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Die Lieben der Melody Shee

Donal Ryan

 

Verlag Diogenes, 2018

ISBN 9783257608755 , 304 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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18,99 EUR


 

{15}Dreizehnte Woche


Meine Tage sind jetzt in Quadranten eingeteilt. Ich wache pünktlich um acht Uhr auf wie schon mein ganzes Leben. Die erste Stunde jedes Tages bin ich überzeugt, dass ich mich tatsächlich umbringen werde. Erleichterung macht sich breit. In der Stunde danach male ich mir aus, was es für Konsequenzen hat, wenn ich mich umbringe. Die Erleichterung verfliegt. Die nächste Stunde bin ich mir sicher, dass ich mich nicht umbringen werde. Erleichterung. In der Stunde danach male ich mir aus, was es für Konsequenzen hat, wenn ich mich nicht umbringe. Die Erleichterung verfliegt. Dieser Kreislauf wiederholt sich noch dreimal, und dann gehe ich ins Bett. Ich schlafe acht Stunden.

Was hält mich auf dieser Erde? Die Angst vor den Schmerzen. Und die Panik, die ich mir im Blick meines Vaters vorstelle, wenn er den Streifenwagen mit Pfarrer Cotter auf dem Beifahrersitz vorfahren sieht. Seine Hände zittern, während er am Schloss herumfuhrwerkt, er muss sich am Türpfosten {16}festhalten, um überhaupt aufrecht stehen zu können. Seine Knie geben plötzlich nach, und der dicke Jim Gildea kommt ihm zur Hilfe, freundlich, stark, beschämt, oder ein junger Polizist, rotgesichtig und unbeholfen, der verzweifelt hofft, dass diese Tortur bald ein Ende hat. Er fängt meinen Vater auf und bringt ihn ins Haus und setzt ihn in einen Sessel. Ich sehe ihn allein an meinem Grab stehen, einen kalten Wind im Gesicht, Unverständnis im Blick, ich sehe die Scham, mit der er die Beileidsbekundungen von Freunden und kaum noch erinnerten Bekannten entgegennimmt, wie er Worte sagt, die in seinen Ohren nicht richtig klingen. Danke; sehr nett, dass du gekommen bist; wenigstens hat es nicht geregnet; sie ist jetzt an einem besseren Ort; jetzt ist sie bei ihrer Mutter. Der Gedanke an seine Einsamkeit, die Vollkommenheit seines Leids, die Vorstellung, dass seine Welt dann nur noch aus Kummer besteht.

 

Letzte Nacht habe ich geträumt. Einen dieser Träume, die so lebhaft sind, dass man nach dem Aufwachen eine Weile im Bett liegt und sich fragt, was wirklich ist. Ich war auf einem Treffen des Kurt-Cobain-Klubs. Breedie Flynn saß barfuß und in Shorts im Schneidersitz, und ich saß ihr im Schneidersitz gegenüber und sah sie an. Tränen strömten {17}über ihre Wangen, wurden kurz aufgehalten in den von Akne gegrabenen Vertiefungen, bevor sie zu Boden fielen. Ihr ganzes Gesicht war rot und von diesen Narben übersät, aber so schön, dass ich sie manchmal hasste. In meinem Traum waren wir in Breedies Zimmer, und über unseren Köpfen hatten wir ein Laken zwischen Sessellehne und Breedies Bett gespannt, mit Kissen und den Stofftieren aus Breedies Kindheit hatten wir uns gegen die Welt abgeschottet.

Breedie Flynn und ich gründeten den Kurt-Cobain-Klub im April 1994. Breedie hielt ihn für einen Gott; ich nur für supersüß. Kurt Cobain litt sein ganzes kurzes Leben unter chronischen Magenschmerzen. So auch meine schöne Freundin. Sie sprach mit seinem Poster, als wäre er selbst im Raum; ich hörte verschämt zu und sah sie nicht an, wenn sie wie geistesabwesend meine Hand hielt. Dabei mochte ich es, wenn sie das tat. Der Kurt-Cobain-Klub war im Besitz folgender Dinge: ein Ouija-Brett, mit dem wir den Geist von Kurt Cobain heraufbeschwören wollten; eine Literflasche Wodka, aus der wir mit angstverzerrtem Gesicht kleine Schlucke tranken; ein Kassettenrekorder mit Mikrophon, auf dem wir Breedie Flynns wilde Geschichten aufnahmen und ihre imaginären Gespräche mit den coolen Mädchen, den Jungs, den {18}Lehrern und unseren Eltern, dabei imitierte sie ihre Stimmen so perfekt, dass man im Hintergrund immerzu mein schallendes Gelächter hörte.

Breedie sah mich im Traum an und fragte, Melody, warum hast du mich im Stich gelassen? Und sie nahm meine Hand und drückte sie, und sie trug einen Heiligenschein aus gleißendem Licht, und ihre Hand war glühend heiß, und dann wachte ich auf, die Worte Breedie, o Breedie, es tut mir so leid auf den Lippen, und lag schwitzend in der Kälte und spürte, wie die schleichende Übelkeit auf einmal mit großen Schritten auf mich zukam.

 

Mein Vater ruft mich jeden Tag an und erzählt mir Dinge, von denen er meint, ich müsse sie wissen.

Heute hat er Altglas weggebracht. Jemand hatte Müll in den Container geworfen. Ist das nicht eine Schande? Die Überwachungskameras waren natürlich wieder kaputt. In einer kurzen Redepause schnalze ich missbilligend mit der Zunge, und er fährt fort, Ich hab Mossy Shanley gestern Abend am Hurlingfeld getroffen. Die zweite Mannschaft hat gegen Kildangan verloren. Mossy hat kein gutes Haar am alten Jack-Matt-und-dann gelassen. Er hat ihn beschimpft mit allem, was du dir nur vorstellen kannst, und noch mehr. Das bringt Unglück, hab ich zu ihm gesagt, wenn du so von den Toten {19}redest. Ach, leck mich, sagt er und spuckt auf den Boden. Dasser tot ist, heißt noch lange nich, dasser kein Scheißkerl war. Das hat Mossy gesagt, stell dir vor. Gott, der arme Jack. Hatte nicht einen bösen Knochen im Leib. Er hat doch nie was anderes gewollt, als zu trinken und seine Geschichten zu erzählen. Vorhin, auf dem Weg von der Andacht nach Hause, da ist einer an mir vorbeigefahren und hat sich mit einer Hand das Handy ans Ohr gehalten, und mit der anderen hat er sich die Haare gemacht, und keine Hand am Lenkrad. Vielleicht gibt’s das jetzt, dass man sich irgendwo eine dritte Hand wachsen lassen kann, aber wenn er eine hatte, dann hab ich die jedenfalls nicht gesehen. Nix.

Und er hält inne und wartet, dass ich etwas darauf erwidere, und er horcht nach Kummer in meiner Stimme, das weiß ich. Kommst du mich denn die Tage mal besuchen?

Mach ich, Dad.

Ich weiß ja, dass du so viel zu tun hast mit deinem Unterricht und allem.

Habe ich tatsächlich, Dad.

Immer noch für den kleinen Zigeunerjungen?

Traveller, Dad.

Ach, ja ja, Traveller. Gott, heutzutage sind alle so kleinlich, was das angeht.

 

{20}Ich werde bald aus dem Haus müssen. Die Zeit vergeht als Kribbeln auf meiner Haut, vom Scheitel bis zu den Sohlen und wieder hinauf. Ich muss etwas zu essen kaufen, damit ich beim Warten auf den Tod am Leben bleibe, und ich brauche etwas gegen diese Übelkeit. Anfang des zweiten Trimesters: Ende der morgendlichen Übelkeit. Das habe ich in einem Buch gelesen, so stand es da, ganz beiläufig, unanfechtbar, unumstößlich, unter dem Foto einer wunderschönen, lächelnden, makellosen werdenden Mutter. Und was, wenn die beschissene morgendliche Übelkeit erst am Ende des ersten Trimesters angefangen hat? Ich bin inzwischen fast so weit, eine Handvoll Valium zu schlucken, nur um mal eine Weile Ruhe zu haben, einfach dazuliegen und wegzudriften. Im Badezimmerschrank ist ein volles Fläschchen. In der Hausbar steht Wodka, Tonic ist im Kühlschrank und Eis im Kühlfach. Das gäbe eine richtige Party. Machen wir es so, kleiner Mann? Ich weiß gar nicht, warum ich mir so sicher bin, dass es ein Junge wird. Ich stelle mir das Kind vor wie seinen Vater, nur in Klein: rotwangig und blauäugig und dunkelhaarig und schön. Sollte ich noch am Leben sein, wenn diese Übelkeit endlich abflaut, besuche ich meinen Vater.

 

{21}Ich liege noch immer hier. Mir ist nicht mehr so übel, aber ich bewege mich trotzdem nicht vom Fleck. Dabei habe ich noch Glück. Vor vierzig Jahren hätte man mich weggeholt und zur Arbeit an den schmutzigen Gewändern rechtschaffener Leute gezwungen, Hemden und Hosen und Röcke und Roben jener zu waschen, die noch gut standen mit dem Allmächtigen, mein Baby wäre mir entrissen und verkauft und bei Nacht und Nebel fortgebracht worden, um unverdorben von meiner Gottlosigkeit aufzuwachsen. Die Freiheit fühlt sich an wie eine Last, eine lähmende Weite; seit Stunden sitze ich jetzt hier und kann weder aufstehen noch diesen Raum verlassen, weil ich nicht weiß, welche Richtung ich an der Tür einschlagen soll: den Flur entlang ins Bett oder zur Tür hinaus und zum Auto? Wo sollte ich hinfahren? Ich habe genug Geld, um mich ein Jahr lang über Wasser zu halten, vielleicht sogar mehr, aber die Stille, nach der ich mich so gesehnt habe, wird bald vorbei sein, alles, was ich aus meinem Leben verbannen wollte, wird mit großem Getöse wieder über mich hereinbrechen: Pat wird an die Tür hämmern und betteln und von mir hören wollen, dass ich ihn nur angelogen habe, und ich werde mit vorgelegter Kette aufmachen, und er wird weinen und versuchen, mich durch den Spalt anzufassen, und sagen, Bitte, {22}Melody, bitte. Ich brauche dich doch, Melody. Weil er mich immer gebraucht hat, und bis heute habe ich keinen blassen Schimmer, warum.

Noch könnte ich nach London fliegen und dem Ganzen ein Ende machen und zurückkommen und sagen, Stimmt, Pat, ich habe gelogen, und er könnte sich einreden, dass er mir glaubte und wir könnten übers Wochenende wegfahren und uns gemeinsam massieren lassen und Hand in Hand an einem Fluss spazieren gehen und an einem Wasserfall stehen und die Gischt auf unseren Gesichtern spüren und lachen und über die Höhle hinter dem herabstürzenden Wasser sinnieren, abgeschnitten vom Rest der Welt, und über den tosenden Frieden, den man dort finden würde, und nach dem Abendessen könnten wir auf einen Drink an die Bar und dann ins Bett gehen und uns auf der Suche nach Wärme dem anderen zuwenden, aber nur Kälte dort finden und keine Geborgenheit, keine Vergebung der Sünden; und hinterher würden wir uns voneinander abwenden und an die Decke schauen und Worte in den Äther schicken, über nie geborene Babys und unerfüllte Bedürfnisse und Prostituierte und Internetsex und grauenhafte, unverzeihliche Sünden und unendliche Strudel aus...