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Praxis der psychodynamischen Psychotherapie - Grundlagen - Modelle - Konzepte

Praxis der psychodynamischen Psychotherapie - Grundlagen - Modelle - Konzepte

Annegret Boll-Klatt, Mathias Kohrs

 

Verlag Schattauer, 2018

ISBN 9783608191325 , 660 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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67,99 EUR

Für Firmen: Nutzung über Internet und Intranet (ab 2 Exemplaren) freigegeben

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Das Unbewusste – brauchen wir eine Identität? Ein Prolog


Mathias Kohrs und Annegret Boll-Klatt

Das vorliegende Buchprojekt befasste sich von Beginn der ersten Auflage an mit dem Versuch, die inzwischen fast unüberschaubare Komplexität, Widersprüchlichkeit und Reichhaltigkeit psychodynamischer Konzepte, Modelle, Theorien und Behandlungsformen im jeweiligen historischen Zusammenhang zu kontextualisieren, um sie Studierenden und Ausbildungskandidaten, aber auch erfahrenen Praktikern zugänglich und nutzbar zu machen. Schon der Begriff psychodynamisch ist strittig; seit 1980 wird der Begriff der Psychodynamischen Psychotherapie in der amerikanischen Literatur verwendet, wenn über kurze, meist auf spezielle Störungsbilder ausgerichtete Behandlungen berichtet wurde (z. B. Davanloo 2001; Shedler 2011). Heute gilt er als Sammelbegriff für aus analytischen Ursprüngen entstandene, vielfältig weiterentwickelte Behandlungsformen.

Psychodynamische Psychotherapie ist dabei ein vieldeutiges Paradigma, ohne einheitliche Theorie, das von verschiedenen Schulen unterschiedlich verwendet und interpretiert wird. Heute ist es zunehmend üblich, nicht mehr nur von den vier klassischen Schulen (Triebtheorie, Ich-Psychologie, Objektbeziehungstheorie und Selbstpsychologie) auszugehen, sondern den Intersubjektivismus als fünfte Schule einzubeziehen. Im Format einer fiktiven Diskussion der verschiedenen Schulen veranschaulicht Mertens (2010, 2011a) diese Heterogenität und Diversifizierungen im Hinblick auf die Persönlichkeits- sowie die Krankheits- und Behandlungstheorie der einzelnen Schulen. Während die Psychodynamische Psychotherapie in der Definition des Wissenschaftlichen Beirates der Bundesregierung von 2004 als ein Verfahren mit zwei Methoden, nämlich der tiefenpsychologisch fundierten und der psychoanalytischen Psychotherapie, erscheint, definiert die Psychotherapie-Richtlinie weiterhin zwei Verfahren und trennt die analytische von der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie. Heute setzt sich die Bezeichnung Psychodynamische Psychotherapie jedoch international und insbesondere in Deutschland zunehmend als Oberbegriff für die psychoanalytisch begründeten Verfahren durch (vgl. auch Richter im Geleitwort zur 1. Auflage dieses Buchs). Darüber hinaus bildet dieser Begriff eine Klammer, die auch die überaus diversifizierten psychoanalytischen Schulen, Theoriegebäude usw. noch zusammenhält. Ermann und Körner zeigen auf, dass international der Begriff »psychodynamisch« den älteren Begriff »psychoanalytisch« sogar zunehmend verdrängt, sobald »[…] Phänomene unter der Perspektive des Unbewussten betrachtet werden« (Ermann & Körner 2017, S. 234).

»Wie kann ich mich in einem Wissensgebäude orientieren, welches eine Unzahl von Zimmern aufweist, vielfältige Anbauten, Umbauten, Renovierungen und stillgelegte Flügel? Neben diesem Gebäude finden wir dann noch Gartenhäuser und Neubauten, deren Bauherren die ehemalige Freudsche Villa für ein Museum halten oder sie gar abreißen wollen. Schließlich ist der ganze Gebäudekomplex bereits über 100 Jahre alt, und inzwischen haben viele herausragende Forscher daran mitgearbeitet.« (Focke 2012, S. 25)

Was hat es nun aber inhaltlich mit dieser Klammer auf sich, was bedeutet psychodynamisch eigentlich? Wir betreten hier die berühmt-berüchtigte »Common ground«-Debatte (vgl. z. B. Erlich et al. 2003; Thomä 2004; Tuckett 2007; Zwiebel 2013), die wir in der 1. Auflage umgangen haben, um angesichts der Komplexität unserer Aufgabe nicht zu verzagen. Worum geht es? Ausgehend von der Frage »Was macht einen guten Psychoanalytiker aus?« (Zwiebel 2013) geht es um die Suche nach der Gemeinsamkeit aller psychoanalytisch begründeten Schulen, Verfahren und Theorien, so es denn noch eine oder sogar mehrere gibt.

Die Fragestellung ist keineswegs rein theoretischer oder akademischer Natur. Sie berührt sehr zentrale Konsequenzen für die Aus- und Weiterbildung, wenn etwa angesichts der aktuellen Novellierung des Psychotherapeuten-Gesetzes mit Planung einer Direktausbildung darüber nachgedacht wird, was die Studierenden lernen sollen, um sich für eine Approbation in psychologischer Psychotherapie zu qualifizieren. Braucht es noch die Triebtheorie? Was genau ist eine Objektbeziehung? Gibt es psychodynamische Psychotherapie ohne Gegenübertragungsanalyse? Was genau ist eine korrigierende emotionale Beziehungserfahrung? Natürlich spielt auch die berufspolitische Dimension eine wichtige Rolle; so ist es wichtig, gegenüber Kostenträgern und auch im Wettbewerb mit der Verhaltenstherapie, die Grundlagen unseres Verfahrens zu benennen und die Essentials unseres Tuns zu explizieren. Aber da zeigt sich schon das grundlegende Problem: Wir begegnen hier der Spezifität des Gegenstandes, mit dem wir uns befassen – seiner grundlegenden Unschärfe, die nie vollständig auszuloten, gewissermaßen nicht zu quadrieren oder zu digitalisieren ist. Diese Besonderheit lässt sich nun unserer Erfahrung nach an keinem Eckpfeiler des psychoanalytischen Theoriegebäudes so sehr illustrieren und herleiten wie an und von Freuds Konzept des Unbewussten.

Freud hat die Idee, das Konzept des Unbewussten keineswegs erfunden oder entdeckt, sich jedoch auf eine einzigartige Weise damit auseinandergesetzt, es für die therapeutische Behandlung bestimmter Patienten nutzbar und in erkenntnistheoretischer und kultureller Hinsicht zugänglich gemacht. Wie Gödde (2005) zeigt, hat Freud zeitlebens an seiner Vorstellung vom Unbewussten gearbeitet und diese immer weiterentwickelt, verändert, jedoch stets daran festgehalten, dass im Unbewussten das Fundament allen psychischen Lebens bestehe: »Das Unbewußte ist das real Psychische […]« (Freud 1900 [1990], S. 617).

Warum ist das so bedeutsam?


Wir müssen uns vor Augen halten, dass große Teile des ursprünglichen psychoanalytischen Theoriegebäudes überarbeitet und diversifiziert wurden, bis hin zur Bildung neuer Schulen, Denk-, manchmal möchte man sagen: Glaubensrichtungen. Das hat u. a. und vielleicht vor allem damit zu tun, dass psychoanalytische Therapien im Laufe der letzten Jahrzehnte zur Behandlung bestimmter Patientengruppen spezialisiert wurden, für welche die klassische Psychoanalyse ursprünglich nie gedacht war. Genannt seien vor allem die schweren Persönlichkeitsstörungen, die früher als nicht analysierbar galten, ebenso bestimmte psychotische Patienten oder solche mit schweren Mentalisierungsstörungen oder ausgeprägter Trauma-assoziierter dissoziativer Symptomatik.

Bei allem Fortschritt entstand dabei unserer Erfahrung nach auch ein zunehmendes Problem, das sich vor allem in den langjährigen Psychotherapieausbildungen der jungen Psychologen und Ärzte zeigt. Die Vielzahl an modernen störungsorientierten Behandlungskonzeptionen vermittelt neben massiver theoretischer Konfusion und Überforderung doch auch oft die Illusion einer generellen Machbarkeit im Sinne eines »Was mache ich, wenn […]?«. Im Kontext von Behandlungen, die sich auf bewusst wahrnehmbare Beeinträchtigungen der Funktionsfähigkeit der psychischen Struktur und damit auf Fähigkeiten und Fertigkeiten im Umgang mit sich selbst und anderen beziehen, wie dies in der Strukturbezogenen Therapie (Rudolf 2012) konzeptualisiert wurde, geraten nicht nur Ausbildungskandidaten in Versuchung, in etwas abzugleiten, was man im ungünstigsten Fall als schlechte Verhaltenstherapie bezeichnen könnte. Genauso kritisch sind Äußerungen einzuschätzen, die darauf abheben, dass ein Patient vor einer »richtigen Therapie« erst noch sein Mentalisierungsdefizit aufarbeiten müsse, so, als ob man erst einmal Vokabeln lernen müsse, bevor man zum Unterricht zugelassen wird.

Hier besteht nach Einschätzung der Autoren die sehr ernst zu nehmende Gefahr, das Spezifikum der psychodynamischen Therapie aufzugeben: die immer wieder paradoxe, oft schwer erträgliche und letztlich nicht abzuschließende Auseinandersetzung mit dem Unbewussten im Prozess des Patienten wie im eigenen Selbst und Lebensprozess.

Das Unbewusste – das unverzichtbare Paradoxon der psychodynamischen Psychotherapie


Warum betonen wir die Bedeutung des Konzepts des Unbewussten so sehr?

Freud wundert sich bereits 1895: »[…] und es berührt mich selbst noch eigentümlich, daß...