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Gravesend - Kriminalroman

William Boyle

 

Verlag Polar Verlag, 2018

ISBN 9783945133569 , 296 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz DRM

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14,99 EUR


 

Eins


Es war Mitte September, und Conway hatte sich von McKenna zu einem Schießstand in Bay Ridge mitnehmen lassen, damit er ihm das Schießen beibrachte. McKenna war sechs Jahre lang Cop gewesen, ehe er im Dienst jemanden erschoss und mit drei Viertel seiner Bezüge in Pension geschickt wurde.

»Ich glaub’s nicht, Ray Boy ist draußen«, sagte Conway. »Läuft einfach frei rum.« Er hob die Waffe und schoss auf die Zielscheibe, der Schuss ging weit daneben.

»Conway«, sagte McKenna und nahm seine Ohrstöpsel raus, »du solltest dieses Ding wirklich aufsetzen.« Er hielt ihm Ohrenschützer hin.

»Wieso denn? So schnell werd ich sicher nicht taub.« Conway hörte ein leises Klingeln, wie von einem entfernten Glöckchen.

»Beim Schießen braucht man Selbstvertrauen«, sagte McKenna. »Und du hast gerade kein Selbstvertrauen. So wie du dir den Arm von der Knarre verziehen lässt, wirst du im echten Leben nie was treffen.«

»Wenn ich dem Typen die Waffe an den Bauch halte, werd ich schon treffen«, sagte Conway.

»Ob’s dazu kommen wird?«

Der Schießstand befand sich in einem Lagerhaus neben einer aufgelassenen Textilfabrik und gegenüber einem russischen Nachtclub. Von außen sah das Gebäude aus, als würden dort Snuff-Filme gedreht. Aber Waffennarren, Cops und andere kannten ihn und kamen und ballerten von ihren verdunkelten Ständen auf runde Schießscheiben und Pappkameraden. Auf manchen Schießscheiben waren Fotos von Baseballstars befestigt. Conway hatte auf seine ein altes Zeitungsfoto von Ray Boy getackert. Das Problem war, dass er es noch kein Mal getroffen hatte. Dabei war es groß, eine ganze Doppelseite aus der Daily News. Ray Boy, in Polizeibegleitung auf dem Weg zum Verhör im 62. Mit Sonnenbrille, Arschloch.

McKenna stand neben Conway und zeigte ihm, wie man die Waffe hielt. »Du hast echt Fischflossen, Con. Schließ die Finger.«

Conway griff fester zu und drückte ab. Rechts daneben. »Vielleicht liegt’s ja an der Knarre.«

»Du hast keine Ahnung von Waffen. Glaub mir. Eine Zweiundzwanziger ist genau richtig.«

»Ich brauch eine abgesägte Schrotflinte.«

»So was gibt’s nur im Film. Ich hab dir die hier besorgt.«

Conway schoss noch ein paarmal und traf den äußeren Rand der Schießscheibe, verfehlte aber immer noch das Bild von Ray Boy, und langsam wirkte McKenna genervt.

»Vielleicht sollte ich einfach mitgehen«, sagte McKenna.

»Ich werd dich Marylou nicht wegnehmen«, sagte Conway. »Wenn was schiefgeht, will ich dich nicht in meiner Nähe haben.«

»Und was ist mit Pop? Wer wird sich dann um ihn kümmern?«

»Das lass mal meine Sorge sein.«

»Wann wird Bunker dich anrufen?«

»Heute Nachmittag.«

Bunker war Privatdetektiv in Monticello. McKenna, der ihn über einen pensionierten Cop aus Forestburgh kannte, hatte ihn mit Conway zusammengebracht. Über einen weiteren Kontakt eines State Troopers, der einen Typen kannte, der einen Gefängniswärter in Sing Sing kannte, hatte McKenna erfahren, dass Ray Boy nach seiner Entlassung in die Gegend von Monticello gezogen war. Wo genau, ließ sich nicht herausfinden, aber Bunker hatte gesagt, er würde sich dahinterklemmen.

»Du bist zu ungeduldig. Ich versteh das ja. Aber wenn du das durchziehen willst, solltest du warten. Ein paar Tage. Ein paar Monate. Ein Jahr. Du solltest das nicht unvorbereitet machen.«

»Jeden Tag, den er draußen rumläuft, habe ich einen Tag zu lange gewartet«, sagte Conway. In Wahrheit wollte er überhaupt nicht vorbereitet sein. Das sollte keine Doktorarbeit werden.

»Dann üb weiter.« McKenna wandte sich ab.

Conway hielt die Waffe hoch und stellte sich vor, wie Ray Boy vor ihm davonlief. Ray Boy, der immer kleiner in seinem Fadenkreuz wurde – so würde es nicht sein, aber das musste er sich eben vorstellen, wenn er McKenna beweisen wollte, dass er treffen konnte. Er schoss erneut. Erwischte knapp den äußeren Rand des Fotos. Immerhin ein Anfang.

Bunker rief um drei an. Conway saß im Bus nach Gravesend, die in Handtücher gewickelte Waffe in einer Sporttasche zu seinen Füßen.

»Diesem Ray Boy geht’s prima«, sagte Bunker. »Auch wenn Sie’s nicht gerne hören.«

Conway rutschte auf seinem Sitz hin und her. Stellte sich vor, wie Ray Boy sein Leben genoss. »Was soll das heißen? Hat er Geld? Freundin?«

»Er hockt in einem Haus in Hawk’s Nest. Gehört schon eine halbe Ewigkeit seiner Familie. Macht Push-ups wie eine Nähmaschine. Kriegt von seiner Mutter Schecks geschickt.«

»Hawk’s Nest?«

»Ungefähr zwanzig Minuten von Monticello.«

»Können Sie mich dorthin bringen?«, fragte Conway.

»Jederzeit«, sagte Bunker. »Wir treffen uns an der Rennbahn, sobald Sie hier sind, und ich zeig Ihnen den Weg.«

»Wie weit ist es?«

»Um die drei Stunden. Vielleicht ein bisschen weniger.«

Conway klappte das Handy zu und betrachtete die anderen Fahrgäste im Bus. Eine alte Frau mit Einkaufstaschen. Zwei Schüler von der Our Lady of the Narrows mit prallen Rucksäcken auf dem Schoß und Kopfhörern auf den Ohren. Dieser Hyun – Conway kannte ihn vom Sehen, er trieb für Mr. Natale Geld ein – hielt sich schwitzend und nervös an der Haltestange über seinem Kopf fest, in der anderen Hand einen Packen Papier. Und da war die Obdachlose mit dem Holzbein, die den ganzen Tag mit dem B1 und dem B64 hin und her fuhr und ihren Rollstuhl mit Einkaufstüten behängt hatte. Keiner von ihnen wusste, dass er eine Pistole hatte. Keiner von ihnen wusste, dass er zu seinem Auto wollte, um nach Upstate zu fahren und Ray Boy Calabrese zu erschießen. Wahrscheinlich kannte keiner von ihnen Ray Boy. Oder sie hatten das Gesicht aus der Zeitung vergessen. Die Schüler waren damals noch nicht mal geboren. In sechzehn Jahren floss viel Wasser den Hudson runter. Conway dachte an Duncans Grab: die vielen Papierblumen, die er jede Woche dort ablegte. Er hatte sich hingekniet und ein Versprechen gegeben, von dem keiner im Bus etwas wusste.

Auf dem Heimweg beobachtete Conway die Tauben auf dem Bürgersteig vor Johnny Tomasullos Friseurladen. An den Telefonkabeln baumelte ein Paar Stiefel. So was sah man nur noch selten. Er erinnerte sich, wie er seine Schuhe am letzten Schultag in der Junior-Highschool über die Leitung geworfen hatte. Dann lehnte er sich an eine Parkuhr und überlegte, wie er es Pop beibringen sollte. Samthandschuhe. Lügen.

Als er das Gartentor erreichte, stand Pop schon in der Tür. »Wo warst du?«, fragte Pop.

»Bay Ridge, mit McKenna. Im Fitnesscenter.«

»Du musst mir ein Medikament holen.«

»Jetzt nicht.«

»Wann?«

»Später vielleicht. Mal schauen. Sonst sag ich Stephanie, dass sie es bringen soll.«

»Nein, nein, nein. Keine Umstände. Ich geh selbst. Ist doch albern, Stephanie zu bitten.«

»Mit deinem Bein gehst du nirgends hin, Pop. Stephanie tut das gerne. Wir sind Freunde. Es sind nur vier Blocks. Das macht ihr nichts aus.«

»Albern.«

Conway ging ins Haus und nahm den Autoschlüssel vom Haken in der Küche und eine Rolle Klebeband aus dem Werkzeugschrank. Das Klebeband steckte er in die Sporttasche. Pop folgte ihm auf dem Fuß. »Ich hab zu tun, Pop«, sagte Conway.

»Aber du holst es für mich, ja?«, sagte Pop.

»Vielleicht.«

»Dann geh ich.«

»Okay«, sagte Conway, »ich geh und hol’s.«

Er dachte gar nicht dran. Er verließ das Haus und ging den Block runter, wo sein Civic vor der P.S. 101 stand. Dort klappte er sein Handy auf und rief Stephanie an. Bat sie, seinem Vater das Medikament zu bringen. Sie solle ihn nur zuerst anrufen, damit er keinen Schreck bekomme. Klingel ein paarmal, sagte er. Manchmal hörte Pop die Türklingel nicht. Stephanie erklärte sich einverstanden, sie war froh, aus dem Laden zu kommen. Wenigstens das hatte er erledigt. Und Pop hätte ein bisschen Ablenkung, wenigstens für ein paar Minuten. Stephanie war nicht besonders helle, ihre Haare standen ab wie bei einer Cartoonfigur und sie hatte einen breiten Brooklyner Akzent, aber sie war freundlich, besonders zu älteren Herrschaften.

Conway fuhr die Benson Avenue Richtung Belt Parkway und verscheuchte das Bild von Pop in dem trostlosen Wohnzimmer: das verstaubte Kreuz...