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Als das Leben unsere Träume fand - Roman

Luca Di Fulvio

 

Verlag Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2018

ISBN 9783732555727 , 765 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR

Für Firmen: Nutzung über Internet und Intranet (ab 2 Exemplaren) freigegeben

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1

Alcamo, Sizilien

»Bottana!«, zischte jemand.

Doch Rosetta Tricarico setzte ihren Weg durch die staubigen Gassen von Alcamo fort, ohne sich nach der Frau umzudrehen, die sie als Hure beschimpft hatte.

»Bottana svergognata!«, rief eine andere, von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidete alte Frau, deren Gesicht mit zahllosen Falten übersät und von der unbarmherzigen Sonne Siziliens gebräunt war.

Schamlose Hure, so hatte sie sie genannt. Aber auch das konnte Rosetta nichts anhaben, sie hastete unbeirrt weiter, barfuß, in ihrem luftigen mohnroten Kleid, dessen Saum um ihre Beine flatterte.

An einem Tisch unter dem schilfgedeckten Vorbau der Osteria saßen ein paar Männer, in Hemden mit speckigen Kragenrändern und dunklen Westen mit ausgebeulten Taschen, die coppola tief in die Stirn gezogen, und mit Bartstoppeln am Kinn. Sie alle verschlangen Rosetta wie eine Jagdbeute mit geradezu gierigen Blicken. Einer spuckte einen zähen Klumpen Schleim aus, dunkel vom Tabak.

»Wo willst du denn so eilig hin?«, höhnte der Wirt, während er sich die Hände an seiner Schürze abwischte.

Die Männer lachten spöttisch, doch Rosetta ging wortlos und mit erhobenem Haupt an ihnen vorbei.

Einer der Männer trank einen großen Schluck süßen Passito. »Ich hab gehört, heut Nacht sind die Wölfe aus den Bergen gekommen«, sagte er, und wieder lachten alle. »Zum Glück haben sie meine Herde verschont«, fuhr der Mann fort.

»Wölfe suchen halt nur Huren heim, brave Christenmenschen lassen sie in Ruhe«, warf der Wirt ein, und alle Männer nickten.

Rosetta blieb abrupt stehen. Sie ballte die Hände zu Fäusten, hielt den Männern aber den Rücken zugewandt.

»Hast du uns was zu sagen?«, fragte einer herausfordernd.

Rosetta zitterte vor Wut, antwortete aber nicht. Schließlich riss sie sich zusammen und setzte ihren Weg zur Kirche San Francesco d’Assisi fort. Dort stürmte sie wie eine Furie in das Pfarrhaus und baute sich vor dem Pfarrer auf.

»Wie könnt Ihr so etwas zulassen, Pater?«, brüllte sie. Ihr Gesicht war weiß vor Wut, ihre Haare, schwarz und glänzend wie das Gefieder eines Raben, fielen offen über ihre Schultern, ihre dunklen Augen, von dichten Wimpern umrahmt, glühten im Zorn wie zwei brennende Kohlestücke. »Wie kann ein Mann Gottes wie Ihr nur so tun, als wäre nichts geschehen?«

»Was meinst du?«, fragte Pater Cecè sichtlich verlegen.

»Das wisst Ihr sehr genau!«

»Beruhige dich …«

»Heute Nacht haben sie zehn meiner Schafe getötet!«

»Ach so … das … natürlich«, stammelte der Pfarrer. »Man sagt, das waren die Wölfe …«

»Wölfe schneiden Schafen nicht die Kehle durch!«

»Aber mein Kind … wie kannst du das sagen …«

»Wölfe fressen Schafe auf«, fuhr Rosetta fort. In ihrem Blick lag jetzt neben Wut auch Verzweiflung. »Sie fressen sie! Sie lassen sie nicht einfach liegen!« Wieder ballte Rosetta die Hände zu Fäusten, so fest, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten. »Aber das wisst Ihr sicher«, fügte sie hinzu. »Wie könnt Ihr, wie könnt Ihr nur …?«

Pater Cecè seufzte, er fühlte sich sichtlich unwohl unter Rosettas Blick. Als er sich abwandte, bemerkte er, dass die Haushälterin sie belauschte. »Verschwinde!«, fuhr er sie an und schloss die Tür. Dann holte er aus dem hinteren Teil des Raumes zwei Stühle, die er einander gegenüber aufstellte. Einen davon wies er Rosetta zu.

Rosetta trat auf ihn zu und sah ihn lange an, ehe sie sich schließlich setzte. »Wie könnt Ihr das nur zulassen?«, fragte sie noch einmal.

»Ich habe dich lange nicht mehr in der Kirche gesehen«, entgegnete der Pfarrer.

Rosetta lächelte bitter. »Na und? Wenn ich in die Kirche komme, helft Ihr mir dann?«

»Unser Herr wird dir helfen.«

»Und wie?«

»Er wird zu deinem Herzen sprechen und dir raten, was du tun sollst.«

Rosetta sprang auf. »Ihr seid doch auch bloß ein Knecht des Barons«, rief sie verächtlich.

Der Pfarrer stieß noch einmal einen tiefen Seufzer aus. Dann beugte er sich vor und nahm Rosettas Hand, doch sie schüttelte ihn ab.

»Setz dich wieder hin«, forderte Pater Cecè sie sanft auf.

Und Rosetta setzte sich.

»Du kämpfst jetzt schon über ein Jahr, meine Tochter. Seit dem Tod deines Vaters«, begann der Pfarrer. »Es ist an der Zeit, aufzugeben.«

»Niemals!«

»Aber sieh doch: Niemand kauft mehr von deiner Ernte, sie verfault auf dem Feld. Vor zwei Monaten ist gar die Hälfte davon verbrannt …«

Rosetta ließ den Blick zu ihrem rechten Unterarm wandern, der von einer Brandnarbe gezeichnet war.

»Und je länger dieser Streit zwischen dir und dem Baron dauert, desto seltsamer und trotziger wirst du.« Pater Cecè deutete auf ihr Kleid. »Sieh dich doch bloß an, sieh doch, was für ein Kleid du trägst …«

»Was ist daran auszusetzen?« Rosetta blickte den Pfarrer an. »Ich bin keine Witwe, also muss ich auch nicht Schwarz tragen. Der Rock reicht bis zu den Knöcheln, und die Brüste sind bedeckt.«

»Hör dir doch zu, wie du redest«, seufzte der Pfarrer.

»Wie eine bottana«, höhnte Rosetta und sah ihm fest in die Augen. »Aber ich bin keine Hure. Und das wisst Ihr.«

»Ja, das weiß ich.«

»Alle schimpfen mich eine Hure, nur weil ich mich nicht beuge …«

»Das verstehst du nicht!«

»O doch, ich verstehe sehr gut, um was es geht!« Wieder sprang Rosetta auf. »Der Baron besitzt Hunderte Hektar Land, aber er hat sich in den Kopf gesetzt, auch noch meine vier Hektar zu bekommen, weil dort der Bach verläuft. Dann würde ihm alles Wasser gehören. Aber dieses Land gehört mir! Meine Familie schuftet dort seit drei Generationen, und genau das will ich auch, das ist alles. Die Leute aus dem Dorf sollten mir helfen, aber alle haben Angst vor dem Baron. Sie sind allesamt Feiglinge, elende Feiglinge.«

»Du verstehst es nicht«, sagte Pater Cecè. »Natürlich fürchten die Leute den Baron, aber glaubst du wirklich, dass das der Grund ist, weshalb sie auf dich losgehen? Du irrst dich, du hast nichts verstanden. Für sie bist du noch viel gefährlicher als der Baron … Und in mancherlei Hinsicht muss ich ihnen sogar recht geben. Du bist eine Frau, Rosetta.«

»Ja und?«

»Was wäre, wenn andere Frauen sich auch so benehmen würden wie du?«, ereiferte sich Pater Cecè. »Das ist gegen die Natur! Gott selbst verdammt es!«

»Ich bin genauso viel wert wie ein Mann!«

»Genau das verdammt Gott!« Der Pfarrer packte sie bei den Schultern. »Eine Frau muss …«

»Diese Leier kenne ich«, unterbrach Rosetta ihn und schüttelte seine Hände ab. »Eine Frau muss heiraten, Kinder kriegen und die Schläge ihres Ehemannes ohne Gegenwehr hinnehmen, ganz wie eine brave Magd.«

»Wie kannst du das heilige Sakrament der Ehe so in den Schmutz ziehen?«

»Mein Großvater hat seine Frau geschlagen. Bis aufs Blut!« Rosettas Nasenlöcher bebten vor Wut. »Und mein Vater ebenso meine Mutter. Er hat ihr das ganze Leben lang vorgeworfen, ihm nur eine Tochter geboren zu haben. Wenn er betrunken war, schlug er sie mit dem Gürtel. Und dann schlug er auch mich und sagte, ich wäre nur für eine Sache gut: für einen Mann die Beine breitzumachen.« Rosetta ballte die Fäuste, die Erinnerung an diese Zeit füllte ihre Augen mit Tränen der Wut und des Schmerzes. »Ist das Eure von Gott geheiligte Ehe? Dann hört mir genau zu: Ich werde niemandem erlauben, mich zu schlagen wie ein Stück Vieh!«

»Dann verkaufe.«

»Nein.«

»Ich mache mir Sorgen um dich …«

»Macht Euch lieber Sorgen um Eure Seele, wenn Ihr den Bauern Absolution erteilt, die meine Schafe umgebracht haben.« Rosetta starrte den Pfarrer wütend an. »Ihr habt meinen Vater doch von seinen Sünden losgesprochen, oder? Hat er Euch gesagt, dass er mir mit dem Gürtel die Haut vom Rücken geprügelt hat? Dass er mir mit den Fäusten ins Gesicht geschlagen hat? Habt Ihr die Blutergüsse in meinem Gesicht nicht gesehen? Nicht die im Gesicht meiner Mutter? Habt Ihr unsere aufgeplatzten Lippen nicht gesehen, die selbst beim Beten des Ave Maria bluteten? Sie ist aus Angst, Leid und Trauer gestorben.« Rosetta hielt kurz inne. »Und Ihr habt ihn losgesprochen«, zischte sie schließlich voller Hass. »Behaltet Euren Gott, wenn das alles ist, was er Euch rät.«

»Versündige dich nicht! Er ist auch dein Gott!«

»Nein!«, rief Rosetta. »Mein Gott will Gerechtigkeit!« Sie lief zur Tür und riss sie auf. Und sah sich der Haushälterin gegenüber, die am Schlüsselloch gelauscht hatte. Rosetta stieß sie beiseite und verließ das Pfarrhaus.

Die Haushälterin bekreuzigte sich dreimal, als wäre sie dem Teufel höchstpersönlich begegnet, und murmelte: »Bottana

Rosetta trat ins Freie und wurde sogleich vom grellen Schein der Sonne geblendet. Vor der Kirche hatte sich eine kleine Gruppe Neugieriger versammelt, die sie schweigend anstarrten und ihr den Weg in die Gasse versperrten.

Rosetta lief mit klopfendem Herzen auf die bedrohliche Menge zu, obwohl sie am liebsten geflohen wäre. Ihr Atem ging schnell, das Blut hämmerte in ihren Schläfen, während ein leichter Windhauch ihre offenen schwarzen Haare zerzauste. Einen Schritt von dem ersten Dorfbewohner entfernt blieb sie stehen. Sie presste ihre Lippen zusammen und fixierte ihn mit...