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Der Aufstieg und Fall des D.O.D.O. - Roman

Neal Stephenson, Nicole Galland

 

Verlag Goldmann, 2018

ISBN 9783641230197 , 864 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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12,99 EUR


 

Diachronik

TAG 33 [ENDE AUGUST, JAHR 0]

An dem ich Tristan Lyons kennenlerne und auf der Stelle einwillige, in größere Schwierigkeiten zu geraten, als ich mir damals hätte vorstellen können

Ich traf Tristan Lyons im Gang vor den Fakultätsbüros des Instituts für Alte und Klassische Linguistik an der Harvard University. Ich war dort Dozentin, was so aussah, dass man mir die unbeliebtesten Lehraufgaben übertrug, die zudem keine Möglichkeit der Forschung mithilfe von Geldern der Universität und keine echte Jobsicherheit boten.

An diesem speziellen Nachmittag ging ich gerade den Korridor entlang, als ich aus dem Büro des Institutsleiters Dr. Roger Blevins laute Stimmen hörte. Seine Tür war angelehnt. Normalerweise stand sie weit offen, damit jeder, der vorbeiging, einen Blick auf Blevins Ego-Wand erhaschen konnte, an der jedes Abschlusszeugnis, jede Ehrung und jede Auszeichnung, ob ehrlich erworben oder nicht, prangte. Stand die Tür nicht sperrangelweit offen, war sie fest verschlossen und mit dem in 48-Punkt Lucida Blackletter gedruckten Hinweis versehen, man möge »Bitte nicht stören«, damit wir auch ja alle begriffen, in welch exklusiver Gesellschaft er sich befand.

Doch nun war sie völlig untypischerweise zu einem Viertel geöffnet. Neugierig spähte ich genau in dem Moment hinein, als ein adrett gekleideter Mann entschlossenen Schrittes auf die Tür zustrebte, während er mit einem Ausdruck irgendwo zwischen Abscheu und Belustigung zu Blevins zurückblickte. Sein Bizeps klatschte gegen meine Schulter, als er mich mit solcher Wucht anrempelte, dass ich aus dem Gleichgewicht geriet. Mit einer Rückwärtsdrehung landete ich ausgestreckt auf dem Boden. Er wich instinktiv zurück, wobei sein Rucksack mit lautem Krach an den Türpfosten schlug. Aus dem Inneren des Büros spuckte Blevins Stimme einen Strom von Beleidigungen aus.

»Entschuldigen Sie«, sagte der Mann, der etwa in meinem Alter war, sofort und lief rot an. Er schlüpfte in den Korridor hinaus und machte Anstalten, die Hand nach mir auszustrecken, um mir aufzuhelfen.

Da schwang die Tür mit ziemlicher Wucht noch weiter auf und mir geradewegs ans Schienbein. Ich gab ein Geräusch gequälten Protests von mir, worauf die großtuerische Stimme aus dem Inneren des Raums verstummte.

Blevins, das dichte graue Haar starr frisiert und gekleidet, als erwartete er, jederzeit zur Abgabe eines Expertengutachtens vereidigt zu werden, trat aus seinem Büro und blickte missbilligend auf mich herab. »Was machen Sie da?«, fragte er, als hätte er mich beim Spionieren erwischt.

»Meine Schuld, tut mir leid, Miss«, sagte der junge Mann, während er mir erneut eine Hand hinstreckte.

Blevins packte die Tür an der Kante und fing an, sie zuzuziehen. »Passen Sie auf, wo Sie langgehen«, sagte er zu mir. »Wenn Sie in der Mitte des Korridors gegangen wären, hätten Sie einen Zusammenstoß vermieden. Bitte fassen Sie sich und gehen Sie weiter.«

Dem jungen Mann warf er einen Blick zu, den ich aus meiner Lage nicht so recht einschätzen konnte, dann verschwand er wieder in seinem Büro und knallte die Tür hinter sich zu.

Nach kurzem betroffenem Schweigen hielt der junge Mann mir seine Hand noch näher hin, worauf ich sie mit einem dankbaren Nicken ergriff und mich hochzog. Dann standen wir ziemlich dicht nebeneinander.

»Es …«, fing er wieder an. »Es tut mir schrecklich leid …«

»Schon okay«, sagte ich. »Wie schlimm können Sie sein, wenn Sie Roger Blevins geärgert haben?«

Darauf blickte er verdutzt drein, so als gehörte es sich dort, woher er kam, einfach nicht, schlecht über Vorgesetzte zu reden. Eine Weile starrten wir einander an. Was mir vollkommen normal erschien. Er sah hübsch aus, ein bisschen nach Reserveoffizier-Ausbildungskorps, und sein Gesichtsausdruck ließ vermuten, dass auch er nichts dagegen hatte, mich anzuschauen, obwohl ich nicht zu der Sorte Frau gehöre, für die Jungs aus dem Reserveoffizier-Ausbildungskorps sich auch nur im Entferntesten interessieren.

Plötzlich streckte er die Hand aus. »Tristan Lyons«, sagte er.

»Melisande Stokes«, erwiderte ich.

»Sind Sie am Institut für Alte und Klassische Linguistik?«

»Ja«, sagte ich. »Ich bin eine ausgebeutete und geknechtete Dozentin der Geisteswissenschaft.«

Wieder dieser überraschte, argwöhnische Blick. »Ich spendiere Ihnen einen Kaffee«, sagte er.

Das war dreist, aber da es mir so gefiel, dass er Blevins aus der Fassung gebracht hatte, hätte ich es unhöflich gefunden, ihn abblitzen zu lassen.

Er wollte mit mir zum Apostolic Café am Central Square gehen, zu Fuß vielleicht zehn Minuten die Massachussetts Avenue hinunter. Es war die Zeit im Jahr, wo man in Boston das Gefühl hat, dass der Sommer endgültig vorbei ist, und die über siebzig Colleges und Universitäten allmählich wieder zum Leben erwachen. Die Straßen waren voll mit den Minivans von Eltern aus dem gesamten Nordosten, die ihre Kinder zu deren Wohnungen und Studentenheimen zurückbrachten. Gehwege waren zugestellt mit ausrangierten Sofas und anderem Sperrmüll. Das stelle man sich zusätzlich zu dem üblichen städtischen Verkehr vor – Menschen, Autos, Fahrräder, die T – und alles war sehr laut und hektisch. Das nutzte Tristan als Vorwand, mit einer Hand meinen Ellbogen zu umfassen und mich so beim Gehen dicht bei sich zu haben. Dreist. Wie überhaupt der Gedanke, dass man zu zweit nebeneinander durch ein solches Gewühl gehen könnte. Doch mit erwartungsvollen Blicken und knappen Entschuldigungen schaffte er es immer wieder, uns einen Weg durch die Menge zu bahnen. Eindeutig nicht aus der Gegend.

»Können Sie mich gut verstehen?«, sagte er mir fast direkt ins Ohr, da ich mich nur einen halben Schritt vor ihm befand. Ich nickte. »Ich will Ihnen ein paar Dinge sagen, solange wir noch unterwegs sind. Wenn wir dann ins Café kommen, und Sie halten mich für einen Fiesling oder einen Irren, sagen Sie es mir einfach, und ich werde Ihnen lediglich einen Kaffee zahlen und mich aus dem Staub machen. Falls Sie mich aber nicht für einen Fiesling oder Irren halten, werden wir ein sehr ernsthaftes Gespräch führen, das Stunden dauern könnte. Haben Sie für heute Abend schon etwas vor?«

In der Gesellschaft, in der ich mich gegenwärtig bewege, hätte ein solches Vorgehen als derart ungeheuerlich gegolten, dass ich im Nachhinein kaum glauben kann, dass ich mich nicht unverzüglich verabschiedet und ihn stehengelassen habe. Doch damals fand ich seine peinliche Ungehörigkeit, seine Direktheit sogar ziemlich hinreißend. Und ich gebe zu, ich war neugierig auf das, was er zu sagen hatte.

»Eventuell«, erwiderte ich. (Im Vertrauen: hatte ich nicht.)

»Gut, hören Sie zu«, fing er an. »Ich arbeite für eine obskure Regierungseinrichtung, von der Sie noch nie gehört haben, und wenn Sie versuchen, sie zu googeln, werden Sie keinen Hinweis darauf finden, nicht einmal von abgedrehten Verschwörungstheoretikern.«

»Abgedrehte Verschwörungstheoretiker sind die Einzigen, die einen Ausdruck wie ›obskure Regierungseinrichtung‹ verwenden würden«, gab ich zu bedenken.

»Deshalb verwende ich ihn ja«, versetzte er. »Ich will gar nicht, dass irgendjemand mich ernst nimmt, es stünde meiner Effizienz im Weg, wenn Leute mir Aufmerksamkeit schenken würden. Ich erkläre Ihnen jetzt, was wir brauchen, und Sie sagen mir, ob Sie interessiert sind. Wir haben einen Haufen sehr alter Dokumente – eins sogar in Keilschrift –, die wir, zumindest grob, von ein und derselben Person übersetzen lassen müssen. Man wird Sie sehr gut bezahlen. Allerdings kann ich Ihnen nicht sagen, woher die Dokumente stammen oder wie wir daran gekommen sind oder warum wir uns dafür interessieren. Und Sie dürfen keiner Menschenseele je davon erzählen. Nicht einmal Ihren Freundinnen und Freunden: ›Übrigens, ich habe als Verschlusssache eingestufte Texte für die Regierung übersetzt.‹ Selbst wenn wir Ihre Übersetzung veröffentlichen, können Sie nicht die Urheberschaft beanspruchen. Wenn Sie beim Übersetzen des Materials außerordentliche Dinge erfahren, dürfen Sie sie nicht mit der Welt teilen. Sie sind ein Rädchen in einem Getriebe. Ein anonymes Rädchen. Damit müssen Sie sich einverstanden erklären, ehe ich weiterrede.«

»Deshalb hat Blevins Sie rausgeschmissen«, sagte ich.

»Ja, ihm liegt die Freiheit der Wissenschaft sehr am Herzen.«

Dass ich es mir da verkneifen konnte, zu LOL mich über ihn lustig zu machen, müssen Sie mir hoch anrechnen, geneigter Leser. »Nein, tut sie nicht.«

Das verblüffte Tristan, der mich ansah wie ein Welpe, dem man auf den Schwanz getreten hat. Nein, machen wir in Anbetracht seines Reserveoffizier-Gebarens lieber einen ausgewachsenen Deutschen Schäferhund daraus.

»Es hat ihm gestunken, dass er damit weder Ruhm erlangt noch Tantiemen bekommen hätte«, erklärte ich. »Aber das konnte er natürlich nicht zugeben. Also Freiheit der Wissenschaft oder so was.«

Darüber schien Tristan nachzudenken, als wir die Temple Street überquerten. Leute wie er sind dazu erzogen, Autorität zu respektieren. Blevins war auf seinem Gebiet eine Autorität. Das war also ein kleiner Test. War Tristans rechtschaffener Verstand kurz davor zu explodieren?

Durch das ganze Gewühl hindurch konnte ich im goldenen Licht der ersten Herbsttage den Eingang zur U-Bahn-Haltestelle Central Square erkennen. »Wie ist Ihre Haltung?«, fragte er mich.

»Zur Freiheit der Wissenschaft? Oder zur Bezahlung?«

»Bis jetzt haben Sie mich noch nicht in die Wüste geschickt«, sagte er. »Deshalb sprechen wir wohl über Letztere.«

»Hängt von der Höhe ab.«

Er nannte einen Betrag, der doppelt so hoch...