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Zurück nach Fascaray

Annalena McAfee

 

Verlag Diogenes, 2018

ISBN 9783257608694 , 960 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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27,99 EUR


 

{15}Der Anblick der Insel von Osten ist im Wesentlichen unverändert geblieben, seit die Wikinger im achten Jahrhundert die Clinch Straits in ihren Langschiffen überquerten, wobei sie Vergewaltigung und Plünderung im Schilde führten.

Der Besucher von heute reist mit der Fähre an und hat vielleicht eine kleine Wanderung im Sinn, ein paar Sehenswürdigkeiten oder einen Garnelenteller zu Live-Musik im Pub. Von fern sieht er dieselbe weite grüne Platte, mittig überragt von einem kegelförmigen Gipfel, der auch Sigtrygg Barelegs und seine Krieger grüßte, als sie übers Meer eilten, um die Insel und ihre Bewohner zu verwüsten.

Die niedrigen weißgetünchten Häuser des heutigen Fascaray gab es im Jahr 795 natürlich noch nicht, als die einheimischen Pikten, die in ihrer Sommersiedlung am Westufer von Lusnaharra hockten, von Wächtern auf dem Beinn Mammor alarmiert wurden, ein geschwungener Bug durchmesse zielstrebig die Wellen gen Finnverinnity Bay. Gleichzeitig sputeten sich oben in der Priorei auf dem Gezeiteneiland Calasay Mönche in Sandalen, Kelch, Hostienteller und Reliquienschrein vor dem Ansturm der Heiden zu verbergen.

Einen Großteil des Geländes dürf‌ten Kiefernwälder {16}bedeckt haben, gleich »majestätischen grünen Gewitterwolken, Kumulonimben, durchbohrt von himmelwärts gerichteten Speeren«, wie McWatt sie später beschreiben sollte. Der örtliche Bedarf an Brennmaterial war gering, und der Kahlschlag der heimischen Wälder durch die Holzindustrie lag noch über tausend Jahre in der Zukunft, wie auch die dunklen Regimenter von Sitka-Fichten, die im zwanzigsten Jahrhundert über Fascarays Berge in Marsch gesetzt wurden von modernen Plünderern – englischen Steuerberatern, die Schlupf‌löcher für ihre Mandanten ausnutzten.

Doch diese Veränderungen mitsamt den einstöckigen Katen oder crof‌ts und den Ställen, den Reihen von Fischerhütten, dem Großen Haus, der kirk (Kirche), der Pfarrei, dem rudimentären howf‌f (Gasthof), der Erneuerung von Finnverinnitys Schiffsanleger und dem schmalen Granitbau des Temperance Hotel, im zwanzigsten Jahrhundert dann zusätzlich Krämerladen und Postamt, Grundschule, Andenkenladen, Teestube und Museum sowie die architektonischen Extravaganzen des Balnasaig Centre im Nordosten, haben Fascaray nicht mehr geformt und geprägt als die Sprühnebel, die auf seine sturmgepeitschten Ufer geblasen wurden.

Die Insel, Teil des Fascaredes-Archipels, ist Überbleibsel eines erloschenen Vulkanrings des Neoproterozoikums, der aus einem vierzig Meter starken Plateau auf dem Meeresgrund zum achthundertvierundsiebzig Meter hohen Gipfel des Beinn Mammor emporragt und Granit, Gneis, Pyrit und Gabbro, ein magmatisches Moine-Gestein, einfasst – »eine Granitballade« laut McWatt; sie ist seit mehr als achttausend Jahren bewohnt.

{17}Fascarays vielfältige geologische Merkmale, seine Lochs und Berge, Hochland und Tief‌land, Torfmoor und Wälder, seine Strände mit blondem Machair-Gras und elfenbeinfarbenem Sand, verstreuten Muscheln und Findlingen, seine steilen Klippen und tiefen Höhlen, alles auf das Terrain eines Inselchens gepfercht, das man an einem einzigen Sommertag zu Fuß umrunden kann, haben Fascaray in jüngerer Zeit den Spitznamen »Miniatur-Schottland« eingetragen.

Fascarays Schauplätze aus der Vorzeit – der Ring von Drumnish, ein gezackter Steinkreis westlich von Balnasaig; die Trümmer des Forts Wallburg Mammor; Killiebraes Broch, der die nördliche Seepassage zu den Doonmara-Klippen bewacht; die Kökkenmöddinger aus der mittleren Steinzeit, die auf 6700 Jahre v. Chr. zurückgehen, gefunden in den Höhlen von Slochd und Clochd; die Ruinen des jungsteinzeitlichen Dorfs über Lusnaharra, freigelegt nach einem Sturm im Jahr 1902; die Ruinen des Klosters St Maolrubha auf Calasay; die Grabkammer von Heuchaw Cairn und die dachlosen, geräumten clachan, Dörfer, die über die Insel verstreut liegen – erzählen ihre eigenen Geschichten.

Von Tacitus stammte der erste Bericht über die Inselgruppe. Tacitus schilderte, wie die Flotte im Jahr 80 v. Chr. gen Norden entsandt wurde, und zwar von seinem Schwiegervater Agricola, der als kürzlich ernannter römischer Statthalter Britanniens die Grenzen seines neuen Territoriums zu kartieren wünschte. Sie muss im Monat Junius gesegelt sein, den wir jetzt als Juni kennen, denn Tacitus schildert das endlose Licht des Hochsommers auf den nördlichsten insulae des Reichs.

»Die Länge ihrer Tage ist jenseits des Maßes unserer {18}Welt: Die Nacht ist klar, und […] so kurz, dass man kaum das Zwielicht von der Dämmerung unterscheiden kann. Doch sofern die Wolken nicht stören, sagt man, sei die Helligkeit der Sonne die ganze Nacht zu sehen. Sie gehe weder auf noch unter, sondern ziehe über den Himmel.«1

Wäre die Flotte im Dezember gesegelt – einer Zeit tiefster Finsternis, die sich in einer scheinbar endlosen Nacht einen kurzen grauen Lichtstrahl wie »das Zuschlagen einer Kerkertür gönnt«, schrieb McWatt später –, wäre das eine andere Geschichte gewesen. Tacitus bemerkte die Fruchtbarkeit des Bodens, einen Himmel, »verschmutzt vom häufigen Regen«, und das weite Reich der See: »Nicht nur gegen das Ufer steigt oder fällt [der Regen], sondern er fließt tief hinein, schlängelt und bohrt sich zwischen Hügel und Berge, als wäre er ganz zu Hause.«

Die Pikten von Fascaray und ihre jung- und mittelsteinzeitlichen Vorgänger hinterließen kein schriftliches Zeugnis von ihrer Zeit auf der Insel. Im achten Jahrhundert waren die friedliebenden und des Lesens und Schreibens kundigen mönchischen Jünger des heiligen Maolrubha (sprich Mail-ruva, manchmal latinisiert als Rufus) auf Calasay eher daran interessiert, über die Meditationen ihres Ordensgründers nachzusinnen sowie über sein Märtyrertum in den Fängen der Heiden im Jahr 624 als am Aufzeichnen zeitlicher Dinge. Die erste Beschreibung von Fascaray (vom gälischen foisneach, freundlich, friedlich – und dem norwegischen ey – Insel) blieb marodierenden Normannen vorbehalten.

{19}In der Fascaringa Saga findet man einen nahezu zeitgenössischen Bericht von der Wikingerexpedition im Jahr 795, eingewickelt in eine Glückshaube des seinerzeit so geschätzten bombastischen Supranaturalismus. Dies war jungfräuliches, fruchtbares Land – en groenn ey av fridr og blidr –, und wenn es ein, zwei unberührte Maiden beherbergte – moer – und einen kahlgeschorenen pazifistischen munkr in Sackleinen, der über einem Schatz bibberte, umso besser. Die Invasoren, Männer mit Appetit, hätten sich eventuell kurz vom Finnverinnity Inn ablenken lassen, so es denn dort gestanden hätte, doch sie brauchten keine Schenke; sie brachten ihre eigenen Vorräte mit, mangat – in Ledersäcke eingenäht –, ein dunkles Ale, aus Heide gebraut, das sie in ihrem Vorsatz bestärkte und ihrem Vorhaben ein gewisses mörderisches Extra verlieh.

Die Fascaringa Saga, zusammengestellt von unbekannten Schreibern in den Jahren 800 bis 820, ist eine unablässige Bestandsaufnahme von Wollust, Gier, beiläufiger Brutalität, Zauberei und Machtkämpfen unter Wikingergöttern im rachsüchtigen Spiel. Sie skizziert beiläufig die Topographie der Insel, ihre Berge, Wasserwege und frühen Siedlungen, und dies so exakt wie ein beliebiger Wanderführer des einundzwanzigsten Jahrhunderts, schweigt sich dagegen über die genaue Natur der Umtriebe der sterblichen Krieger auf Fascaray aus, die unter der Führung des berüchtigten Sigtrygg Barelegs standen, von dem geschrieben steht: »Keine Klinge konnte ihm etwas anhaben, keine Stärke, die nicht nachgab, keine Dicke, die vor ihm nicht dünn wurde.«

Ein besserer Führer zur historischen Wahrheit war der Benediktinermönch Cedric Horven, ein glücklicher {20}Überlebender von Sigtryggs Massaker im dalriadischen Festlandkloster von Achadh an Uinnseann (Feld der Esche), jetzt Auchwinnie. Cedric tauchte aus seinem Versteck auf, um von dem Vormarsch der Invasoren über das westgälische Königreich zu berichten, und schilderte weitere Vorkommnisse in Auchwinnies Nachbarkloster St Dorcas.

Als die Äbtissin Ulla die Nachricht von den vorrückenden Wikingern vernahm, versammelte sie um Mitternacht ihre Gemeinschaft und erzählte von der heidnischen Schändung heiliger Orte, dem Hinschlachten von Männern und Knaben und dass Frauen – Matronen, Mädchen und Nonnen – zu Schamlosigkeit gezwungen würden. Sie appellierte an die göttliche Gnade, sie von dem »Zorn der Barbaren zu erlösen und die Heiligkeit ewiger Jungfräulichkeit zu bewahren«, und nötigte ihrer Gemeinde das Versprechen ab, ihrem Befehl in allem zu gehorchen und ein Beispiel an Keuschheit zu geben, »nicht nur zu eigenem Nutz und Frommen, vielmehr sollten auf ewig alle Jungfrauen diesem folgen.«2

Die Äbtissin Ulla ergriff sodann »ein scharfes Messer und schnitt sich die Nase und Oberlippe bis hinunter zu den Zähnen ab. Die Schwestern waren Augenzeuginnen dieses entsetzlichen Anblicks, sahen, dass ihr Tun in bewundernswerter Weise dem erwünschten Zweck diente, und reichten das Messer von einer zur anderen, wobei jede den gleichen Akt an sich selbst vollzog.«

{21}In der Dämmerung kamen die Räuber, nachdem sie ein anderes nahe gelegenes Kloster mit Kapelle geplündert und die Mönche abgeschlachtet hatten, über das Kloster...