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Hans Fallada - Gesammelte Werke

Hans Fallada

 

Verlag Null Papier Verlag, 2020

ISBN 9783962813598 , 7062 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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0,99 EUR


 

1. Die Post bringt eine schlimme Nachricht


Die Brief­trä­ge­rin Eva Klu­ge steigt lang­sam die Stu­fen im Trep­pen­haus Ja­blons­ki­stra­ße 55 hoch. Sie ist nicht etwa des­halb so lang­sam, weil sie ihr Be­stell­gang so sehr er­mü­det hat, son­dern weil ei­ner je­ner Brie­fe in ih­rer Ta­sche steckt, die ab­zu­ge­ben sie hasst, und jetzt gleich, zwei Trep­pen hö­her, muss sie ihn bei Quan­gels ab­ge­ben. Die Frau lau­ert si­cher schon auf sie, seit über zwei Wo­chen schon lau­ert sie der Be­stel­le­rin auf, ob denn kein Feld­post­brief für sie da­bei sei.

Ehe die Brief­trä­ge­rin Klu­ge den Feld­post­brief in Schreib­ma­schi­nen­schrift ab­gibt, hat sie noch den Per­sickes in der Eta­ge den »Völ­ki­schen Beo­b­ach­ter«1 aus­zu­hän­di­gen. Per­si­cke ist Amts­wal­ter oder Po­li­ti­scher Lei­ter oder sonst was in der Par­tei – ob­wohl Eva Klu­ge, seit sie bei der Post ar­bei­tet, auch Par­tei­mit­glied ist, bringt sie alle die­se Äm­ter doch im­mer durch­ein­an­der. Je­den­falls muss man bei Per­sickes »Heil Hit­ler« grü­ßen und sich gut vor­se­hen mit dem, was man sagt. Das muss man frei­lich ei­gent­lich über­all, sel­ten mal ein Mensch, dem Eva Klu­ge sa­gen kann, was sie wirk­lich denkt. Sie ist gar nicht po­li­tisch in­ter­es­siert, sie ist ein­fach eine Frau, und als Frau fin­det sie, dass man Kin­der nicht dar­um in die Welt ge­setzt hat, dass sie tot­ge­schos­sen wer­den. Auch ein Haus­halt ohne Mann ist nichts wert, vor­läu­fig hat sie gar nichts mehr, we­der die bei­den Jun­gen noch den Mann noch den Haus­halt. Statt­des­sen hat sie den Mund zu hal­ten, sehr vor­sich­tig zu sein und ekel­haf­te Feld­post­brie­fe aus­zu­tra­gen, die nicht mit der Hand, son­dern mit der Ma­schi­ne ge­schrie­ben sind und als Ab­sen­der den Re­gi­ment­s­ad­ju­tan­ten nen­nen.

Sie klin­gelt bei Per­sickes, sagt »Heil Hit­ler!« und gibt dem al­ten Sauf­kopp sei­nen »Völ­ki­schen«. Er hat auf dem Rockaufschlag schon das Par­tei- und das Ho­heits­ab­zei­chen sit­zen – sie ver­gisst ewig, ihr Par­tei­ab­zei­chen an­zu­ste­cken – und fragt: »Wat jib­t’s denn Neu­et?«

Sie ant­wor­te vor­sich­tig: »Ich weiß doch nicht. Ich glau­be, Frank­reich hat ka­pi­tu­liert.« Und sie setzt rasch die Fra­ge hin­zu: »Ob bei den Quan­gels wohl ei­ner zu Hau­se ist?«

Per­si­cke ach­tet gar nicht auf ihre Fra­ge. Er reißt die Zei­tung aus­ein­an­der. »Da steht’s ja: Frank­reich ka­pi­tu­liert. Mensch, Frol­lein, und det sa­ren Se ee­nem so, als ob Se Schrip­pen va­koofen! Det müs­sen Se za­ckig her­aus­brin­gen! Det müs­sen Se je­dem sa­ren, bei dem Se kom­men, det über­zeugt noch die letz­ten Mecker­köp­pe! Der zwei­te Blitz­krieg, hät­ten wa ooch ge­schafft, und nu ab Tru­meau nach Eng­land! In ’nem Vier­tel­jahr sind die Tom­mys er­le­digt, und denn solls­te ma se­hen, wie un­ser Füh­rer uns le­ben lässt! Denn kön­nen die an­de­ren blu­ten, und wir sind die Her­ren der Welt! Komm rin, Mä­chen, trink ’nen Schnaps mit! Ama­lie, Erna, Au­gust, Adolf, Bal­dur – alle ran! Heu­te wird blau­ge­macht, heut wird kee­ne Ar­beet an­je­fasst! Heu­te be­gie­ßen wir uns mal die Nee­se, heu­te hat Frank­reich ka­pi­tu­liert, und heut Nach­mit­tag ge­hen wa val­leicht bei de olle Jüd­sche in de vier­te Eta­ge, und det Aas muss uns Kaf­fee und Ku­chen je­ben! Ick sare euch, die Olle muss jetzt, wo Frank­reich ooch am Bo­den liegt, jetzt ken­ne ick keen Abar­men mehr! Jetzt sind wa die Her­ren der Welt, und alle müs­sen ku­schen vor uns!«

Wäh­rend Herr Per­si­cke, von sei­ner Fa­mi­lie um­stan­den, sich in im­mer auf­ge­reg­te­ren Aus­füh­run­gen er­geht und die ers­ten Schnäp­se schon hin­ter die Bin­de zu gie­ßen be­ginnt, ist die Brief­trä­ge­rin längst in die Eta­ge dar­über hin­auf­ge­stie­gen und hat bei den Quan­gels ge­klin­gelt. Sie hält den Brief schon in der Hand, ist be­reit, so­fort wei­ter­zu­lau­fen. Aber sie hat Glück; nicht die Frau, die meist ein paar freund­li­che Wor­te mit ihr wech­selt, son­dern der Mann mit dem schar­fen, vo­ge­l­ähn­li­chen Ge­sicht, dem dünn­lip­pi­gen Mund und den kal­ten Au­gen öff­net ihr. Er nimmt wort­los den Brief aus ih­rer Hand und zieht ihr die Tür vor der Nase zu, als sei sie eine Die­bin, vor der man sich vor­zu­se­hen hat.

Aber Eva Klu­ge zuckt zu so was nur die Ach­seln und geht wie­der die Trep­pen hin­un­ter. Man­che Men­schen sind eben so; so­lan­ge sie die Post in der Ja­blons­ki­stra­ße aus­trägt, hat die­ser Mann noch nie ein ein­zi­ges Wort zu ihr ge­sagt, nicht ein­mal »Heil Hit­ler« oder »Gu­ten Tag«, trotz­dem auch er, wie sie weiß, einen Pos­ten in der Ar­beits­front2 hat. Nun, lass ihn, sie kann ihn nicht än­dern, hat sie doch nicht ein­mal den ei­ge­nen Mann än­dern kön­nen, der mit Knei­pen­sit­zen und mit Renn­wet­ten sein Geld ver­tut und der zu Haus nur dann auf­taucht, wenn er ganz ab­ge­brannt ist.

Bei den Per­sickes ha­ben sie in ih­rer Auf­re­gung die Fl­ur­tür of­fen­ge­las­sen, aus der Woh­nung klingt Glä­ser­ge­klirr und das Lär­men der Sie­ges­fei­er. Die Brief­trä­ge­rin zieht die Fl­ur­tür sach­te ins Schloss und steigt wei­ter hin­ab. Da­bei denkt sie, dass dies ei­gent­lich eine gute Nach­richt ist, denn durch die­sen ra­schen Sieg über Frank­reich wird der Frie­de nä­her ge­rückt. Dann kom­men die bei­den Jun­gen zu­rück, und sie kann ih­nen wie­der ein Heim schaf­fen.

Bei die­sen Hoff­nun­gen stört sie aber das un­ge­müt­li­che Ge­fühl, dass dann sol­che Leu­te wie die Per­sickes ganz oben­auf sein wer­den. Sol­che zu Her­ren ha­ben und im­mer den Mund hal­ten müs­sen und nie sa­gen dür­fen, wie ei­nem ums Herz ist, das scheint ihr auch nicht das Rich­ti­ge.

Flüch­tig denkt sie auch an den Mann mit dem kal­ten Gei­er­ge­sicht, dem sie eben den Feld­post­brief aus­ge­hän­digt hat und der dann wohl auch einen hö­he­ren Pos­ten in der Par­tei be­kom­men wird, und sie denkt an die alte Jü­din Ro­sen­thal, oben im vier­ten Stock, der die Ge­sta­po vor zwei Wo­chen den Mann weg­ge­holt hat. Die kann ei­nem leid­tun, die Frau. Ro­sent­hals ha­ben frü­her ein Wä­sche­ge­schäft an der Prenz­lau­er Al­lee ge­habt. Das ist dann ari­siert wor­den, und nun ha­ben sie den Mann weg­ge­holt, der nicht weit von sieb­zig ab sein kann. Was Bö­ses ge­tan ha­ben die bei­den al­ten Leu­te si­cher nie je­man­dem, aber im­mer an­ge­schrie­ben, auch für die Eva Klu­ge, wenn mal kein Geld für Kin­der­wä­sche da war, und schlech­ter oder teu­rer als in an­de­ren Ge­schäf­ten war die Ware bei Ro­sent­hals auch nicht. Nein, es will nicht in den Kopf von Frau Eva Klu­ge, dass so ein Mann wie der Ro­sen­thal schlech­ter sein soll als die Per­sickes, bloß weil er ein Jude ist. Und nun sitzt die alte Frau da oben in der Woh­nung mut­ter­see­len­al­lein und traut sich nicht mehr auf die Stra­ße. Erst wenn es dun­kel ge­wor­den ist, macht sie mit dem Ju­dens­tern ihre Ein­käu­fe, wahr­schein­lich hun­gert sie. Nein, denkt Eva Klu­ge, und wenn wir zehn­mal über Frank­reich ge­siegt ha­ben, ge­recht geht es nicht bei uns zu …

Da­mit ist sie in das nächs­te Haus ge­kom­men und setzt dort ih­ren Be­stell­gang fort.

Der Werk­meis­ter Otto Quan­gel ist un­ter­des mit dem Feld­post­brief in die Stu­be ge­kom­men und hat ihn auf die Näh­ma­schi­ne ge­legt. »Da!«, sagt er nur. Er lässt ihr stets das Vor­recht, die­se Brie­fe zu öff­nen, weiß er doch, wie sehr sie an ih­rem ein­zi­gen Soh­ne Otto hängt. Nun steht er ihr ge­gen­über; er hat die dün­ne Un­ter­lip­pe zwi­schen die Zäh­ne...