dummies
 

Suchen und Finden

Titel

Autor/Verlag

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Die Nacht, in der alles

Die Nacht, in der alles

Marisa Wendt

 

Verlag epubli, 2018

ISBN 9783746747965 , 66 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz frei

Geräte

4,49 EUR


 

SZENE 1

Das verkorkste Leben der jungen Mädchen Miriam H. und Hannah W.

 

Hannah spielt Miriam.

MIRIAM

Damals. Damals hatte ich immer so enge Röhrenjeans an, es gab bei H&M ja keine anderen Hosen für nur zehn Euro, und Nietengürtel. Sweater dazu und irgendein Top drunter. Turnschuhe oder so billige Chuck-Imitate. Mir ist Mode scheißegal gewesen, und deshalb konnte ich mit meiner Armut auch so gut umgehen. In Fernsehdokus über Hartz-IV-Kinder hört man die Protagonisten ja immer jammern, dass sie sich keine tollen Klamotten kaufen können und sich deshalb ausgegrenzt fühlen. Das war nie mein Problem. Ich hatte eh nur so Punk-Freunde, da hat mich niemand ausgegrenzt. Lag aber vielleicht auch daran, dass die Freundschaften so eng nicht waren. Wir haben halt zusammen abgehangen, im Park oder im Jugendzentrum oder in Clubs, keine Zukunft gehabt mit unseren Mittelschulabschlüssen und ab und zu ein Foto davon auf Facebook gestellt.

Ich hatte auch keine Lust, so richtig enge Freunde zu haben. Mit Kumpels konnte man Probleme super verdrängen, mit Freunden hingegen musste man Probleme besprechen. Und wir hatten doch sowieso alle die gleichen Probleme, es lohnte ja gar nicht, darauf Aufmerksamkeit zu verschwenden. Ich war ein Outlaw am Rande der Gesellschaft, eine harte Braut, hab mich oft geprügelt, konnte jede Droge nehmen, ohne davon abhängig zu werden, und hatte ein so eiskaltes Pokerface, das war fast schon unheimlich.

MIRIAM

Stopp! Stopp! Das ist voll unglaubwürdig! Das ist wie'n Märchen. Romantisierter Müll. Aschenputtel-Müll. Oder nee: Vorstadtkrokodile-Müll. Auf jeden Fall Müll.

HANNAH

Manno, was soll das denn? Du hast doch unbedingt gewollt, dass ich das spiele! Das ist unfair, wenn du deswegen jetzt beleidigt bist!

MIRIAM

Ey, ich bin nicht beleidigt.

HANNAH

Und warum meckerst du dann rum?

MIRIAM

Weiß nicht. Ist eben fake. Also, irgendwie ist es ja schon geil, wie du mich gesehen hast. Also, damals, als wir uns das erste Mal begegnet sind. Voll die abgeklärte Braut. Aber das bin doch nicht Ich. – Los, von vorne.

HANNAH

Nein, das ist doch Quatsch. Du musst das selber spielen, Miriam. Die Idee mit dem Rollentausch klingt zwar gut, aber das versteht doch kein Mensch. Das können wir so nicht machen.

MIRIAM

Ach was, die verstehen das alle. Unser ganzes Publikum hier hat das verstanden.

HANNAH

Das glaube ich nicht. (zum Publikum) Habt ihr das verstanden? Habt ihr verstanden, was ich gerade gemacht habe? – Siehst du, das hat niemand verstanden.

MIRIAM

Okay, dann unterbrechen wir jetzt eben kurz und erklären das.

(zum Publikum) Also, das gerade eben sollte ich sein. Miriam. Gespielt hat mich aber die Hannah. Also war das mein Ich in Hannahs Augen. In Wirklichkeit bin ja ich ich, nur dass ich ein paar Jahre älter bin als das Ich, was Hannah gerade vorgespielt hat. Oh, das hab ich noch gar nicht gesagt – das hier, das ist die Hannah. Und ich bin die Miriam. Und das, was Hannah da gespielt hat, war dann eben die fünfzehnjährige Miriam, wie die fünfzehnjährige Hannah sie gesehen hat. Eine knallharte Braut.

Geil. Aber voll unglaubwürdig.

HANNAH

Was Miriam gerade zu sagen versucht: Sie – ist Miriam. Ich – bin Hannah. Und wir machen hier ein Theaterstück mit dem Titel „Die Nacht, in der alles“, und in dem Stück erzählen wir, was wir zusammen erlebt haben. In einer Nacht, als wir beide fünfzehn waren. Aber natürlich mit Vorgeschichte, wer wir sind, wie wir uns kennengelernt haben, wie es überhaupt zu dieser Nacht gekommen ist, was –

MIRIAM

Und ihr – seid unser Publikum.

HANNAH

Miriam, das weiß unser Publikum auch selber. – Jedenfalls dachten wir, es wäre eine gute Idee, das mit vertauschten Rollen zu machen. Ich spiele Miriam und Miriam spielt mich. Jetzt sehen wir aber, dass diese Idee blöd ist, weil keine von uns die andere glaubwürdig darstellen kann.

MIRIAM

Ach was. Ich bin eine voll gute Hannah. Wir stellen das einfach um und ich mache den Anfang. Also –

Miriam spielt Hannah.

HANNAH

Damals. Damals hatte ich immer so halbhohe Schuhe an, mit denen man nichts falsch machen konnte. In meiner Freizeit hab ich Gedichte geschrieben. Ich hatte so einen indianischen Spruch an meiner Zimmertür kleben: Erst wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fluss vergiftet, der letzte Fisch gefangen ist, werdet ihr feststellen, dass man Geld nicht essen kann. Der Spruch klebte da also so schön an meiner verschnörkelten, zwei Meter fünfzig hohen Zimmertür in unserer schicken Altbauvilla, aber den hat sowieso nie jemand außer der Putzfrau gelesen. Meine Haare waren jeden Tag so perfekt frisiert, als hätte ich ne eigene Friseuse, und extrem klug war ich auch. Man wird vielleicht auch einfach automatisch klug, wenn man jeden Tag lernt und lernt und lernt, weil man ja nicht aus dem Haus darf, wenn man vorher nicht x Millionen Stunden lang am Schreibtisch gesessen hat. Außer Montag und Donnerstag, denn Montag und Donnerstag waren ja Klavierstunde und Tennisunterricht. Auf meine Klugheit hab ich mir aber natürlich nie was eingebildet. Auf meine Frisur auch nicht. Man hatte mir ja beigebracht, bescheiden zu sein und wohlerzogen. Ich war so durch und durch angenehm, dass es für einen Teenager echt unheimlich war. Der Indianerspruch an der Tür war auch das einzig Rebellische, was ich mich jemals getraut hatte.

(als Miriam) Und? Wie war ich?

HANNAH

Perfekt. Authentisch. So echt, das es weh tut. Du hast nur vergessen, dass ich kitschige Prinzessinnenromane gelesen habe, die ich immer unter dem Bett versteckt habe, damit meine Eltern das nichts sehen, weil ich ja eigentlich wusste, dass das schlechte Literatur ist. Und wie ich vor jeder Klassenarbeit gezittert habe, weil alles schlechter als Zwei zu schlecht war. Ich hab mit meinen Freundinnen außerdem ständig über Fernsehserien diskutiert. Und wir haben immer gelästert. Und manchmal hatte ich deswegen ein schlechtes Gewissen, weil ich ja wusste, dass sowas nicht fair ist, aber oft sind mir auch keine anderen Gesprächsthemen eingefallen. Und ich hatte ja immer Angst, dass die mich nicht mehr mögen.

Und ich hab meinen Körper gehasst. Da war zu viel Bauch und zu dicke Oberschenkel und zu kurze Beine und ein zu breites Kreuz und hässliche, hässliche Arme.

MIRIAM

Meinen Körper hab ich auch nicht gemocht.

HANNAH

Du? Du warst doch so hübsch. Und so dünn.

MIRIAM

Du. Du hast mich ja auch total romantisiert gesehen. Haben wir ja gerade eben schon geklärt. „Mir ist Mode scheißegal gewesen.“ Ja, aber eben auch nur, weil ich dachte, da kann ich eh nichts mit gewinnen. Bei dem Körper. Die Pubertät war halt voll an mir vorbeigegangen. Keine Brüste, kein Hintern. Da helfen auch die besten Klamotten nichts. Und manchmal hab ich mich drüber geärgert, wenn ich vor dem Spiegel stand, und dann hab ich gedacht: Das ist vielleicht der Grund, warum die Jungs mich alle nicht als feste Freundin wollen. Ich hab mich manchmal echt einsam gefühlt. Freunde hatte ich ja wirklich auch keine, eben nur Kumpels. Jeder ist sich selbst der nächste, klar, wusste ich – aber ich hab was vermisst.

Und außerdem hab ich mir ständig Sorgen um meine kleine Schwester Janine gemacht. Und je besorgter ich war, desto mehr hab ich sie angeschrien, das war schon echt schwach. Und abends hab ich immer nicht schlafen können, wenn meine Mutter noch nicht zuhause war und ich da saß: Mit ner Neunjährigen, zwei Kleinkindern, meinen Hausaufgaben und einem fetten Haufen Verantwortung. Kam gar nicht so selten vor. Und ich hab's ja gewusst, so ist die Welt, komm drauf klar oder lass es bleiben – aber an diesen Abenden lag ich dann im Bett und hatte ganz tief in mir drin das Gefühl, dass die Welt aber nicht so sein sollte. Deswegen hab ich wahrscheinlich auch immer so auf Janine aufpassen wollen, auf Nini. Die war eigentlich viel zu gut für diese Familie. Und ich wollte nicht, dass sie auch noch kaputt geht.

HANNAH

Und das alles verborgen hinter deinem eiskalten Pokerface.

MIRIAM

Haben ja immer nur alle gedacht, dass ich so eiskalt bin. So eine Bitch – so hat mich Kilian doch immer genannt, oder? Irgendwie ... das hat auch weh getan.

HANNAH

Tut mir leid.

Pause.

MIRIAM

Ich glaube, du hast Recht. Ich kann mich gar nicht so gut in dich reinversetzen, wie ich gedacht hab. Und du dich wohl auch nicht in mich. Machen wir das halt so, wie du vorgeschlagen hast. Jede spielt sich selbst. Wir halten das dann mal als Szene 1 fest, ja?

HANNAH

In Ordnung. (zum Publikum) Danke, dass ihr zuschaut. Es hilft wirklich weiter, das vor Publikum zu machen. Wir sind ja auch noch mitten im Arbeitsprozess ... im Theater ist immer alles Mögliche im Arbeitsprozess.

MIRIAM

Das haben wir auch das erste Mal gehört, als wir fünfzehn waren. Kennengelernt haben wir uns nämlich in einer Theatergruppe, Hannah und ich.

HANNAH

Aber das Kennenlernen kommt erst in Szene 3! Szene 2 ist: Der Tag, an dem zwei verirrte Seelen auf die Theaterbühne fanden.

MIRIAM

Stimmt. Voll der...