dummies
 

Suchen und Finden

Titel

Autor/Verlag

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Jerry Cotton Sonder-Edition 73 - Der Tote auf Pier 17

Jerry Cotton

 

Verlag Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2018

ISBN 9783732559237 , 80 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

1,99 EUR

Für Firmen: Nutzung über Internet und Intranet (ab 2 Exemplaren) freigegeben

Derzeit können über den Shop maximal 500 Exemplare bestellt werden. Benötigen Sie mehr Exemplare, nehmen Sie bitte Kontakt mit uns auf.


 

1

Am Dienstagmittag um 12:41 Uhr verbreitete sich die Eilmeldung, dass Tom Winston, biederer, raubeiniger, langjähriger Boss der New Yorker Hafenarbeiter-Gewerkschaft, einem Herzanfall erlegen sei.

Zwei Stunden darauf begannen die internen Machtkämpfe um die Nachfolge. Und acht Stunden später geschah bereits der erste Mord.

***

Als Joe Martin seinen Spind aufschloss, um die lederne Arbeitsjacke hineinzuhängen, klebte ein Zettel an der Innenseite der Tür, mit Kaugummi angeheftet:

WER CLEVER IST, LEBT LÄNGER.

Joe runzelte die Stirn. In seiner bedächtigen Art griff er nach dem Zettel und hielt ihn ins Licht, das durch die verstaubten Fenster einfiel. Die Schrift kannte er nicht. Außerdem waren es Druckbuchstaben, von einer ungelenken Faust grob hingemalt. Aber was hieß das schon? Ungelenke Fäuste hatten sie hier alle. Dazu war diese Arbeit zu hart.

Ein paar Sekunden lang betrachtete Joe den Wisch. Dann zerknüllte er ihn in seiner schwieligen Hand und schleuderte ihn achtlos beiseite. Wenn das eine Warnung sein sollte, durften sie sich mit so etwas nicht gerade an ihn wenden. Von einem anonymen Zettel ließ sich ein Joe Martin nicht beeindrucken.

Er verließ den Schuppen und schloss ihn ab. Der Pier lag verlassen vor ihm. Joe war wie immer der Letzte, der nach Hause ging. Für einen Vorarbeiter gehörte es sich nicht anders.

Er stieg in den Bus, setzte sich in die hinterste Ecke und faltete die Abendzeitung auseinander, die er an der letzten Ecke mitgenommen hatte. Die Fahrzeit hatte er im Gefühl. Als er ausstieg, hatte ein leichter Nieselregen eingesetzt. Die Straßenlaternen brannten bereits.

Joe Martin klappte den Kragen seiner dicken Joppe hoch. Seit fast dreißig Jahren lebte er nun in dieser schmalen Straße mit den alten Mietshäusern. Dies war immer noch Hafen, auch wenn die Piers eine Meile entfernt lagen.

Als er die Haustür aufschloss, fielen ihm Licht und Wärme entgegen. Joe blieb breitbeinig in der offenen Tür stehen. Ein paar Herzschläge lang betrachtete er das vertraute Bild, das sich ihm bot. Jenny, seine Älteste, zog dem vierjährigen Enkelsohn Patrick die Stiefelchen aus. Mit dem ganzen Stolz des glücklichen Großvaters grinste Joe, als ihm der kleine Patrick mit den Patschhändchen zuwinkte.

»Tag, Mutter«, sagte Joe und legte seiner rundlichen Frau die Hand auf die Schulter. Sie stand am Herd und rührte in der Fleischsuppe. Als sie in sein von grauen Bartstoppeln übersätes Gesicht blickte, stutzte sie. Ihr konnte man nichts vormachen. Sie wusste, wenn in ihm etwas vorging. Er schüttelte unmerklich den Kopf. Nicht jetzt, hieß das. Nach dem Essen. So war es seit dreißig Jahren.

»Dad«, kreischte Peggy, seine siebzehnjährige Jüngste mit dem ihr eigenen übersprudelnden Temperament. »Dad, ich …«

»Peggy, du hältst den Mund«, sagte Joes Frau ruhig. »Wenn Vater von der Arbeit kommt, sollt ihr ihn ein paar Minuten in Ruhe lassen.«

Joe zog seine Joppe aus und hängte sie an den Nagel hinter der Tür. Die sechsjährige Angela hielt die Hände hinter dem Rücken versteckt und konnte doch nicht verhindern, dass Joes große Pantoffeln auf beiden Seiten hervorlugten.

»Rate mal, was ich habe?«, fragte seine Enkelin und legte das Köpfchen schief, sodass ihre blonde Haarflut ihr fast das Gesicht verdeckte.

Joe bückte sich, hob die Kleine hoch und schwenkte sie im Kreis.

»Ich vermute, dass du meine Pantoffeln hast«, sagte er glücklich.

»Woher weißt du das immer?« Das Schmollmündchen der Kleinen zog den üblichen Flunsch.

Joe drückte die Kleine an sich. »Weil du mir jeden Abend die Pantoffeln bringst«, sagte er. »Hab ich recht?«

»Ich bringe dir die Pantoffeln nicht mehr«, verkündete die Kleine energisch.

Joe setzte sich auf seinen Stuhl am Esstisch und zog das Mädchen auf seine Knie. Seine Frau stellte die Teller für das Abendessen zurecht. Joe zog einen abgebrochenen Taschenkamm und begann, der Kleinen die langen, blonden Haare zu kämmen.

»So«, sagte er. »Du bringst mir meine Pantoffeln nicht mehr. Darf man sich die Frage erlauben, warum das Fräulein mir die Pantoffeln nicht mehr bringen will? Hm?«

»Weil du mir keine Geschichten mehr erzählst, wenn ich ins Bett muss.«

»Das könnte dir so passen. Jedes Mal, wenn du schlafen sollst, fällt dir ein, dass Opa dir erst noch eine Geschichte erzählen soll. Du bist ein durchtriebener Racker. Das bist du. Und jetzt gib meine Pantoffeln her.«

»Nein.«

»Miss Angela, das sind meine Pantoffeln, und ich will sie jetzt haben.«

»Du kriegst sie aber nicht.«

Angela lachte, dass ihre Zähnchen blitzten. Auch das gehörte zum abendlichen Ritual. Joe schloss einen Augenblick die übermüdeten Augen. Er liebte diese Minuten, wenn er nach Hause kam. Aber heute war er nur halb bei der Sache.

»Da, Joe«, sagte eine weiche Stimme neben ihm. Seine Frau hielt ihm die Pantoffeln hin. »Wir können essen.«

Joe nickte. Sein Blick ging durch alles hindurch. Mein Gott, dachte er, achtundfünfzig Jahre, das ist doch kein Alter …

Winny, Joes Frau, stand links neben Joes Platz und füllte die Teller auf. Neben ihr hatte sich Jenny hingesetzt und klopfte dem voreiligen kleinen Patrick auf die Finger. Rechts von Joe saßen Peggy und Angela. Eine Familie, in der nur einer fehlte: Jennys Mann.

Joe musterte seine älteste Tochter verstohlen. Jenny war jetzt fünfundzwanzig und hatte seit drei Jahren keinen Mann mehr. Manchmal konnte Joe einen bitteren Zug um ihren Mund entdecken. Heute war er nicht da, heute war ihr Gesicht so glatt und sanft, wie Winny seinerzeit ausgesehen hatte, als Joe ihr das erste Mal begegnet war.

Er räusperte sich, nickte und sprach das Tischgebet. Dann sagte er »Mahlzeit« und nahm seinen Löffel. Die anderen begannen, zu essen. Joe rührte in seiner Suppe herum und sah gar nicht, was vor ihm auf dem Tisch stand.

Ihm fiel der Zettel aus seinem Spind wieder ein. WER CLEVER IST, LEBT LÄNGER. Was sollte das heißen? Und was war schon clever? Klug, gescheit, geschickt, auf seinen Vorteil bedacht? Welche Vorteile hat ein Vorarbeiter im Hafen, die er sich nicht in jahrzehntelanger, harter Arbeit erworben hätte?

»Iss, Vater«, sagte Winny leise und strich scheu über seine Hand.

Er schrak aus seinen Gedanken auf. »Ja, natürlich, Mutter.«

Aber nach dem zweiten Löffel klingelte das Telefon.

»Ich gehe schon ran«, meinte er.

Er sieht müde aus, dachte seine Frau, sehr müde. So abgespannt, wie ich ihn nur damals gesehen habe, als er nach Hause kam und Jenny erzählen musste, dass ihr Mann nicht wiederkommen würde.

»Joe Martin«, sagte er in den Hörer.

»Hallo, Joe«, erwiderte eine heisere, irgendwie unnatürliche Stimme.

»Wer spricht da?«

»Das wollen wir mal vorübergehend aus dem Spiel lassen, Joe. Winston ist heute Mittag gestorben …«

»Das weiß ich«, entgegnete Joe hart, und seine Kiefermuskulatur trat wie gemeißelt hervor. »Das weiß ich verdammt genau.«

»Schön, Joe. Lassen Sie mich ausreden! Ich hörte, dass Sie sein Nachfolger werden. Nun kommen Sie mir bloß nicht mit der Wahl. Das ist eine Formalität. Jeder im Hafen weiß, dass Winston Sie gern als Nachfolger haben wollte, und was Winston wollte, wird wohl auch jetzt noch gemacht werden.«

»Na und?«, fragte Joe. »Er hat uns ein Leben lang gut vertreten.«

»Das bestreitet ja keiner. Aber rechnen Sie mal, Joe. Sie sind zweiundfünfzig. Das ist nicht gerade ein Jünglingsalter.«

»Das hat auch niemand behauptet.«

»Warum wollen Sie sich nicht zur Ruhe setzen, Joe? Warum wollen Sie sich den ganzen Ärger an den Hals laden, den so ein Job nun mal mit sich bringt? Machen Sie Schluss, Joe! Für zehntausend im Jahr kann man ohne Sorgen aussteigen, finden Sie nicht?«

Joe schluckte. Die Schläfenadern an seinem kantigen Schädel fingen an, zu züngeln. Seine Stimme klang dunkler als sonst.

»Jetzt hören Sie mal genau zu!«, knurrte er wie eine gereizte Dogge. »Ich habe mit dreizehn Jahren angefangen, im Hafen zu arbeiten. Mein Vater war wieder einmal von seinem Freitag-Schnaps-Ausflug nicht nach Hause gekommen. Wir haben ihn nie wiedergesehen. Aber bei mir zu Hause saßen sechs hungrige Kinder und eine verweinte Mutter. Ich bin in den Hafen gegangen und habe jede Arbeit gemacht, die sie für mich hatten.«

Die Stimme am anderen Ende der Leitung schwieg.

»Bis auf den heutigen Tag kam immer mal wieder irgendein dreckiger Halunke und bot mir das und bot mir jenes für irgendeine Schweinerei«, fuhr Joe fort. »Warum kommen Sie nicht mal selbst her und sagen es mir ins Gesicht, dass ich für eine Rente von zehntausend im Jahr meine Kollegen im Stich lassen soll? Warum sagen Sie mir das nicht mal selbst ins Gesicht statt am Telefon, hä?«

»Ich bin kein Selbstmörder«, tönte es leise aus dem Hörer, und dann war die Verbindung unterbrochen.

Wütend starrte Joe auf die Muschel, aus der nur noch ein schwaches, atmosphärisches Knistern drang. Er legte auf und ging zum Tisch zurück. Seine Frau war blass. Jenny sah ihn besorgt an. Peggy hatte vor Neugierde den Mund offen stehen, wagte aber noch nicht, ihrem Temperament die Zügel schießen zu lassen.

Der kleine Patrick hielt seinen blonden Wuschelkopf über den Suppenteller gebeugt. Das Engelsgesichtchen von Angela sah ratlos in die Runde.

Der Rest der Mahlzeit verlief schweigsam, was die Erwachsenen anging. Nur Patrick und Angela plapperten...