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Ausgewählte Erzählungen

Ray Bradbury, Daniel Kampa, Daniel Keel

 

Verlag Diogenes, 2017

ISBN 9783257608601 , 672 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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16,99 EUR


 

{11}Ein zeitloser Frühling


Damals, in jener Woche, vor vielen, vielen Jahren, dachte ich, meine Eltern wollen mich vergiften. Und heute, zwanzig Jahre später, frage ich mich, ob sie es nicht getan haben. Wer weiß.

Ein schlichter Koffer, den ich oben auf dem Dachboden fand, rief all meine Erinnerungen wieder wach. Heute Morgen war’s. Ich ließ die Messingschlösser aufschnappen und klappte den Deckel hoch, und da lagen sie alle aufgebahrt im unvergänglichen Modergeruch der Mottenkugeln: die Tennisschläger ohne Bespannung, die ausgetretenen Turnschuhe, die kaputten Spielsachen, die verrosteten Rollschuhe. Ich betrachtete sie mit meinen gealterten Augen, und {12}plötzlich war mir so, als wäre es erst eine Stunde her, seit ich aus den schattigen Straßen ins Haus gestürmt war, schweißüberströmt, auf den noch immer vor Aufregung zitternden Lippen den Schrei: »Bahn frei, Kartoffelbrei!«

Ich war ein sonderbarer, komischer Junge, vergrübelt und mit ungewöhnlichen Ideen im Kopf; das Gift und die Angst waren nur ein Teil von mir in jenen Jahren. Schon mit zwölf fing ich an, Tagebuch zu führen. Ich spüre ihn noch zwischen den Fingern, den Bleistiftstummel, mit dem ich in jenem zeitlosen Frühling Morgen für Morgen in ein liniertes Schulheft für fünf Cent schrieb.

 

Ich hielt inne und lutschte gedankenverloren an meinem Stift. Ich saß oben in meinem Zimmer am Anfang eines klaren, endlos langen Tages, blinzelte die Tapete mit den eingeprägten Rosen an, barfuß, mit struppigem Bürstenschnitt, und dachte nach.

»Bis diese Woche habe ich nicht gewusst, {13}dass ich krank bin«, schrieb ich. »Ich bin schon lange krank. Seit ich zehn war. Jetzt bin ich zwölf.«

Ich zog eine Fratze, biss mir kräftig auf die Lippen und starrte so lange auf das Schulheft, bis mir die Linien vor den Augen verschwammen. »Mom und Dad haben mich krank gemacht. Auch von den Lehrern in der Schule habe ich diese …« Ich zögerte. Und dann schrieb ich: »Krankheit bekommen! Die Einzigen, vor denen ich keine Angst habe, sind die anderen Kinder. Isabel Skelton und Willard Bowers und Clarisse Mellin; die sind noch nicht so krank. Aber mir geht es wirklich mies …«

Ich legte den Bleistift hin und ging ins Badezimmer, um in den Spiegel zu gucken. Meine Mutter rief von unten, ich solle zum Frühstück kommen. Ich drückte das Gesicht an den Spiegel und atmete so schnell, dass ich einen großen Dampffleck auf dem Glas machte. Und dann sah ich zu, wie sich mein Gesicht – veränderte.

{14}Die Knochen. Sogar die Augen. Die Poren auf der Nase. Die Ohren. Die Stirn. Die Haare. Alles das, was so lange ich gewesen war, verwandelte sich in etwas anderes. (»Douglas, frühstücken, du kommst noch zu spät zur Schule!«) Während ich mich hastig wusch, sah ich unter mir meinen Körper schweben. Ich war in ihm. Es gab kein Entrinnen. Und die Knochen darin stellten die merkwürdigsten Sachen an, sie rutschten hin und her, sie tauschten die Plätze!

Ich fing an zu singen und laut zu pfeifen, um nicht darüber nachzudenken; bis Vater an die Tür klopfte und mir sagte, ich solle mich beruhigen und essen kommen.

Ich saß am Frühstückstisch. Die gelbe Schachtel mit den Cornflakes, Milch, kalt und weiß in einem Krug, blitzende Löffel und Messer und Eier zwischen Schinkenstreifen, Dad las seine Zeitung, Mom machte sich in der Küche zu schaffen. Ich schniefte. Ich spürte meinen Magen, der sich krümmte wie ein geprügelter Hund.

{15}»Was hast du denn, Junge?« Daddy sah mich flüchtig an. »Keinen Hunger?«

»Nein, Dad.«

»Ein Junge muss doch Hunger haben am Morgen«, sagte Vater.

»Jetzt iss endlich was«, fuhr Mutter mich an. »Nun mach schon. Beeil dich.«

Ich guckte mir die Eier an. Sie waren Gift. Ich guckte mir die Butter an. Sie war Gift. Die Milch in ihrem Krug war so weiß, so sahnig und so giftig, und die Cornflakes lagen braun und knusprig und appetitlich in einer grünen Schüssel mit rosa Blumen drauf.

Gift, alles, lauter Gift! Der Gedanke kroch mir im Kopf herum wie die Ameisen auf einer Picknickdecke. Ich biss mir auf die Unterlippe.

»Häh?«, machte Dad und blinzelte zu mir herüber. »Hast du was gesagt?«

»Nein«, erwiderte ich. »Bloß, dass ich keinen Hunger habe.«

Ich konnte ihnen doch nicht erzählen, dass ich krank war und dass das Essen mich {16}krank gemacht hatte. Ich konnte doch nicht sagen, dass Kekse, Kuchen, Cornflakes, Suppen und Gemüse mir das hier angetan hatten. Nein, ich musste dasitzen, ohne etwas zu mir zu nehmen, mit klopfendem Herzen.

»Also trink wenigstens deine Milch, und dann geh«, sagte Mutter. »Gib ihm Geld, dass er sich in der Schule was zu essen kaufen kann, Dad. Orangensaft, Fleisch und Milch. Aber keine Süßigkeiten.«

Die Warnung hätte sie sich sparen können. Süßigkeiten waren das allerschlimmste Gift. Nie wieder würde ich welche anrühren, nie und nimmer!

Ich packte meine Bücher zusammen und ging zur Tür.

»Douglas, du hast mein Küsschen vergessen!«, rief Mom.

»Ach ja«, sagte ich und machte kehrt und gab ihr eins.

»Was hast du denn?«, fragte sie.

»Nichts«, sagte ich. »Wiedersehn. Bis nachher, Dad.«

{17}Sie sagten auf Wiedersehen. Ich ging zur Schule und tauchte mit den Gedanken tief hinab in mein Inneres, ungefähr so, wie wenn man in einen tiefen, kalten Brunnen ruft.

 

Ich rannte hinunter in die Schlucht und schaukelte an einer Kletterpflanze; ein tolles Gefühl, keinen Boden mehr unter den Füßen zu haben; ich schnupperte hinauf in die süße, kühle Morgenluft, und ich brüllte vor Lachen, und der Wind wehte meine Gedanken weg. Ich ließ mich mit Karacho gegen den Damm schleudern, und dann kullerte ich runter, und die Vögel pfiffen mir was, und ein Eichhörnchen flitzte wie ein brauner Wattebausch, den der Wind aufgewirbelt hat, um einen Baumstamm herum. Etwas weiter unten kamen die anderen Kinder angerollt wie eine kleine kreischende Lawine. »Ahh-iii-jaah!« Sie schlugen sich an die Brust, warfen Steine ins Wasser, tauchten mit den Händen nach einem Flusskrebs. Der {18}Flusskrebs schoss davon und ließ schlammige Wolken zurück. Wir lachten und machten Witze.

Auf der grünen Holzbrücke über uns kam ein Mädchen. Es war Clarisse Mellin. Wir lachten sie aus, wir brüllten, hau ab, hau ab, wir konnten sie nicht leiden, hau ab, hau ab! Aber dann versagte mir die Stimme, und ich sah zu, wie sie ging, ganz langsam. Ich guckte nicht weg.

In der Ferne hörten wir die Schulglocke klingeln. Wir kraxelten die Trampelpfade hoch, die wir in den vielen Sommern der vergangenen Jahre ausgetreten hatten. Das Gras war schütter; wir kannten jedes Schlangenloch, jeden Huckel, jeden Baum, jede Kletterpflanze, jedes Unkraut, das dort wuchs. Nach der Schule bauten wir uns Baumhäuser, hoch über der schimmernden Bucht, sprangen nackt ins Wasser, wanderten stundenlang durch die Schlucht, dem Horizont entgegen, wo sie sich einsam und verlassen im weiten Blau des Michigansees verlor, {19}unten bei der Gerberei, der Asbestfabrik und den Docks.

Als wir uns dann keuchend der Schule näherten, blieb ich stehen; die Angst war wieder da. »Geht schon vor«, sagte ich.

Das letzte Klingeln. Die Kinder rannten los. Ich blickte auf das weinberankte Schulhaus. Ich hörte die Stimmen dort drin, das hohe Summen, das die ganze Zeit anhielt. Ich hörte das Bimmeln der Glöckchen von den Lehrerpulten und das Kläffen der Lehrer.

Gift, dachte ich. Auch die Lehrer! Die wollen, dass ich krank bin! Die bringen einem bei, wie man immer kränker wird! Und – und wie man Freude daran hat, am Kranksein!

»Guten Morgen, Douglas.«

Ich hörte das Klacken hochhackiger Schuhe auf dem Zementweg. Und dann stand Miss Adams, die Direktorin, mit ihrem Kneifer, dem breiten, fahlen Gesicht und den kurzgeschnittenen dunklen Haaren hinter mir.

{20}»Na los, geh rein«, sagte sie, indem sie mich fest an der Schulter packte. »Du bist zu spät. Geh schon.«

Sie schob mich vor sich her, die Treppe hoch; eins, zwei, eins, zwei; die Treppe hoch zu meinem Verhängnis …

Mr. Jordan war ein dicklicher Mann mit schütterem Haar und ernsten grünen Augen, der die Angewohnheit hatte, auf den Zehenspitzen zu wippen, wenn er vor seinen Karten stand. Heute hatte er eine riesengroße Darstellung eines Körpers, von dem die ganze Haut ab war. Adern, Kapillaren, Muskeln, Sehnen, Organe, Lungen, Knochen und Fettgewebe – grün, blau, rosarot, gelb; alles zu sehen.

Er stand vor seiner Karte. »Die Ähnlichkeiten zwischen Krebs und der normalen Zellteilung sind sehr groß. Krebs ist einfach nur eine Überproduktion von Zellmaterial …«

Ich meldete mich. »Wie ist das eigentlich mit dem Essen – ich meine –, durch was wächst der Körper?«

{21}»Eine gute Frage, Douglas.« Er tippte auf die Karte. »Das Essen, das der Körper aufnimmt, wird zerkleinert, absorbiert und …«

Ich hörte zu und wusste genau, was Mr. Jordan mit mir machen wollte. Meine Kindheit war in meine Seele eingeprägt wie ein Fossil in weichen Schiefer. Mr. Jordan wollte sie abschleifen, sie ausradieren. Am Ende wäre alles weg, alles, woran ich glaubte, meine ganze Phantasie. Meine Mutter veränderte meinen Körper mit Essen, Mr. Jordan bearbeitete meine Seele mit Worten.

Da fing ich an, Bilder aufs Papier zu zeichnen, und hörte nicht mehr zu. Ich summte Liedchen vor mich hin, dachte mir meine eigene Sprache aus. Den Rest des Tages hörte ich nichts mehr. Ich wehrte die Angriffe ab, ich wehrte...