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Champion

Felix Francis

 

Verlag Diogenes, 2018

ISBN 9783257609127 , 416 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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14,99 EUR


 

{9}1


Das Display des Digitalthermometers links von mir zeigte 105 Grad an – 105 Grad Celsius, gleich 221 Grad Fahrenheit.

Schweiß lief mir als stetes Rinnsal von der Nasenspitze, und beim Einatmen der sengenden Luft spürte ich die Hitze tief in der Brust.

In der Sauna war ich schon öfter gewesen, aber in einer derart heißen noch nicht.

»Was möchtest du also?«, fragte ich.

Mein Gefährte in dieser Höllenglut antwortete nicht. Er blickte nur starr auf den Boden zwischen seinen Füßen.

»Komm schon«, sagte ich. »Ich bin nicht extra hierhergefahren, nur um was für meine Gesundheit zu tun. Mir ist viel zu heiß hier drin. Du wolltest reden, also rede.«

Er hob den Kopf.

»Wenigstens hast du nicht so ein Drecksding an.« Er zupfte an dem Trainingsanzug aus schwarzem Nylon, den er trug. Als wäre die Hitze allein nicht schlimm genug.

»Mag sein, aber ich hatte nicht vor, mich hier langsam grillen zu lassen.«

Er redete immer noch nicht. Er sah mich nur an. Dave Swinton, neunundzwanzig Jahre alt und schon achtfacher Hindernis-Champion. Dass er mit seinen {10}einsachtundsiebzig ständig Gewichtsprobleme hatte, war allgemein bekannt, doch für sein herausragendes Können im Sattel nahmen Besitzer und Trainer ein wenig Übergewicht gern in Kauf. Und das aus gutem Grund – laut Statistik gewann er fast jedes dritte Rennen, in dem er antrat.

»Unter uns?«, fragte er.

»Sei nicht albern«, antwortete ich.

Ich war Chefermittler der Britischen Rennsportbehörde BHA, der Organisation, die für die ordnungsgemäße Durchführung aller Galopprennen im Vereinigten Königreich zuständig war. Nichts, was ich in Sachen Rennsport hörte oder sah, konnte unter uns bleiben.

»Dann streite ich alles ab.«

»Was denn?«, fragte ich. »Ich schmore hier jetzt schon seit über zehn Minuten und sehe langsam wie ein Hummer aus. Entweder du sagst mir, warum ich hier bin, oder ich bin weg.«

Ich fragte mich, warum er so darauf bestanden hatte, dass wir uns in seiner Sauna unterhielten. Zuerst hatte ich angenommen, er müsse vor seinem nächsten Start heute Nachmittag in Newbury noch ein paar Pfunde loswerden, aber vielleicht wollte er auch nur sichergehen, dass ich kein Aufnahmegerät dabeihatte. Normalerweise zeichnete ich Gespräche mit meinem Smartphone auf, doch das steckte in meiner Jackentasche, und die Jacke hing mit meinen anderen Sachen draußen an einem Haken.

Dave sah mich weiter an, als sei er noch unentschlossen.

»Gut«, sagte ich. »Das war’s.« Ich stand auf, schlang mir das Handtuch, auf dem ich gesessen hatte, um die Hüfte und stieß die Holztür der Sauna auf.

»Ich hab diese Woche ein Rennen verloren.«

{11}Ich war schon mit einem Fuß draußen. »Und? Man kann ja nicht immer gewinnen.«

»M-m«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Ich hab’s absichtlich verloren.«

Ich blieb stehen und drehte mich zu ihm um. Die meisten Bestimmungen der Rennordnung kannte ich auswendig. Laut Nr. (D) 45.1 war ein Jockey unbedingt verpflichtet, die Gewinnaussichten seines Pferdes im Rennen nach besten Kräften wahrzunehmen und zu fördern, d.h. alles dafür zu tun, dass es die bestmögliche Platzierung erreicht.

Wer absichtlich ein Rennen verlor, setzte sich mutwillig über diese Bestimmung hinweg, ein Verstoß, der mit bis zu zehn Jahren Ausschluss vom Rennbetrieb geahndet werden konnte.

»Warum?«, fragte ich.

Er gab keine Antwort. Er ging einfach wieder dazu über, den Boden zwischen seinen Füßen zu betrachten.

»Warum?«, fragte ich noch einmal.

»Vergiss, was ich gesagt hab.«

»Das geht schlecht«, erwiderte ich.

Man konnte die Zeit nicht zurückdrehen. So wenig, wie man die Atombombe unerfunden lassen konnte.

Ich sah ihn an, aber er musterte weiter den Fußboden.

»Sollen wir nicht lieber raus aus der Scheißhitze und bei einem kühlen Bier alles besprechen?«

»Ich darf nichts trinken«, entgegnete er scharf, ohne den Kopf zu heben. »Nicht mal Wasser. Was meinst du denn, warum ich das hier mache? Ich muss zwei Pfund loswerden, damit ich Integrated im Hennessy reiten kann.«

»Trocknest du dann nicht aus?«

{12}»Das ist mein Normalzustand«, sagte er und lachte gezwungen. »Seit ich sechzehn bin, hungere ich jeden Tag. Ich weiß schon gar nicht mehr, wie ein richtiges Essen aussieht. Oder ein Bier. Ich trink seit Jahren überhaupt keinen Alkohol, viel zu viel Kalorien. Nicht, dass es mir groß fehlt, mir schmeckt das Zeug eh nicht.« Er lachte wieder, aber nur kurz. »Warum ich mir das antue, willst du wissen? Das ist eine verdammt gute Frage.«

Er stand auf, und wir gingen beide aus dem Holzverschlag heraus ins Kühle. Ich fragte mich, wie viele Leute wohl eine Sauna in ihrer Garage hatten und außerdem noch reichlich Platz für zwei teure Autos: einen silbernen Mercedes E-Class Saloon und ein dunkelgrünes Jaguar XK Sportcoupé, beide mit personalisiertem Kennzeichen.

Dave legte einen großen roten Schalter neben der Tür um.

»Diese Schwitzbude zu beheizen kostet bestimmt ein Vermögen«, sagte ich.

»Ich setze meine Stromkosten als Betriebsausgabe ab«, meinte er lächelnd. »Die Sauna ist für meine Arbeit unverzichtbar.«

»Wie oft gehst du da rein?«

»Jeden Tag. Früher bin ich dafür ins Fitnesscenter, aber die haben bei ihrer Sauna die Temperatur runtergeregelt, aus gesundheitlichen Gründen und wegen der Sicherheit.«

Er stieg aus dem Nylontrainingsanzug und stellte sich nackt auf die Waage.

»He, was ist das denn?« Ich wies auf einen hässlichen schwarzvioletten Kreis auf seinem Rücken.

»Da ist was auf mir gelandet«, sagte er lächelnd. »Hufabdruck.«

{13}Er schaute auf die Waage.

»Ich bin immer noch zu schwer«, seufzte er. »Kein Essen für mich heute Mittag, genau wie heute Morgen.«

»Aber irgendwas essen musst du doch wohl. Du brauchst die Energie.«

»Kann ich mir nicht erlauben«, sagte er. »Wenn ich bis heute Nachmittag um zwei nicht auf fünfundsechzigeinhalb Kilo bin, lässt der Scheißbesitzer mich nicht Integrated reiten, und das ist einer der besten Steepler im Land. Fürs Hennessy hat er ein unglaublich gutes Handicap, und wenn ich ihn heute nicht kriege und er gewinnt, kann ich es mir abschminken, dass ich ihn irgendwann noch mal zu reiten bekomme – dann kann ich mir vielleicht meine ganze Laufbahn abschminken.«

Die konnte er sich ohnehin abschminken, wenn er vorsätzlich Rennen verloren hatte.

»Erzähl mir von deinem nicht gewonnenen Rennen«, sagte ich.

»Ich muss unter die Dusche«, wischte er meine Bitte beiseite und ging ins Haus. »Du kannst im Gästebad duschen, wenn du willst. Die Treppe hoch rechts.«

Er lief nach oben, verschwand, wie ich annahm, in seinem Zimmer und schloss die Tür hinter sich.

Nicht zum ersten Mal fragte ich mich, was ich hier machte.

»Du musst sofort kommen, Jeff.« Das waren Daves Worte gewesen, als er mich an diesem Morgen um zehn vor sieben Uhr mit hörbarer Anspannung angerufen hatte. »Auf der Stelle. Ich muss mit dir reden. Jetzt gleich. Es ist dringend.«

»Können wir das nicht am Telefon besprechen?«, hatte ich gefragt.

{14}»Nein. Auf keinen Fall. Es ist viel zu wichtig. Das geht nur Auge in Auge.«

Dave Swinton war eines der ganz wenigen Mitglieder der Rennsportgemeinde, die ich als Freunde ansah. In der Regel mied ich den geselligen Umgang mit denen, die ich überwachen sollte, doch zwei Jahre zuvor hatten Dave und ich vierundzwanzig Stunden lang gemeinsam in einem saisonunüblichen Eissturm festgesessen, als wir nach dem Maryland Hunt Cup, nördlich von Baltimore, nach Hause fliegen wollten. Er war als Gastreiter dort gewesen, und mich hatte man eingeladen, um die Einführung eines neuen Dopingtests für amerikanische Hindernispferde zu überwachen.

Wir hatten eine Polarnacht in einem Provinzhotel ohne Heizung und Licht durchgestanden, da das Eis die Stromversorgung gekappt hatte. In Wolldecken eingemummt hatten wir vor dem lodernden Kamin gekauert, und wir hatten uns unterhalten.

Also war ich zu ihm gekommen, als er mich darum bat, hatte aufs samstagmorgendliche Ausschlafen verzichtet und mich in den Zug von Paddington nach Hungerford gesetzt, um dann mit dem Taxi zu Daves Haus am Stadtrand von Lambourn zu fahren.

Er hatte mit seiner Behauptung, absichtlich ein Rennen verloren zu haben, zwar ein Bombenei gelegt, aber wenn er nichts weiter dazu sagen wollte, war mein Ausflug für die Katz gewesen.

Ich ging in seine Küche und trank dankbar zwei Gläser kaltes Leitungswasser. Und hatte immer noch Durst. Wie Dave es fertigbrachte, nach diesem Saunagang nichts zu trinken, war mir schleierhaft.

{15}Ich duschte in Daves Gästebad, musste dann unten aber trotzdem gut zwanzig Minuten warten, bis er in Jeans, dunkelgrünem Polohemd und Turnschuhen, seiner üblichen Werktagskleidung, wieder auftauchte.

Während die meisten Jockeys nach wie vor in Schlips und Kragen zur Rennbahn kamen, um Besitzer und Trainer zu beeindrucken, verzichtete Dave Swinton schon lange auf solche Förmlichkeiten. Auf der Rennbahn ging es, abgesehen von Royal Ascot und dem Derby, heute im Allgemeinen viel lässiger zu als früher, und der derzeitige Champion Jockey war der Lässigste von allen.

»Ich fahr jetzt nach Newbury«, sagte er und schnappte sich eine Sporttasche, die im Flur lag. »Ich will vorm ersten Rennen den Kurs abgehen.«

Ich sah auf die Uhr. Es ging auf zehn...