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Tango als Ausdruck der Melancholie in der modernen Gesellschaft. - Einblicke und Ausblicke aus melancholischen Welten

Vicky Kämpfe

 

Verlag Diplomica Verlag GmbH, 2008

ISBN 9783836610384 , 94 Seiten

Format PDF, OL

Kopierschutz frei

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33,00 EUR

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Kapitel III.2, Momentaufnahme des pathologischen Symptoms

Das Tangofieber in Europa besitzt eine symptomatische Bedeutung, indem es Ausdruck für die Melancholie der Moderne ist. Sowohl die pathologischen als auch die ästhetischen Kategorien, die die Melancholieentwicklung vorgibt, sind darin zu erkennen und werden im Folgenden in Form von Schlussfolgerungen aus den vorangegangenen Beschreibungen und Analysen dargestellt.Der Mensch der Moderne hegte Sehnsüchte nach Dingen, die vom gesellschaftlichen Diskurs ausgeschlossen waren. Diese Leerstelle füllte sich zumeist unbemerkt mit einer melancholischen Stimmung. Der Moderne Mensch sehnte sich währenddessen nach Dingen und Zuständen außerhalb der vernünftigen Ordnung. Das waren beispielsweise erotische Impulse, eine befreite und neu definierte Weiblichkeit und demzufolge auch eine solche Männlichkeit, Sinnlichkeit, aber auch menschliche Beziehungen im Sinne von Kommunikation und Vertrauen. Es sind Elemente, die der Tango bieten kann. Im adaptierten Tango de Salon in Europa waren Sinnlichkeit und die erotische Komponente kontrolliert und suggestiv: Er zeigte keine instinktive Sinnlichkeit, keine herben Posen, gar unschöne Aggressionen gegen Manieren höherer Klassen. Er zeichnet sich durch die Empfindsamkeit für Musik und Tanzpartner aus. Er ermöglichte das Spiel der Rollen zwischen der femme fatal, dem Sinnlichen sowie dem Eroberer in seinen festen Rollenverteilungen des Führens und Geführtwerdens innerhalb gesetzter Regeln. Das Spiel der Geschlechter in den Rollen der starken Frau und des Mannes als llorón gaben neue Impulse. Eine sinnliche und freie Kommunikation konnte im engen Körperkontakt des Tanzens stattfinden. In seiner gepflegten Exklusivität war der Tango außerdem ein Klassenzugehörigkeitsspiel, wie es bereits in seiner Herkunft angelegt war. Der Tango präsentierte sich als ein nettes Spiel für die gelangweilte Bourgeoisie Europas (erste Rezeptionswelle) und als ein Fluchtraum für den einsamen, vom Postmodernen überforderten Individualisten (zweite Rezeptionswelle). Tango entwickelte sich zum exotischen Hybriden. Die Verfremdung wird in seiner Reduzierung auf den erotisch-sinnlichen Aspekt bzw. in der ihm aufgezwungenen Reglementierung der Figuren und Stile deutlich.

Tango in Europa kann in Anwendung der im ersten Kapitel beschriebenen Melancholieauffassung unter zwei Gesichtspunkten betrachtet werden.

Auf einer Seite steht das pathologische Konzept der ständigen Wiederholung des immergleichen Stils und der immergleichen Atmosphäre. Es zeigte sich darin, dass die Tanzenden sich in geschlossenen Milongakreisen bewegten. Sie fungierten als Zufluchtsorte voller Sehnsucht und Trost, um die eigene Leere und Sehnsucht nach Leben und Geist nicht allein ertragen zu müssen. Die Kritik an der Moderne kann ausgehend von dieser Situation eingeflochten werden. Der/die Einzelne fand sich mit rationalen Verhaltensregeln sowie mit dem Ausschluss von Spiritualität und tatsächlicher Individualität ab. Er wurde sich dessen aufgrund des falschen Bewusstseins über sein/ihr Befinden nicht mehr bewusst. Die Tangofaszination diente dem Überleben in der Moderne und stabilisierte das Moderne Ordnungssystem in ihrem rationalen Schema, da der Einzelne weder unzufrieden (oppositionelles Potential) noch melancholisch (unproduktiv) wurde. Er blieb als sehnsüchtig tanzend unaktiv gegenüber der gesellschaftlichen Lage, denn er glaubte sich zufrieden und vor allem sich von den anderen abhebend, die außerhalb der Tangogemeinschaft lebten. Der Tango wurde erlebt und gelebt in seiner Interpretation als melancholisch und sinnlich, reduziert auf das Zwischenmenschliche libidinöser Beziehungen.

Unter der pathologischen Kategorie betrachtet, handelte es sich um ein Zurückweisen der ursprünglichen Werte des Tangos durch die Tanzenden, indem sie den Tanz in ihre eigene Lebenswelt aufnahmen, im Verlauf der Geschichte weitere Tangoentwicklungen zurückwiesen und sich auf den Tango de Salon als den authentischen Tango festlegten. Das Melancholische kehrt als eine Versinnbildlichung der unbewussten Zurückweisung eigener zu kritisierender Gesellschaftsbeschreibungen zurück, die im Tango gelebt werden.

Auf der anderen Seite steht das kreative und konfliktive Potential des Tangos. In der Auseinandersetzung mit seinen Gegensätzen und Ursprüngen, mit seinen Formen, Stilen und Entstehungsfacetten, mit seinen vielfältigsten Inhalten der Empfindungen, Weltauffassungen und -beschreibungen, historischen Erfahrungen sowie Liebe, Freundschaft, Gesellschaftskritik, Philosophie und Rebellion, zwingt der Tango zum Nachdenken. Er führt zur Reflexion über das eigene Ich, über die Gesellschaft und die Welt. Das zwingt zur Akzeptanz verschiedener Facetten und Ausprägungen, zu Konflikten und deren Lösungen, zu Entwicklung und Veränderung. So wie es Tango schon immer war, jedoch in Europa seit seiner ersten Rezeption negiert wurde.

Dieses Potential des Tangos kann der ästhetischen Kategorie der Melancholie zugeordnet werden und bildet somit die ästhetische Kategorie des Tangos. Die Tanzenden nutzen sein Potential als Lebensperspektive. Sie setzten neue Werte aus gestellten Sinnfragen und Anforderungen, die aus der Reflexion über eigenen Befindlichkeiten erwuchsen, in neuen (Lebens)Formen um. Auf diese Kategorie wird im abschließenden Kapitel eingegangen werden.