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Von Zeit und Macht - Herrschaft und Geschichtsbild vom Großen Kurfürsten bis zu den Nationalsozialisten

Christopher Clark

 

Verlag Deutsche Verlags-Anstalt, 2018

ISBN 9783641231637 , 320 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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14,99 EUR


 

EINLEITUNG


Wie die Schwerkraft das Licht, so beugt die Macht die Zeit. Dieses Buch zeigt, was geschieht, wenn zeitliches Bewusstsein durch die Linse der Macht betrachtet wird. Es befasst sich mit den Formen der Geschichtlichkeit, welche die Machthaber sich aneigneten und ihrerseits artikulierten. Mit Geschichtlichkeit oder »Historizität« meine ich keineswegs eine Lehre oder Theorie über den Sinn der Geschichtsschreibung, geschweige denn eine bestimmte Schule der historiographischen Praxis. Vielmehr benutze ich den Begriff in der von François Hartog beschriebenen Bedeutung, um eine Reihe von Annahmen zum Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft untereinander zu bezeichnen.1 Diese Annahmen können explizit in sprachlicher Form zum Ausdruck kommen, sie können sich aber auch über kulturelle Entscheidungen, öffentliche Rituale oder über die Verwendung von bestimmten Argumenten oder Metaphern und anderen bildlichen Sprachmitteln äußern, die eine »zeitbezogene Wahrnehmungsstruktur« implizieren, ohne sich offen temporaler Kategorien zu bedienen.2 Sie können implizit in den Argumenten enthalten sein, die vorgebracht werden, um politisches Handeln zu rechtfertigen oder zu kritisieren.3 Welche Formen sie auch annehmen, die für Kulturen oder Herrschaftsformen charakteristischen Geschichtlichkeiten werden durch »die Konstitution temporaler Modalitäten und die Selektion dessen [bestimmt], was in ihnen relevant ist«.4 Daraus folgt, dass die Konfiguration dieser Beziehung wiederum ein bestimmtes Zeitgefühl vermittelt, das eine intuitiv erfasste Form oder Beschaffenheit der Zeit, eine »Zeitlandschaft« besitzt. Wie diese aussieht, hängt davon ab, welche Teile der Vergangenheit als nahe und eng mit der Gegenwart verbunden empfunden und welche als fremd und fern wahrgenommen werden.5

Die vorliegende Studie nimmt vier Momente in den Blick. Sie beginnt mit dem Streit zwischen Friedrich Wilhelm von Brandenburg-Preußen (1620–1688), dem Großen Kurfürsten, und seinen Landständen nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges. Dabei wird gefragt, inwiefern diese Zwistigkeiten mit absolut entgegengesetzten Zeitlichkeiten zu tun hatten; ferner wird deren Einfluss auf die im Entstehen begriffene Geschichtsschreibung Brandenburg-Preußens zurückverfolgt. Die Herrschaft des Kurfürsten war, so meine These, davon gekennzeichnet, dass die Gegenwart als prekäre Schwelle zwischen einer durch katastrophale Gewalt verheerten Vergangenheit und einer ungewissen Zukunft empfunden wurde. Ein Hauptanliegen des Souveräns galt dabei der Befreiung des Staates aus der vielfachen Verstrickung mit der Tradition, um frei unter den verschiedenen Optionen für die Zukunft wählen zu können.

Das zweite Kapitel widmet sich den historischen Schriften Friedrichs II., des einzigen preußischen Monarchen, der eine Geschichte seiner eigenen Ländereien schrieb. Demnach nahm dieser König ganz bewusst Abstand von der konfliktbeladenen Sichtweise des Staates, die am Hof seines Urgroßvaters, des Großen Kurfürsten, gepflegt worden war. Und in eben dieser Distanzierung zeigten sich sowohl die veränderte Konstellation der gesellschaftlichen Macht, auf die sich der preußische Thron stützte, als auch das idiosynkratische Verständnis Friedrichs von seinem eigenen Platz in der Geschichte. Anstelle der nach vorne orientierten Geschichtlichkeit des Großen Kurfürsten erkannte Friedrich, so meine These, nach dem Westfälischen Frieden einen Stillstand oder eine Stasis. Damit machte er sich eine neoklassische Zeitlichkeit des Status quo zu eigen, in der Motive der Zeitlosigkeit und der zyklischen Wiederholung vorherrschten und der Staat nicht mehr Motor des historischen Wandels, sondern eine historisch unspezifische Tatsache und logische Notwendigkeit war.

Das dritte Kapitel untersucht die Geschichtlichkeit Bismarcks, wie sie sich in seinen politischen Argumenten, seiner Rhetorik und seinen Methoden äußerte. Für Bismarck war der Staatsmann ein vom Strom der Geschichte getriebener Entscheidungsträger, dessen Aufgabe darin bestand, das Wechselspiel der von der Revolution von 1848 entfesselten Kräfte zu steuern, während er gleichzeitig die privilegierten Strukturen und die Prärogative des monarchischen Staates bewahrte und schützte, weil ohne diese seiner Meinung nach der Gang der Ereignisse im nackten Chaos zu versinken drohte. Demnach war Bismarcks Geschichtlichkeit zerrissen von einem Spannungsverhältnis zwischen seinem Engagement für den zeitlosen Fortbestand des Staates und den Wechselfällen der Politik und des öffentlichen Lebens. Der Zusammenbruch des von Bismarck geschaffenen Systems im Jahr 1918 zog eine Krise im historischen Bewusstsein nach sich, weil damit eine Form der Staatsmacht zerstört wurde, die zum Brennpunkt und Garanten des historischen Denkens und Bewusstseins geworden war.

Zu den Erben dieser Krise zählten, wie im vierten Kapitel ausgeführt wird, die Nationalsozialisten, die einen radikalen Bruch mit der Vorstellung, Geschichte sei eine endlose »Wiederholung des Neuen«, in die Wege leiteten. Hatte Bismarcks Historizität auf der Annahme gegründet, dass Geschichte eine komplex strukturierte, vorwärtsdrängende Abfolge ständig neuer und nicht vorherbestimmter Situationen sei, stützten die Nazis die radikalsten Ansprüche ihres Regimes auf eine tiefe Identität zwischen der Gegenwart, einer fernen Vergangenheit und einer fernen Zukunft. Das Ergebnis war ein Geschichtlichkeitsregime, das es in Preußen bzw. Deutschland noch nie gegeben hatte, das sich aber zugleich deutlich von den damaligen totalitären Experimenten der italienisch-faschistischen und sowjetisch-kommunistischen Systeme unterschied.

Ziel dieser Studie ist es somit, das in François Hartogs Régimes d’historicité verfolgte Unterfangen umzukehren und stattdessen die Geschichtlichkeit von (einer kleinen Auswahl an) Regimen auszuloten. Zu diesem Zweck könnte man die Art und Weise untersuchen, wie offizielle staatliche Strukturen – Ministerien, militärische Oberkommandos, kurfürstliche und königliche Höfe und Bürokratien – die Zeit strukturierten, wie sie sich selbst in der Geschichte verorteten und wie sie sich die Zukunft vorstellten, doch damit würde man der Frage ausweichen, ob sich der Begriff »Staat« überhaupt eignet, um etwas zu bezeichnen, das über den gesamten Zeitraum, den dieses Buch abdeckt, in der gleichen Bedeutung vorhanden war. Ich habe einen anderen Ansatz gewählt. Mich interessiert in erster Linie, wie diejenigen, die Macht ausübten, ihr Auftreten mit Argumenten und Verhaltensmustern rechtfertigten, die eine ganz spezifische temporale Signatur trugen. In welchem Verhältnis diese Träger der Macht zu den formalen Regierungsstrukturen standen, war von Fall zu Fall unterschiedlich. Der Große Kurfürst übte seine Macht aus dem Innern einer Exekutivstruktur aus, die er nach und nach und weitgehend improvisiert während seiner langen Herrschaft um sich herum aufbaute. Die Herrschaft Friedrichs II. hingegen war von einer drastischen Personalisierung der Macht und von der Semi-Distanzierung des Monarchen von vielen Strukturen geprägt, in denen staatliche Autorität formal angesiedelt war. Bismarck verortete sich in dem unruhigen Raum zwischen der preußisch-deutschen, monarchischen Exekutive und den unberechenbaren Kräften, die in einer postrevolutionären öffentlichen Sphäre am Werk waren. Und die Führungsriege der Nationalsozialisten war geradezu die Nemesis des bürokratischen Staatsaufbaus – eine vehemente Verleugnung des Staates als Vehikel und Ziel des historischen Strebens stand im Zentrum der NS-Geschichtlichkeit.

Die zeitliche Wende in der Geschichtswissenschaft


Zeit – oder genauer die Vielfalt zeitlicher Ordnungen – ist keineswegs ein neues Thema in der historischen Forschung. Heutzutage ist allgemein bekannt, dass Zeit keine neutrale, universelle Substanz ist, in deren Leere sich etwas, das »Geschichte« genannt wird, abspielt, sondern ein bedingtes, kulturelles Konstrukt, dessen Form, Struktur und Konsistenz vielfach variierten. Diese Erkenntnis hat im Laufe der vergangenen 15 Jahre ein so lebendiges und vielfältiges Forschungsfeld entstehen lassen, dass man von einer »zeitlichen Wende« (temporal turn) in der Geschichtswissenschaft sprechen kann, einer Verschiebung der Sensibilitäten, die durchaus vergleichbar mit den Wenden der 1980er und 1990er Jahre ist – eine jener Neustrukturierungen der Aufmerksamkeit, durch die sich die Disziplin der Geschichtswissenschaft immer wieder selbst erneuert.6

Die zeitliche Wende in heutigen historischen Studien kann auf renommierte philosophische und theoretische Vorläufer verweisen. Der französische Philosoph Henri Bergson vertrat schon in seiner Dissertation von 1889 die Auffassung, dass Zeit als Dimension des menschlichen Bewusstseins nicht homogen, sondern »qualitativ vielfältig« sei; Émile Durkheims Elementare Formen des religiösen Lebens (orig. 1912) legte das Fundament einer Soziologie der Zeit als etwas, das kollektiv erfahren und gesellschaftlich konstruiert wird; in Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen (orig. 1925) wandte Maurice Halbwachs Durkheims Erkenntnisse auf die gesellschaftliche Erzeugung von Erinnerung an; zwei Jahre später stellte Martin Heidegger in Sein und Zeit die These auf, dass sich die »Seinsverfassung des Daseins auf dem Grunde der Zeitlichkeit« nachweisen lasse; und seit dem Zweiten Weltkrieg haben Literaturtheoretiker und insbesondere Narratologen die temporalen Strukturen von Texten eingehend...