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Die andere Frau - Psychothriller

Michael Robotham

 

Verlag Goldmann, 2018

ISBN 9783641231224 , 480 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

3


Meine älteste Schwester Lucy wohnt in Henley, westlich von London, zusammen mit ihrem Mann Eric, einem Fluglotsen, und drei Kindern, deren Namen ich mir nie merken kann, weil sie alle auf »i« enden. Ich drücke ihre Nummer und lausche dem Klingeln.

Lucy nimmt ab. Mein linker Arm zittert. Sie ist im Auto.

»Kannst du telefonieren?«

»Ich habe auf Freisprechen gestellt. Was ist los?«

»Dad ist im Krankenhaus. Er hatte irgendeinen Unfall. Er wurde gestern Nacht operiert, um den Hirndruck zu entlasten.«

Ihre Stimme wird anders, höher. »Ist er gefahren?«

»Ein Sturz, glaube ich. Er liegt im St. Mary’s Hospital in Paddington.«

»Hast du mit ihm gesprochen?«

»Er liegt im Koma.«

»Mein Gott! Wo ist Mummy?«

»Sie nimmt einen Zug.«

»Was ist mit Patricia und Rebecca?«

»Ich hab dich als Erste angerufen.«

Lucy ist die natürliche Anführerin unter uns Geschwistern – die kompetente, organisierte Schwester, die Familienfeiern organisiert, keinen Geburtstag vergisst und jedes Weihnachten unseren »Heimliches Christkind«-Geschenkeeinkauf koordiniert. Patricia, meine zweitälteste Schwester, lebt mit ihrem Mann Simon, einem Anwalt für Strafrecht, in Cardiff. Rebecca, die Jüngste, ist eine Überfliegerin, die für die Weltbank in Genf arbeitet. Ich bin das Baby der Familie – der lange erwartete Junge, aber nicht der kleine Prinz. Von dieser Position habe ich abgedankt, als ich entschied, nicht Chirurg, sondern Psychologe zu werden, und damit eine mehr als hundert Jahre zurückreichende medizinische Dynastie beendete.

»Ich ruf Patricia an«, übernimmt Lucy das Kommando. »Rebecca ist im Südsudan. Vielleicht erreichst du sie auf ihrem Handy. Ich komme, sobald ich kann.«

Nachdem Lucy aufgelegt hat, rufe ich Rebecca an und hinterlasse eine Nachricht, in der ich knapp die Details schildere und erkläre, sie solle sich keine Sorgen machen und mich zurückrufen. Und jetzt, was als Nächstes? Es muss noch andere Freunde der Familie geben, denen ich Bescheid sagen kann, doch ich will die Nachricht nicht teilen, noch nicht. Wie auf Autopilot starre ich aus dem Fenster – auf die von Kränen und halb fertigen Bürotürmen gesprenkelte Skyline. Tauben drehen flatternd ihre Runden am blassblauen Himmel, der von Düsenjets in der Troposphäre mit Streifen wie Kreidespuren verschmiert ist. Ein Tag wie dieser sollte dunkler und trüber sein, sollte die Nachricht oder meine Stimmung widerspiegeln.

Ich kehre zurück auf die Intensivstation, setze mich neben Dads Bett und fasse seine Hand – etwas, was ich seit meiner Kindheit nicht mehr getan habe. Habe ich es als Kind getan? Ich muss es getan haben.

Ich betrachte sein Gesicht. Bis Mitte fünfzig hat er sein dichtes Haar getönt. Als er das Färbemittel wegwarf, wurde er über Nacht schlohweiß und alterte so würdevoll, wie er lebte. Ein Fremder könnte die Linien um seine Augen für Lachfältchen halten, aber die Furchen sind am tiefsten, wo seine Haut sich am häufigsten gefaltet hat, und illustrieren perfekt sein kritisches Wesen und seine allgemeine Unzufriedenheit mit den Menschen, vor allem mit seinen Kindern, ganz besonders mit mir.

Es fühlt sich seltsam an, ihm so nahe zu sein. Ich glaube nicht, dass ich jemals zehn Minuten mit meinem Dad allein verbracht habe, in denen er mich nicht erniedrigt oder beleidigt hat. Das ist vielleicht übertrieben, aber seine Ansichten waren überwiegend missbilligend und ablehnend. Kinder sollte man weder hören noch sehen. Niemals verhätscheln oder zu sehr loben.

Mein Vater hat nichts Leichtes, Spielerisches oder Schelmisches. Ich kann mich nicht erinnern, dass er irgendwann in meiner Kindheit Liedchen gesungen, Tänzchen aufgeführt oder herumgealbert hat. Er hat uns nicht durch den Garten gejagt, mit uns Verstecken gespielt oder auch nur mal mit lustig verstellter Stimme gesprochen. Er hat uns nicht angezogen, das Frühstück gemacht, vor der Schule abgesetzt, zum Sport gefahren, beim Klavier üben zugehört oder bei den Hausaufgaben geholfen. Wenn wir gestürzt waren und uns wehgetan hatten, rannte keiner von uns zu Dad, rief seinen Namen oder krabbelte auf seinen Schoß.

Damit will ich nicht sagen, dass er uns vernachlässigt hat. Schließlich haben andere diese Aufgaben übernommen: meine Mutter, Kindermädchen, Au-Pairs und Haushälterinnen. Dad wurde andernorts gebraucht. Die Verwundeten, Gebrochenen und Kranken bedurften seiner. Er rettete Leben. Er war ein Pionier neuer OP-Techniken. Er kämpfte gegen Krankheiten, die Kinder verschlangen und Familien zerrissen.

Von manchen Müttern sagt man, sie seien »geborene Mütter«, manche Väter nennt man »geborene Väter«. Ich weiß nicht, was das bedeutet. Mein Vater ist einfach mein Vater. Steif. Gehemmt. Starrsinnig. Streitsüchtig. Fordernd. Abwesend.

Selbst wenn er zu Hause war, verbrachte er viele lange Stunden in seinem Arbeitszimmer. Wenn wir im Garten spielten, achteten wir darauf, nicht zu laut zu toben, weil wir sonst Gefahr liefen, dass er das Fenster aufriss und brüllte, wir sollten still sein. Einmal hat Rebecca sich in die Hose gemacht, als sie seine Stimme hörte, aber sie war auch berüchtigt dafür, sich vor Aufregung leicht in die Hose zu pinkeln.

Als ich acht oder neun war, klagte ich einmal, dass ich Hunger hätte; Dad hat mir daraufhin den ganzen Tag lang jegliches Essen verweigert, damit ich echte Entbehrung erfahren konnte und das Elementarste schätzen lernte. Und als ich einmal vergessen hatte, das Feuer in unserem holzbefeuerten Aga am Brennen zu halten, zwang er alle, am Abend ein kaltes Mahl zu essen, damit meine Schwestern meine Strafe »teilten«.

Wo war meine Mutter bei alldem? Mittendrin. Den Frieden bewahren.

Sie umarmte, küsste, verband und pflegte. Sie erklärte uns jeden Tag, dass Dad uns liebte, und hielt uns an, für ihn zu beten.

Als Junge wurde mir sehr schnell klar, dass mein Dad nicht wie andere Väter war.

Bei geselligen Anlässen stand er nicht am Grill und trank Bier, wendete Würstchen und redete über Fußball oder Rugby. Er hielt sich abseits, ein Glas Mineralwasser in der Hand, selbst im Sommer in grauer Flanellhose und schwarzen Schuhen.

In Gesellschaft stand er immer am Rand, linkisch, in einem umfassenderen Sinn fehl am Platz. Bei einem Väter-Söhne-Camping-Ausflug (ich war überrascht, dass er überhaupt mitgekommen war) saßen wir um ein Lagerfeuer, und einer der anderen Väter sagte, dass wir nur zehn Prozent unseres Gehirns nutzen würden.

»Das ist unzutreffend«, erwiderte Dad. »Diesem Irrtum unterliegen viele Menschen. Sie denken, ein Genie wie Albert Einstein oder Stephen Hawking nutzt einen größeren Teil seines Gehirns als wir. Das wird gerne von Selbstoptimierungspropagisten und Leuten verbreitet, die Mitglied bei Mensa werden – aber es ist nicht wahr. Ärzte haben das Gehirn zehntausend Mal mit MRT und PET gescannt. Es gibt keine inaktiven Areale.«

»Und was macht Sie zum Experten?«, fragte der andere Vater mit härter werdender Stimme.

»Ich bin kein Experte, ich bin Arzt.«

»Und damit wohl eine Gabe Gottes.«

»Ich glaube nicht an Gott.«

Um das Lagerfeuer erhob sich Gelächter.

Der andere Vater sagte, Dad sei ein Klugscheißer.

»Ich habe Sie offensichtlich verärgert«, erwiderte der. »Das tut mir leid. Es gibt zahlreiche medizinische Mythen. Menschen glauben, dass man durch Schwitzen Giftstoffe absondern kann, dass Lesen bei schwachem Licht schädlich für die Augen ist, dass man nach dem Essen nicht schwimmen gehen soll oder dass eine Rasur einen Bart dichter und dunkler nachwachsen lässt. All das ist nicht wahr. Bei kaltem Wetter kriegt man nicht mehr Erkältungen. Kaffee nüchtert nicht aus. Das Herz hat keinen Aussetzer, wenn man niest. Und ein Arschloch ist nicht schlauer als das andere, obwohl Proktologie eigentlich nicht mein Fachgebiet ist.«

Ich dachte, Dad würde Prügel beziehen, aber er hat diese eine unglaublich entwaffnende Eigenart – ein Lachen, bei dem sich sein Mund weit öffnet und ein freudiges Rumpeln freisetzt, das einem das Herz wärmt. Wenn er lacht, stimmen andere ein. Problem gelöst.

Im Halbdunkel sehe ich die Krankenschwester von eben auf einem Hocker hinter den Apparaten sitzen.

»Habe ich laut geredet?«

Sie nickt, tritt ins Licht und stellt sich als Henrietta vor. Mit ihrem jamaikanischen Akzent klingt der Name melodisch.

»Ist das wirklich William O’Loughlin?«, fragt sie.

»Ja.«

»Das ganze Krankenhaus redet über ihn.«

»Was sagt es denn?«

»Dass er ein berühmter Arzt ist.«

»Früher mal. Ja.«

Henrietta erklärt, dass sie seine Verbände wechseln müsse. Ich biete ihr meine Hilfe an. Sie gibt mir ein blankes Stahltablett mit Mull und Kompressionsverbänden. Als ich die zunehmend blutigeren Schichten des alten Verbandes abwickele, sehe ich die getackerte Naht, wo der zertrümmerte Schädel meines Vaters zusammengeflickt wurde. Ich sehe die Kuppel seines halb rasierten Kopfes, die nicht mehr symmetrisch, sondern auf der rechten Seite konkav ist wie die Schale eines hartgekochten Eis, die mit einem Löffel angekatscht wurde.

Das Laken ist bis unter die blasse Brust meines Vaters aufgeschlagen, und ich bemerke massive Blutergüsse an seinem Brustkorb und den Seiten, die offensichtlich nicht von einem kürzlich erfolgten Sturz oder Wiederbelebungsmaßnahmen stammen. Blutergüsse ändern mit der Zeit ihre Farbe. Rot, blau und violett sind die frühen Farben. Grüntöne erscheinen nach vier oder fünf Tagen, Gelb nach einer Woche.

Ich nehme mein Handy und schalte die Kamera ein.

»Sie dürfen hier keine Fotos machen«, sagt Henrietta.

»Die wurden nicht von einem Sturz auf...