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Pflicht und Ehre - Thriller

Tom Clancy

 

Verlag Heyne, 2019

ISBN 9783641240356 , 416 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

2

Alexandria, Virginia

Am nächsten Tag wachte Jack schon vor der Morgendämmerung auf. Er hatte sehr unruhig geschlafen. Sogar im Halbschlaf war ihm immer wieder der Zwischenfall durch den Kopf gegangen, wie ein Film, der ständig wiederholt wurde, halb Traum, halb Realität, aber immer endete er auf dieselbe Weise: Der Angreifer starb, und er, Jack, fühlte sich, als hätte er … Ja, was denn nun? Als hätte er etwas Unrechtes getan?

Er stellte sich unter die Dusche, vor allem, um seine Wunden noch gründlicher zu reinigen, und blieb so lange unter dem eiskalten Wasser, bis er es nicht mehr aushielt. Dann zog er sich an, warf die Klamotten, die er gestern getragen hatte, in die Maschine, nicht ohne vorher ein wenig Bleichmittel draufzuschütten, damit die Flecken auch rausgingen.

In der Küche machte er sich zunächst einen doppelten Espresso, trank ihn in einem Zug aus, schaltete dann die Kaffeemaschine auf Normal und ging zur Spüle, in die er das Messer des Angreifers gelegt hatte. Er legte das Messer in den Geschirrspüler und wählte das Intensivprogramm. Dann ging er ins Wohnzimmer, schaltete den Fernseher ein und zappte zu den Lokalnachrichten. So früh am Morgen, Stunden, bevor die regulären Frühstücksnachrichten begannen, wiederholten sie meistens die Berichte vom Vorabend oder der vergangenen Nacht.

Er musste nicht lange suchen.

»Wie die Polizei berichtet, wurde gestern kurz nach zwanzig Uhr ein Mann von einem Truck erfasst und getötet. Der Vorfall ereignete sich am North Kings Highway in der Nähe der Telegraph Road. Das Unfallopfer konnte noch nicht identifiziert werden. Sollten Sie zur Klärung seiner Identität beitragen können, bittet die Polizei um Anruf unter …«

Jack schaltete den Fernseher wieder aus. »Noch nicht identifiziert«, murmelte er vor sich hin. Keine Erwähnung von möglichen Zeugen, aber das hatte nichts zu bedeuten. Wenn sich der Mann gemeldet hatte, den Jack oben an der Stahlplanke gesehen hatte, würde die Polizei diese Information wahrscheinlich zurückhalten, bis sie mehr herausgefunden hatten.

Die nächsten zwanzig Minuten ging er im Wohnzimmer auf und ab, trank Kaffee und warf immer wieder einen Blick auf den Laptop, um online die aktuellsten Nachrichten zu verfolgen. Aber sie brachten nichts Neues. Am liebsten hätte er jemanden angerufen, hätte sich gerne jemandem anvertraut, aber er widerstand der Versuchung. Er musste nachdenken, und zwar sehr gründlich. Oder noch besser: Er musste etwas unternehmen.

Jack fuhr zum Supermarkt zurück. Unterwegs nahm er den Verkehr nur teilweise wahr.

Es hatte aufgehört zu regnen, aber es hingen noch dunkle, drohende Wolken am Himmel. Die Gehwege und Straßen waren immer noch nass, in den Schlaglöchern stand das Wasser bis zum Rand. An den überhängenden Zweigen zeigte sich der erste Hauch von grünen Knospen, die von den schweren Tropfen herabgezogen wurden.

Inzwischen war es nach sieben Uhr, die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne drangen zwischen den Wolken hindurch. Der Supermarkt würde erst in etwa einer Stunde öffnen. Der Parkplatz schien völlig leer zu sein, aber zur Sicherheit fuhr Jack noch ein zweites Mal daran vorbei und hielt nach Streifenwagen Ausschau. Als er keine sah, wendete er den Wagen, fuhr auf den Parkplatz und parkte in der Nähe des Markteingangs. Er stieg aus.

Die Morgenluft war kalt, sein Atem erzeugte weiße Dampfwolken. Er ging zu der Stelle vor der Stahlplanke, an der er am Vorabend geparkt hatte. Dort blieb er stehen und blickte die Böschung hinunter.

Die Szene wirkte so unauffällig wie am Vortag – von einem gelben Polizeiband abgesehen, das unten an den Betonelementen entlang gespannt war. In der Nacht, als ihm sein Kampf mit dem Angreifer immer wieder durch den Kopf gegangen war, hatte er sich vorgestellt, dass die Spuren auf der Böschung deutlich sichtbar sein müssten – ein einziges Chaos von aufgewühlter Erde, abgebrochenen Zedernzweigen, herausgerissenen Büschen und Grassoden. Jenseits der Betonleitplanken brauste unterdessen der Verkehr auf dem Kings Highway in stetem Strom vorbei.

Jack blickte sich um. Der Parkplatz war immer noch leer. Er stieg über die Stahlplanke und kletterte vorsichtig die Böschung hinunter, bis er den schmalen flachen Erdstreifen erreichte, der sich zwischen dem Fuß der Böschung und den Betonleitplanken entlangzog. Hier war der Boden vom Regen aufgeweicht, zertrampelt und mit grün-gelben Grasbüscheln übersät. Auf der anderen Seite der Leitplanken wirbelten die Reifen der vorbeirasenden Fahrzeuge grauen Sprühnebel auf.

Von seiner Erinnerung ließ er sich zu dem Betonelement leiten, gegen das der Angreifer gestürzt war, und ging davor in die Hocke. Auf dem grauen Beton waren keinerlei Blutspuren zu sehen. Entweder hatte sie der Regen weggewaschen, oder sie waren von einem vorbeirasenden Feuerwehrauto oder einem großen Truck weggesprüht worden. Jack stand wieder auf, ging langsam an der Leitplanke entlang und untersuchte die einzelnen Betonelemente in der Nähe nach irgendwelchen Spuren oder Hinweisen auf das, was gestern Abend hier geschehen war.

Aber er fand nichts.

Schließlich gab er auf und stieg wieder die Böschung hinauf. Als er knapp drei Meter vom oberen Rand entfernt war, bemerkte er aus dem Augenwinkel etwas Helles. Er blieb stehen und schaute genauer hin: Etwas Weißes ragte ein wenig unter einem Grasbüschel hervor, wie die Ecke einer Visitenkarte. Jack bückte sich und hob es auf. Nein, keine Visitenkarte, eine Schlüsselkarte von einem Hotel.

»He!«, schrie plötzlich ein Mann. »Was haben Sie da unten zu suchen?«

Jack blickte auf. Oben an der Stahlplanke stand ein Mann in dunkelblauem Anzug und hatte einen Fuß auf einen der Pfosten gestützt.

»Was?«, rief Jack zurück.

»Ich will wissen, was Sie da unten zu suchen haben! Kommen Sie rauf!« Der Mann holte ein kleines Etui aus der Jackentasche, klappte es auf und wies es vor. Aus der Entfernung konnte Jack nur vermuten, dass es eine Dienstmarke war. »Los, kommen Sie hier rauf.«

Shit, dachte Jack. Er holte tief Luft und versuchte, ruhig zu bleiben.

Die Hotelschlüsselkarte in der Handfläche verborgen, stieg Jack die restliche Böschung hinauf und kletterte über die Stahlplanke. Er schob die Hände in die Anoraktaschen. Unter dem rechten Unterarm spürte er eine beruhigende Beule – seine Glock 26 in ihrem Sicherheits-Paddle-Holster.

»Nehmen Sie die Hände aus den Taschen«, knurrte der Cop. Er war Mitte vierzig, bullig wie ein Ringkämpfer, mit welligem rotem Haar.

Jack befolgte den Befehl. Der Cop betrachtete ihn routiniert von oben bis unten.

»Sie heißen?«

»Jack Ryan.«

»Ausweis?«

Jack zog seine Brieftasche heraus und reichte ihm den Führerschein. Der Cop studierte die Karte fünf Sekunden lang aufmerksam, verglich Jacks Gesicht mehrmals mit dem Foto und nickte langsam. »Ah. Sind Sie …«

»Yep«, antwortete Jack.

»Sollten Sie nicht einen Typen vom Secret Service oder so bei sich haben?«

»Offiziell ja, kann sein, aber ich fand das lästig und hab mich bei ihrem Boss beschwert, deshalb lassen sie mich frei herumlaufen«, erklärte Jack und grinste kumpelhaft.

Der Cop fiel nicht darauf herein. »Okay. Was hatten Sie da unten zu suchen?«

Jack hatte bereits krampfhaft über eine Antwort nachgedacht. Natürlich hatte er damit rechnen müssen, dass er es wegen dieser Sache früher oder später mit der Polizei zu tun bekommen würde. Nur hatte er nicht damit gerechnet, dass es so bald sein würde. Hatte sich der Zeuge gemeldet?

Er zögerte, teilweise weil er glaubte, dass das plausibler wirken würde, teilweise aber auch, weil ihm Zweifel an der Antwort kamen, die er sich zurechtgelegt hatte. »Ich war gestern Abend hier.«

Jetzt steckst du in der Sache drin, Jack. Noch war nicht absehbar, ob ihm die Lüge Probleme ersparen oder ihn nur noch tiefer in den Schlamassel treiben würde.

Der Cop runzelte die Stirn. Er bedachte Jack mit dem harten Blick, der offenbar bei Polizisten zu einer Art Standardblick geworden war. »Als es passierte?«

»Ich glaube, ja.«

»Erzählen Sie es mir. Von Anfang an.«

»Ich kam vom Fitnesscenter …«

»Welches?«

»Malone’s, am Foundry.«

»Okay. Und weiter?«

»Danach fuhr ich hierher, um einzukaufen. Muss ungefähr acht Uhr gewesen sein.«

Der Cop hielt einen Finger in die Höhe und blickte wieder auf Jacks Führerschein. »Die Adresse hier … das ist doch in der Nähe der Oronoco Street, richtig? Der Supermarkt hier liegt nicht gerade in Ihrer Nachbarschaft.«

»Nein, aber das ist der beste Markt für Obst und Gemüse. Ich zahlte und kam heraus. Es regnete.«

»Um wie viel Uhr ungefähr?«

»Muss so Viertel nach acht gewesen sein. Ich ging zu meinem Auto und hörte …«

»Bevor Sie zum Auto kamen oder als Sie schon eingestiegen waren?«

»Gerade als ich beim Auto ankam«, antwortete Jack. »Unter dem Scheibenwischer steckte ein Flyer oder so was Ähnliches. Ich habe ihn hervorgezogen, dann hörte ich lautes Hupen von dort unten. Klang wie ein Truck, aber ein großer.«

Ein Flyer, dachte Jack. Das Wort blieb irgendwie in seinen Gedanken hängen. Aber bevor er weiter darüber nachdenken konnte, fragte der Polizist: »Was passierte dann?«

»Ich setzte die Tüte ab …«

»Wo?«

»Auf der Motorhaube.«

»Paprika und Tomaten?«

»Was?«

»Ein Streifenwagen reagierte auf den Notruf. Der Kollege fand ein paar Paprika und Tomaten, die ungefähr hier herumlagen.«

»Oh. Ja, ich wollte ein Chili kochen. Jedenfalls ging ich zu der Schutzplanke hier und schaute hinunter. Ich hörte Bremsen...