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Klinische Psychologie - Grundlagen

Franz Petermann, Andreas Maercker, Wolfgang Lutz, Ulrich Stangier

 

Verlag Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, 2018

ISBN 9783840927836 , 300 Seiten

2. Auflage

Format PDF, OL

Kopierschutz Wasserzeichen

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26,99 EUR


 

|33|Kapitel 2
Lern- und sozialpsychologische Grundlagen


Franz Petermann und Ulrich Stangier

|34|„Lernen“ ist ein vielfältiges und komplexes Konzept, das verschiedene Lernvorgänge gleichermaßen beschreibt und gegeneinander abgrenzt:

Begriffsklärung: Lernen

Lernen kann als relativ dauerhafte Veränderung im Verhalten oder den Verhaltenspotenzialen eines Lebenswesens in Bezug auf eine bestimmte Situation beschrieben werden, die auf wiederholter Erfahrung mit dieser Situation beruht (vgl. Petermann & Petermann, 2018).

Wesentlich bei Lernprozessen ist die relative Stabilität der Veränderung, wobei Lernen von kurzfristigen Veränderungen abgegrenzt werden kann, die z. B. durch Ermüdung entstehen. Gleichzeitig ist Lernen anders als biologisch determinierte Veränderungen wie Reifungs- oder Alterungsprozesse durchaus reversibel: Alles, was wir uns durch Lernen aneignen, können wir unter bestimmten Bedingungen auch wieder verlernen. In den folgenden drei Abschnitten wird ein Überblick über die wichtigsten Formen des Lernens gegeben, die für die Klinische Psychologie von Bedeutung sind.

2.1 Klassisches Konditionieren


2.1.1 Grundlagen der klassischen Konditionierung

Das Prinzip der klassischen Konditionierung geht auf Ivan Pawlow (1849–1936) zurück. Er beobachtete Hunde, die beim Anblick von Nahrung zuverlässig speichelten. Dabei stellte er fest, dass diese nach einiger Zeit bereits anfingen Speichel abzusondern, wenn sie den Tierpfleger sahen, der sie gewöhnlich fütterte. Daraufhin kombinierte er diese angeborene Reiz-Reaktions-Verbindung (Futter – Speichelfluss) mit anderen, neutralen Reizen (z. B. ein Glockenton). Eine wiederholte Kombination der Reize führte dazu, dass auch der ursprünglich neutrale Reiz den Speichelfluss auslöste. Pawlow beschrieb diesen Lernvorgang in vier Stufen (Pawlow, 1972):

  1. Ein unkonditionierter Stimulus (UCS) löst eine unkonditionierte Reaktion (UCR) aus. Diese Reiz-Reaktions-Verbindung wird als biologisch determiniert angenommen, d. h. sie läuft reflexhaft ab.

  2. Ein neutraler Reiz (NS) wird mit dem UCS gekoppelt. Diese Kopplung löst weiter die unkonditionierte Reaktion (UCR) aus.

  3. Die Kombination aus UCS und NS wird mehrfach dargeboten.

  4. |35|Der NS wird zum konditionierten Stimulus (CS) und kann ohne den UCS die Reaktion auslösen. Diese wird dann als konditionierte Reaktion (CR) bezeichnet.

Abbildung 6 verdeutlicht diese Prozesse, mit denen man klassisch konditionierte Lernvorgänge beschreiben kann.

Abbildung 6: Ablauf der klassischen Konditionierung

Auch beim Menschen konnte die Auslösung verschiedener Reaktionen, wie z. B. Blinzeln, Übelkeit, aber auch Hunger oder Durst, konditioniert werden. Dies lässt sich auch im Alltag beobachten. Wer einen Tagesablauf mit regelmäßigen Mahlzeiten pflegt, wird jeden Tag zur selben Zeit Hungergefühle erleben – der Hunger (CR) wird durch die Tageszeit (CS) ausgelöst.

Ebenso wie Verhaltensweisen oder physiologische Reaktionen können auch emotionale Reaktionen, z. B. Angst, konditioniert werden. Dies ist von großer Bedeutung für das Verständnis von psychischen Problemen. Ein Forscher, der sich mit diesem Phänomen beschäftigte, war John B. Watson (1878–1958). Das einflussreichste Experiment zum Nachweis dieser Annahme war sein Versuch mit dem „kleinen Albert“, in dem bei einem einjährigen Jungen eine Angstreaktion beim Anblick einer weißen Ratte konditioniert wurde (Watson & Rayner, 1920). Im beschriebenen Experiment konnten zusätzlich auch andere Reize (z. B. ein weißes Kaninchen), die mehrere Merkmale mit der Ratte gemeinsam hatten, die konditionierte Reaktion auslösen (Reizgeneralisierung).

|36|Begriffsklärung: Reizgeneralisierung

Als Reizgeneralisierung bezeichnet man die Übertragung der konditionierten Reaktion auf Reize, die verschiedene Merkmale mit dem konditionierten Reiz teilen.

2.1.2 Voraussetzungen der klassischen Konditionierung

Preparedness. Nach der Theorie der „Preparedness“ (Seligman, 1970) gibt es eine artspezifische höhere Bereitschaft (= biologische Determiniertheit), bestimmte konditionierte Reaktionen auszubilden, die einen Überlebensvorteil mit sich bringen würden. So sind Reize, die in der natürlichen Umwelt Gefahr signalisieren können, besonders leicht konditionierbar. Diese Theorie erklärt beispielsweise, warum spezifische Phobien sich häufig in Bezug auf Spinnen, Schlangen oder Gewitter entwickeln, aber so gut wie nie in Bezug auf Waffen oder Autos, die objektiv gefährlicher sind. Verschiedene Experimente stützen die Annahme der Preparedness, zumindest in Bezug auf die Furchtkonditionierung.

Kontiguität. Eine entscheidende Bedingung ist die zeitliche Nähe zwischen konditioniertem und unkonditioniertem Reiz, die mit dem Begriff „Kontiguität“ beschrieben wird. Eine hohe zeitliche Nähe begünstigt die Ausbildung einer bedingten Reaktion, wobei Versuche zeigen, dass eine verzögerte Darbietung des UCS bei gleichzeitigem Andauern des CS am günstigsten wirkt (verzögerte Konditionierung). Der maximale Zeitabstand zwischen CS und UCS sollte jedoch 1,5 Sekunden nicht überschreiten (vgl. Petermann & Petermann, 2018).

Kontingenz. Auch die Wahrscheinlichkeit, mit der der CS gemeinsam mit dem UCS auftritt, spielt eine Rolle. Dabei muss die Wahrscheinlichkeit, dass UCS oder CS allein auftreten, geringer sein als die Wahrscheinlichkeit, dass beide kombiniert auftreten. Dieses Prinzip wird als Kontingenz zwischen CS und UCS bezeichnet. Die Anzahl der erforderlichen Wiederholungen ist wiederum abhängig von der Intensität des UCS, der Art der konditionierten Reaktion sowie Personenmerkmalen (z. B. Ängstlichkeit).

Extinktion und spontane Erholung. Erfolgt keine Kopplung zwischen UCS und CS mehr, erlischt die konditionierte Reaktion nach einer Zeit (Extinktion). Allerdings kann es auch bei erfolgter Extinktion zu einem Wiederkehren der bedingten Reaktion auf den konditionierten Reiz |37|hin kommen. Dieses Phänomen wird als „spontaneous recovery“ bezeichnet. Im klinischen Kontext spiegelt sich dies als sogenannter Return of Fear wider (Wiederauftreten von Ängsten nach erfolgreicher Behandlung der Angstreaktion).

2.1.3 Klinische Anwendungen der klassischen Konditionierung

Erklärung von psychischen Störungen

Insbesondere bei Entstehungsmodellen für Angststörungen werden klassisch konditionierte Lernvorgänge als relevant angenommen. Paradigmatisch für diese Vorstellung ist die sogenannte Zwei-Faktoren-Theorie von Mowrer (1960), die lange Zeit als Erklärungsansatz für nahezu alle Angststörungen angesehen wurde. Nach dieser Theorie werden Angstreaktionen durch klassische Konditionierung erworben (neutraler Reiz wird mit aversivem Reiz gepaart) und durch operante Konditionierung (vgl. Abschnitt 2.2) aufrechterhalten. Obwohl dieses Modell nicht für alle Patienten bestätigt werden kann, gilt es bis heute als wesentliche Basis für den Erwerb spezifischer Phobien.

Bouton, Mineka und Barlow (2001) schlagen ein Entstehungsmodell der Panikstörung vor, das wesentlich auf klassischer Konditionierung beruht. Hier werden bei einer begründeten Panikreaktion die begleitenden körperinternen Reize (z. B. Herzklopfen oder Schwindel) mit der emotionalen Angstreaktion gekoppelt. Als Folge tritt die Angst auch in nicht bedrohlichen Situationen auf, wenn die entsprechenden Körpersymptome (aus anderen Gründen, z. B. infolge körperlicher Anstrengung) vorliegen. Neben den körperinternen Reizen (interozeptive Konditionierung) können auch Umgebungsvariablen (z. B. der Ort) mit der Angstreaktion assoziiert werden und diese zukünftig auslösen. Ob bei Personen, die eine „echte“ (begründete) Panikattacke erleben, ein Konditionierungsprozess erfolgt, hängt von der individuellen Vulnerabilität ...