieder heil nach Hause kam.

»Ich habe gerade darüber nachgedacht, was wichtig ist.« Sie blieb vor dem Haus stehen und wandte sich ihm zu. »Zuallererst bist du das.«

...