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Meistererzählungen

Herman Melville

 

Verlag Diogenes, 2017

ISBN 9783257608588 , 368 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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10,99 EUR


 

{7}Die Veranda


Die schönsten Blumen,

solange Sommer währt und ich hier lebe,

streu’ ich auf deine Gruft.

Shakespeare ‘Cymbeline’, Akt IV, Szene 2

Als ich aufs Land übersiedelte, zog ich in ein altmodisches Bauernhaus ein, das keine Veranda hatte. Diesen Mangel bedauerte ich um so mehr, als ich ein Liebhaber von Veranden bin; denn irgendwie verbinden sie die Traulichkeit des Innen mit der Freiheit des Außen, und es macht Freude, das Thermometer dort abzulesen. Auch ist die ganze Umgegend so malerisch, daß zur Zeit der Beerenlese kein Knabe einen Hügel erklimmen oder ein Tal durchqueren kann, ohne in jedem Winkel auf eine Staffelei und einen sonnenverbrannten Maler zu stoßen. Ein richtiges Malerparadies. In den Kreis der Sterne schneidet der Kreis der Berge ein; wenigstens erscheint es vom Hause aus so. Steht man jedoch oben auf den Bergen, so kann man sie nicht mehr als Kreis sehen. Wenn der Platz nur fünfundzwanzig Meter entfernt gewählt worden wäre, hätte es dieses freundliche Panorama nie gegeben.

Das Haus ist alt. Vor siebzig Jahren wurde im Herzen der Herdsteinberge die Kaaba oder der Heilige Stein gebrochen, zu dem am Erntedanktag die {8}Pilger zu strömen pflegten. Damals gebrauchten die Arbeiter bei den Ausschachtungen für die Grundmauern sowohl den Spaten als auch die Axt, weil sie gegen unterirdische Troglodyten kämpfen mußten, die zähen Wurzeln eines zähen Waldes nämlich, der einst da gestanden, wo sich jetzt eine verträumte Wiesenlehne hinzieht, die hinter meinem Mohnbeet sanft zu Tal gleitet. Von diesem verwachsenen Walde ragt als einziger lebender Rest, standhaft und einsam, eine Ulme.

Wer das Haus baute, tat besser daran, als er selbst wußte. Oder Orion ließ vielleicht in einer Sternennacht sein Damoklesschwert vom Himmelsgewölb herunterblitzen und befahl ihm: »Baue hier!« Denn wie könnte der Erbauer sonst geahnt haben, daß ihm, nach dem Schaffen der Lichtung, solche königliche Aussicht beschieden wäre? Kein Geringerer als der Greylock, umringt von seinen Hügeln, ist hier zu erschauen – wie Karl der Große unter seinen Paladinen.

Für jemand, der sich an einer schönen Aussicht weiden möchte und sich das Zeit und Muße kosten läßt, gleicht ein in solcher Umgebung gelegenes Haus, dem die Bequemlichkeit einer Veranda fehlt, einer Bildergalerie ohne Bänke; denn was wären die Marmorhallen dieser Kalkberge anderes als Bildergalerien, Monat für Monat mit neuen Bildern behangen, die stets verblassen, um sich stets in neue Bilder zu verwandeln? Zur Schönheit gehört Andacht; man kann sie nicht im Gehen genießen. Man braucht dazu Ruhe und Beständigkeit, heutzutage also einen Lehnstuhl. Denn wenn auch einst, da Anbetung im Schwange und Bequemlichkeit nicht im Schwange {9}war, die Anbeter der Natur zweifellos stehend anzubeten pflegten, wie es auch die Verehrer einer höheren Macht in den Kathedralen jener Jahrhunderte taten, so haben wir doch in unserer Zeit des fehlenden Glaubens und der schwachen Knie die Veranda und den Kirchenstuhl.

Im ersten Jahr meines Aufenthaltes wählte ich mir, um der Krönung Karls des Großen in Muße beiwohnen zu können (man krönt ihn, wenn es das Wetter erlaubt, bei jedem Sonnenauf- und -untergang), am nahen Hügelsaum einen königlichen Rasensitz – ein grünes Ruhebett mit einer langen, moosgepolsterten Rückenlehne. Ihm zu Häupten sproßten, wunderbar genug, drei blaue Veilchenbüsche (als Wappen, denke ich mir) in einem silbernen Felde von wilden Erdbeeren, und als Thronhimmel hatte ich mir ein Geißblattspalier angelegt. Wahrlich eine majestätische Sitzgelegenheit! So majestätisch zwar, daß mich hier, wie die in ihrem Garten ruhende Majestät von Dänemark, ein heimtückischer Ohrenschmerz durchdrang. Aber wenn sich mitunter in der Westminster-Abtei feuchte Dünste sammeln, weil sie so alt ist – warum dann nicht in diesem Bergkloster, das noch älter ist?

Eine Veranda mußte ich haben.

Das Haus war groß – mein Kassenbestand klein. Also konnte ich mir eine das ganze Haus umgebende Rundblickveranda nicht leisten. Allerdings waren die Zimmerleute, die sich der Sache in zuvorkommendster Weise mit Zollstock und Winkelmaß annahmen, begierig, meine kühnsten Wünsche zu erfüllen – den Kostenpunkt hab’ ich vergessen.

So wollte mir meine wirtschaftliche Lage nur auf {10}einer der vier Seiten gewähren, was ich mir wünschte. Aber auf welcher Seite?

Im Osten steht der lange Heerbann der Herdsteinberge, weithin gen Quito im Dunst versinkend; in jedem Herbst, an einem kühlen Morgen, schimmert dort von der höchsten Klippe ein weißes Flöckchen, das neugeborene Lamm, das früheste Vlies der Jahreszeit. Und im Weihnachtsdämmer sind die braunen Hochlande in rotgestreifte Decken und Mäntel eingehüllt: ein guter Anblick von deiner Veranda. Ein guter Anblick – aber im Norden steht Karl der Große: du kannst die Herdsteinberge nicht mit Karl dem Großen zusammen haben.

Also die Südseite. Da ragen Apfelbäume. Wie angenehm, an einem balsamischen Maimorgen dazusitzen und den Baumgarten mit seinen weißen Knospen wie im Brautschmuck prangen zu sehen, während er im Oktober dem grünen Hof eines Arsenals mit seinen Haufen rotbäckiger Munition gleicht. Sehr schön, ich gebe es zu – aber im Norden steht Karl der Große.

Sieh dir die Westseite an. Über eine Bergweide führt ein Weg in einen Ahornwald auf der Höhe. Wie lieblich, im erwachenden Lenz auf der Bergflanke, die sonst grau und öde daliegt, die ältesten Pfade an ihren Streifen vom frühesten Grün zu verfolgen. Lieblich allerdings, ich kann’s nicht leugnen – aber im Norden steht Karl der Große.

So trug es Karl der Große davon. Es war nicht lange nach 1848, und irgendwie besaßen damals die Könige auf der ganzen Welt die ausschlaggebende Stimme und stimmten für sich selber.

Kaum war der Grund umgebrochen, als die ganze {11}Nachbarschaft – Nachbar Dives zumal – in lautes Gelächter ausbrach. Eine Veranda nach Norden! Eine Winterveranda! Will in Winternächten das Nordlicht beobachten, nehm’ ich an; hoffe, er hat sich einen guten Vorrat von Polarfahrermuffen und -handschuhen angelegt.

Also geschah’s im löwenhaften Monat März. Unvergessen sind die blauen Nasen der Zimmerleute und ihr Geschrei über die Einfalt des Spießers, der sich seine einzige Veranda an der Nordseite anbauen ließ. Aber der März währt nicht ewig; Geduld, es kommt auch ein August. Dann werfe ich, im kühlen Elysium meines nach Norden gelegenen Vogelbauers sitzend wie Lazarus in Abrahams Schoß, einen mitleidigen Blick zum armen alten Dives hinab, der im Fegefeuer seiner Südveranda schmachtet.

Aber selbst im Dezember hat diese Nordveranda nichts Abschreckendes, wenn sie auch noch so beißend kalt und zugig ist und der Nordwind den Schnee wie ein Müller zu feinstem Mehl beutelt; denn dann schreite ich wieder einmal bei der Umsegelung von Kap Horn mit gefrorenem Bart auf dem von Schloßen gepeitschten Schiffsdeck.

Auch im Sommer, wenn man hier wie ein Seekönig thront, wird man oft an das Meer erinnert. Lange Bodenwinde lassen das schiefe Korn wogen; Gräser kräuseln sich über die niedrige Veranda wie kleine Wellen auf den Strand; die Daunen des Löwenzahns fliegen wie Schaum umher; das Veilchenblau der Berge gleicht dem Veilchenblau der Dünung; ein stiller Augustnachmittag brütet über den Talwiesen wie eine Windstille über der Linie; auch sind Weite und Einförmigkeit so ozeanartig, daß der erste Blick, {12}der auf ein fremdes Haus zwischen den Bäumen fällt, sage und schreibe ein unbekanntes Segel an barbarischer Küste zu erspähen meint.

Dabei muß ich nun an meine Binnenreise ins Elfenland denken. Eine wirkliche Reise: aber, nehmt alles in allem, so spannend, als ob sie erfunden wäre.

Von der Veranda hatte ich einen unbestimmten Gegenstand entdeckt, der sich allem Anschein nach heimlich in einer purpurrötlichen Brusttasche verbarg – hoch oben in einer trichterartigen Mulde oder einer Einsenkung zwischen den nordwestlichen Bergen. Ob er sich jedoch an einer Bergflanke oder auf einem Gipfel befand, ließ sich nicht ausmachen. Von günstigen Stellen gesehen, wird ein blauer Gipfel, der hinter den übrigen hervorlugt, über ihre Köpfe hinweg zu dir sprechen und dir ohne weiteres mitteilen, daß er, obgleich er (der blaue Gipfel) unter ihnen zu sein scheint, doch nicht zu ihnen gehöre (Gott bewahre!), und er würde dir einreden wollen, daß er sich – um die Wahrheit zu sagen, er hat ein gutes Recht dazu – für mehrere Ellen größer hält als sie. Dennoch drängen sich und folgen einander gewisse Bergketten, hie und da in doppelten Reihen wie Truppenkörper, mit ihren unregelmäßigen Formen und Höhen, so daß, von der Veranda gesehen, bei den meisten Wetterlagen ein näherer und niedrigerer Berg verblassend in einen ferneren und höheren übergeht. Daher scheint ein Gegenstand, der einsam auf dem Gipfel des ersteren steht, in die Flanke des letzteren eingebettet zu sein. Diese Berge spielen irgendwie miteinander Verstecken – und das alles vor deinen Augen.

Doch sei dies, wie es wolle – die fragliche Stelle lag {13}jedenfalls so, daß sie nur unter gewissen zauberhaften Bedingungen von Licht und Schatten, und auch dann nur undeutlich, gesehen werden konnte.

Allerdings wußte ich ein Jahr oder länger überhaupt nicht, daß es eine solche Stelle gab, und vielleicht hätte ich es nie gewußt, wäre nicht jener magische Nachmittag im Herbst, spät im Herbst, gewesen – ein Nachmittag, wie für trunkene Dichter...