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Ein Bild von Lydia

Lukas Hartmann

 

Verlag Diogenes, 2018

ISBN 9783257608649 , 368 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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10,99 EUR


 

2


Luises Tante kannte die Köchin im Belvoir, Johanna, und als Frau Welti-Escher nach einer neuen Kammerjungfer suchte, bat die Tante diese Johanna, sich bei der Dienstherrin für die fünfzehnjährige Luise einzusetzen. Sie sei willig und höf‌lich, kenne sich aus in Haushaltsdingen und habe vor allem keine Burschen im Kopf, sie sei auch, durch ihren Dienst im Pfarrhaus von Pfäf‌f‌ikon, daran gewöhnt, mit besseren Herrschaften umzugehen.

So kam es, dass Luise sich, frisiert und im hellblauen Sonntagsrock, bei Frau Welti vorstellen konnte. Der Diener, der sie von oben herab musterte, führte sie ins Empfangszimmer, das sie allein durch seine Größe und den spiegelnden Parkettboden einschüchterte. Sie wartete lange, horchte auf das Ticken der Standuhr und versuchte, ihre Aufregung niederzukämpfen. Sie nannte die vornehme Dame, die endlich eintrat, »gnädige Frau«, was diese aber mit einem Lächeln korrigierte: »Sag Frau Welti, mehr braucht es nicht.« Luises Wangen begannen vor Verlegenheit zu glühen, und einige Male stolperte ihre Zunge bei der nun einsetzenden Befragung doch wieder über die gnädige Frau. Im hochgeschlossenen dunkelbraunen Hauskleid saß die Hausherrin da. Sie wirkte weder hochnäsig noch zudringlich, sondern eher sanftmütig und aufgeschlossen, und Luise beneidete sie um die Bordüren an ihrem Kleid, um den schmalen Zopf, der ihr Gesicht einrahmte und von einer Schleife in der Farbe des Kleids festgehalten wurde. Sie übergab Frau Welti den Taufschein, den sie auf Anweisung der Tante mitgebracht hatte.

»Marie-Louise heißt du also mit vollem Namen«, sagte die Frau, nachdem sie das Papier auseinandergefaltet und gelesen hatte.

Das Mädchen nickte. »Ja. Marie-Louise Gaugler. Aber ich werde von allen Luise gerufen. Das mag ich lieber.«

»Dann würde ich es auch so halten.« Die Frau lächelte erneut, mit einer Wärme, die Luises Aufregung milderte. »Kannst du denn lesen und schreiben?«

»Ja. Ich war sechs Jahre in der Schule.«

»Gut so.« Sie schob das Buch, das auf dem Teetisch lag, zu Luise hinüber, und ein Duft nach Rosen erreichte sie plötzlich.

»Schlag es auf und lies ein paar Sätze.«

Luise setzte dort ein, wo ihr Finger auf den ersten Seiten hingeraten war: »… und das Mädchen begann, seine Puppe mit den langen Blättern des Wegekrautes zu bekleiden, so dass sie einen schönen grünen und ausgezackten Rock bekam; eine einsame rote Mohnblume, die da noch blühte, wurde ihr als Haube über den Kopf gezogen und mit einem Grase festgebunden, und nun sah die kleine Person aus wie eine Zauberfrau, besonders, nachdem sie noch ein Halsband und einen Gürtel von kleinen roten Beerchen erhalten. Dann wurde sie hoch in die Stengel der Distel gesetzt und eine Weile mit vereinten Blicken angeschaut, bis der Knabe sie genugsam besehen und mit einem Steine herunterwarf.«

Lydia winkte ab. »Genug. Weißt du, von wem das ist?«

Luise schüttelte den Kopf.

»Ach, das spielt ja auch keine Rolle. Aber es ist wahr: Du liest gut, und hoffentlich schreibst du auch so gut.«

»Ich war die Beste in der Klasse«, antwortete Luise. Doch sie schämte sich nachträglich, dass sie beim Lesen einige Male gestockt hatte.

»Das hat man mir gesagt.«

»Und ich bin Kindermädchen in Pfäf‌f‌ikon, bei den Meyers im Pfarrhaus, da habe ich den zwei jüngsten Kindern das Alphabet beigebracht. Sie wollten das unbedingt.«

Ihre Blicke trafen sich wieder. In Lydias Lächeln war ein wenig Traurigkeit. »Ah ja? Ich sag dir jetzt trotzdem, wie der Mann heißt, der die Sätze schrieb, die du gelesen hast: Gottfried Keller.« Sie sprach den Namen beinahe feierlich aus. »Er ist unser größter Dichter. Und er ist oft bei uns zu Gast.«

Luise hatte den Namen schon gehört, man hatte auch im Pfarrhaus mit Verehrung von ihm gesprochen. Aber sie schwieg und nickte, sie wollte mit ihrem Wissen nicht auf‌trumpfen.

»Du wirst ihn kennenlernen«, fuhr Frau Lydia fort. »Ich glaube, er wird dich mögen …«

Das klang, als wäre die Wahl schon auf sie gefallen, doch sie war nicht sicher, ob sie es glauben sollte.

Die Frau richtete sich auf und wirkte nun fast einschüchternd. »Sag mir, was weißt du von Haushaltsdingen?«

Luise ihrerseits sank im ungewohnten Sessel ein wenig zusammen. Sie errötete und zögerte, ehe sie aufzuzählen begann. »Ich kann den Herd einfeuern, ich kann das Parkett fegen und wichsen, ich kann das Geschirr waschen, die Betten aufschütteln, Fenster putzen …«

Die Frau fiel ihr ins Wort: »Das genügt. Du wirst zwar hauptsächlich für mich da sein, als Kammerjungfer und als Mädchen für alles, du wirst mir die Kleider bereitlegen, mich frisieren, aber zwischendurch wirst du der Köchin helfen, manchmal auch den Gärtnern. Und anderes mehr, je nach Bedarf. Traust du dir das zu?«

»Ja«, sagte Luise, ohne lange nachzudenken. Sie wollte diese Stelle, sie wollte sich bewähren in diesem prächtigen Haus und die Vertraute von Frau Welti werden. Stockend fragte sie: »Bedeutet das … dass Sie mich nehmen?«

Die Frau schien sie zu überhören. »Noch etwas«, sagte sie. »Du sprichst Italienisch, oder? Parli italiano?«

»Sì, signora, ho vissuto a Bergamo, ma solo i primi anni della mia vita.«

Jetzt endlich war sie zufrieden, die reiche Frau. »Ich mag diese Sprache, sie ist mir die liebste, klangvoller als Französisch.« Sie überlegte. Dann schien ihr Gesicht aufzuleuchten, und das machte sie hübscher. »Ja, ich nehme dich in meinen Dienst.«

Luise hätte beinahe in die Hände geklatscht vor Freude, doch stattdessen neigte sie den Kopf und sagte sehr leise: »Ich danke Ihnen, gnädige Frau.«

»Die gnädige Frau gewöhne dir ab, ich hab’s dir schon gesagt.« Ihre Miene wirkte streng, aber ihre Mundwinkel zuckten, als müsste sie gleich lachen.

»Ich danke Ihnen, Frau Welti«, sagte Luise, sie stand auf und machte einen förmlichen Knicks, wie sie es von der Tante gelernt hatte.

Jetzt lachte die Frau einen Moment lang ganz ungehemmt. »Das musst du noch üben. Für den Fall, dass du mal eine Herzogin bedienen solltest.«

Eine Herzogin? Herzoginnen gab es doch gar nicht in Zürich, das war wohl ein Scherz. In ihr aufschießendes Glück mischte sich ein wenig Bangigkeit. Würde sie diese Frau, die an ein so anderes Leben gewöhnt war, zufriedenstellen können? »Ich werde mir alle Mühe geben, Frau Welti«, erwiderte sie, doch eine Sorge plagte sie, und sie suchte nach Worten. »Ihr Herr Gemahl, wird er auch …«

Die Frau wurde von einem Moment auf den andern wieder ernst. »Einverstanden sein? Ja, das wird er. Du wirst ihn bei Tisch bedienen, wenn er da ist. Seine Schuhe putzen. Ihm bisweilen Mantel und Hut reichen, wenn er weggeht und der Diener anderweitig beschäf‌tigt ist. Mehr hast du kaum mit ihm zu tun.«

Das erleichterte Luise. Eigentlich war sie nicht auf den Mund gefallen, Tante und Mutter hielten es ihr oft vor, bei den Nachbarn galt sie als frech, und in Bergamo sei sie ein Wildfang gewesen, sagte die Mutter. Aber Herren gegenüber, die ihren Stand durch Tonfall und Miene betonten, verschlug es ihr die Sprache.

Frau Lydia stand auf, trat zu Luise, um ihr die Hand zu reichen, das Kleid bauschte sich bei ihrem raschen Schritt und fiel gleich wieder zusammen. Ihre Hand war schmal, gepflegt, ohne Risse, ohne Schmuck, die Ärmelsäume mit ihren Rüschen berührten Luises Finger leicht, beinahe kitzelnd wie Insektenbeine. Die Frau war einen halben Kopf größer als Luise und schaute ihr forschend in die Augen; das Mädchen zwang sich, dem Blick standzuhalten. »Wir machen es so: Der Verwalter wird ein Papier aufsetzen für deine verwitwete Mutter und deinen Vormund. Das müssen beide unterschreiben und du meinetwegen auch. Du kannst nächste Woche bei uns anfangen, am 1. Juni, und bekommst zunächst fünfzehn Franken im Monat. Einverstanden?«

Der Lohn? Den hatte Luise ganz vergessen, dabei hatte die Mutter ihr eingeschärft, danach zu fragen, unter zehn Franken dürfe es bei so vermögenden Leuten nicht sein.

Aber jetzt fünfzehn Franken! Davon konnte sie einen großen Teil bei den Großeltern abgeben, wo die Mutter und ihre Geschwister seit acht Jahren lebten. Sie errötete wieder, dieses Mal vor Freude, sie sagte ja und wünschte sich, als die Frau ihre Hand losließ, daran riechen zu können. Der Abschied war schnell, Frau Welti ging mit einem letzten flüchtigen Nicken hinaus, ihr bodenlanges Kleid glitt übers Parkett, das unter den Hausschuhen leicht knarrte. Das Kleid hätte die Frau Pfarrer Meyer von Pfäf‌f‌ikon bestimmt gekürzt, denn sie mochte es nicht, wenn teurer Stoff unnötig abgenutzt wurde. Von draußen hörte Luise Stimmen. Sie war unsicher, was sie jetzt tun sollte. Sie drehte sich um, entdeckte das große Bild an der Wand hinter ihrem Rücken: eine mit Gepäck überladene Kutsche im Gebirge, von Schimmeln gezogen, die ein verängstigtes Kalb vor sich hertrieben. Ob das gutgeht?, fragte sich Luise, ob die Kutsche nicht gleich kippt? Und erkannte bei genauerem Hinsehen, dass die Pferde durch eine ganze Kuhherde gefahren waren und dabei eine große, den Hintergrund verschleiernde Staubwolke aufgewirbelt hatten. Das Bild war so lebensecht gemalt, dass Luise beinahe das Muhen des gehetzten Kalbes und das Fluchen des Kutschers zu hören glaubte, der die Zügel mit aller Kraft hielt und zugleich die Peitsche knallen ließ. Wie alt war sie gewesen, als sie damals, bei Einbruch des Winters, über den Splügen gegangen waren? Sechsjährig oder jünger. Kutschen überholten die Familie, ihre...