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Philosophie pluraler Gesellschaften - 18 umstrittene Felder der Sozialphilosophie

Michael Reder

 

Verlag Kohlhammer Verlag, 2018

ISBN 9783170310117 , 188 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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22,99 EUR

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1.  Zum Einstieg


1.1  Drei philosophiehistorische Beispiele


(a) Als Max Horkheimer, einer der Begründer der kritischen Theorie, 1931 Direktor des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt wurde, hielt er einen Vortrag mit dem Titel Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie. Das Ziel der Sozialphilosophie beschrieb er dort als

»die philosophische Deutung des Schicksals der Menschen, insofern sie nicht bloß Individuen, sondern Glieder einer Gemeinschaft sind. Sie hat sich daher vor allem um solche Phänomene zu bekümmern, die nur im Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Leben der Menschen verstanden werden können: um Staat, Recht, Wirtschaft, Religion, kurz um die gesamte materielle und geistige Kultur der Menschen überhaupt.« (Horkheimer 1988, 20)

Mit diesem Zitat wird bereits einiges über die Sozialphilosophie ausgesagt. Zuerst argumentiert Horkheimer, dass es dieser philosophischen Teildisziplin weniger um den einzelnen Menschen als um die Gesellschaft als Ganze geht. Der methodische Individualismus, der Ausgangspunkt anderer philosophischer Disziplinen ist, wird dezidiert verlassen und Phänomene aus ihrem sozialen Zusammenhang heraus erklärt. Zweitens bestimmt Horkheimer die Sozialphilosophie als eine Reflexion der verschiedenen Teilbereiche der Gesellschaft. Sozialphilosophie denkt deshalb über Politik, Recht, Wirtschaft und Religion nach, insofern diese gesellschaftlich relevant sind. Schlussendlich weist Horkheimer auf den Unterschied von Gemeinschaft und Gesellschaft hin, der innerhalb der Sozialphilosophie einen wichtigen Stellenwert einnimmt. Gemeinschaft markiert dabei den engeren Raum sozialer Beziehungen, die z. B. durch geteilte Wertvorstellungen oder Habitusformen gekennzeichnet sind, wohingegen Gesellschaft als das weitere Feld der funktional ausdifferenzierten Beziehungen bestimmt wird.

(b) Hannah Arendt ist eine politische Philosophin, die in den vergangenen Jahren wieder vermehrt Aufmerksamkeit in der sozialphilosophischen Forschung erhalten hat. Wie bei Horkheimer ist auch ihr philosophisches Denken eng mit ihrer Biographie verbunden. Nach dem Studium bei Karl Jaspers und Martin Heidegger musste sie 1933 in die USA emigrieren. Arendt steht nicht explizit in der Tradition der kritischen Theorie von Horkheimer und Theodor W. Adorno, auch wenn viele ihre Überlegungen Parallelen zu diesen aufweisen. Zudem ist auch ihre politisch ausgerichtete Sozialphilosophie eine Antwort auf die Erfahrungen des Nationalsozialismus in Deutschland. In einem kleinen Text von 1943 (Arendt 1943/1986) verarbeitet sie beispielsweise ihre Erfahrung der Flucht und gibt Hinweise darauf, welche Akzente die Sozialphilosophie setzen sollte.

Dabei argumentiert sie zuerst, dass sich mit dem 2. Weltkrieg die Formen der Flucht stark verändert haben. Nicht nur die große Zahl der Menschen, die ihre Heimat verlassen mussten, ist symptomatisch dafür, sondern auch die Gründe, aus denen sie dies tun mussten.

»Als Flüchtling hatte bislang gegolten, wer aufgrund seiner Taten oder seiner politischen Anschauungen gezwungen war, Zuflucht zu suchen. […] Mit uns hat sich die Bedeutung des Begriffs ›Flüchtling‹ gewandelt. ›Flüchtlinge‹ sind heutzutage jene unter uns, die das Pech hatten, mittellos in einem neuen Land anzukommen, und auf die Hilfe des Flüchtlingskomitees angewiesen waren.« (Arendt 1943/1986, 18)

In einer globalisierten Welt ist diese Beschreibung des Phänomens der Flucht aktueller denn je. Gleichzeitig zeigt sie auch auf, dass die Flucht massive Auswirkungen auf die Flüchtlinge selbst hat.

»Wir haben unser Zuhause und damit die Vertrautheit des Alltags verloren. Wir haben unseren Beruf verloren und damit das Vertrauen eingebüßt, in dieser Welt irgendwie von Nutzen zu sein. Wir haben unsere Sprache verloren und mit ihr die Natürlichkeit unserer Gebärden und den ungezwungenen Ausdruck unsere Gefühle. Wir haben unsere Angehörigen in polnischen Ghettos zurückgelassen und unsere besten Freunde wurden in Konzentrationslagern getötet, was einen Zusammenbruch unserer privaten Welt zur Folge hat.« (Arendt 1943/1986, 19)

Es entstehen weltweit also große Gruppen von geflüchteten Menschen, die Gesellschaften prägen und auch verändern.

Für die Reflexion der Situation der Flüchtlinge ist die Kategorie der sozialen Identität nach Arendt besonders relevant, weil Menschen durch die Umstände gezwungen werden, ihre soziale Identität aufzugeben und sich in den neuen (kulturellen) Kontexten neu zu entwerfen. Das Vertraute, das für die menschliche Gestaltung des Sozialen eine große Rolle spielt, geht dabei verloren, was vielfach Ängste für die betroffenen Menschen mit sich bringt. Gleichzeitig hält sie fest, dass viele Menschen in den Aufnahmeländern scheinbar genau wüssten, wie man sich verhalten sollte, was die Probleme, die mit den Suchprozessen der sozialen Identität verbunden sind, noch einmal verschärft.

»Nur sehr wenige Individuen bringen die Kraft auf, ihre eigene Integrität zu wahren, wenn ihr sozialer, politischer und juristischer Status verworren ist. Weil uns der Mut fehlt, eine Veränderung unseres sozialen und rechtlichen Status zu erkämpfen, haben wir uns stattdessen entschieden […] einen Identitätswechsel zu versuchen. Und dieses kuriose Verhalten macht die Sache noch viel schlimmer.« (Arendt 1943/1986, 20)

Einen letzten Impuls, der für die Sozialphilosophie bis heute besonders relevant ist, gibt Arendt durch ihr Nachdenken über das Verhältnis von sozialer Identität und Politik bzw. Recht, das bereits in dem vorangegangenen Zitat zum Ausdruck kam. Denn die Gestaltung sozialer Beziehungen und ihre nachträgliche gesellschaftlichen Deutung hängen ihrer Ansicht nach immer auch stark von politischen und rechtlichen Bedingungen ab. In diesem Kontext formuliert sie die bis heute viel zitierte Grundforderung jedes Menschen nach dem Recht, Rechte zu haben.

»Dass es so etwas gibt wie ein Recht, Rechte zu haben – und dies ist gleichbedeutend damit, in einem Beziehungssystem zu leben, in dem man aufgrund von Handlungen und Meinungen beurteilt wird –, wissen wir erst, seitdem Millionen von Menschen aufgetaucht sind, die dieses Recht verloren haben und zufolge der neuen globalen Organisation der Welt nicht imstande sind, es wiederzugewinnen.« (Arendt 1955/2001, 614)

Mit diesen sozialphilosophischen Überlegungen zum Phänomen der Flucht, kann mit Arendt auf zwei für die Sozialphilosophie besonders wichtige Aspekte aufmerksam gemacht werden. Zum einen muss die Sozialphilosophie heute immer schon eine globale Perspektive eröffnen, wenn sie sich sozialen Phänomenen zuwenden will. Denn die Implikationen von Flucht für Menschen und Gesellschaften sind beispielsweise nur überzeugend thematisierbar, wenn auf globale Zusammenhänge geachtet und diese philosophisch verarbeitet werden. Zum anderen zeigen ihre Reflexionen, dass soziale Dynamiken immer auch eine politische Dimension aufweisen, weshalb die Sozialphilosophie herausgefordert ist, über die politischen Aspekte des Zusammenlebens der Menschen nachzudenken. Dies ist ein erster Hinweis auf das enge Verhältnis von Sozialphilosophie und politischer Philosophie.

(c) Die Diskussionen über die kritische Theorie und ihre Übersetzung in die Gegenwart prägen bis heute sozialphilosophische wie öffentliche Debatten. Eine dieser Debatten, in der diese Auseinandersetzung um das Erbe der kritischen Theorie pointiert zum Ausdruck gekommen ist, haben 2009 die beiden Philosophen Peter Sloterdijk und Axel Honneth geführt.

Sloterdijk, ein Provokateur der deutschen Philosophieszene, beginnt seine Überlegungen mit Rousseaus Diskurses über die Ungleichheit.

»Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und es sich einfallen ließ zu sagen: Das gehört mir!, und der Leute fand, die einfältig (simples) genug waren, ihm zu glauben, ist der wahre Gründer der bürgerlichen Gesellschaft (société civile).« (Rousseau 1755/2008, 173)

Eigentum ist auf der Basis solcher Überlegungen zum Fundament gesellschaftlichen Zusammenlebens der Moderne geworden. Moderne Gesellschaften haben als Reaktion darauf eine nachträgliche Heiligung gewaltsamer Landnahme durchgeführt, so seine These.

Sloterdijk referiert als Entgegnung auf dieses Argument auf Karl Marx, der die Spannungen moderner kapitalistischer Gesellschaften paradigmatisch analysiert hat (vgl. 4.2). Insbesondere fokussiert er auf das problematische Verhältnis zwischen Arbeiter*innen und Kapitalist*innen. Weil Eigentum für Marx letztlich eine Form des Diebstahls ist, kommt eine Korrektur dieser Eigentumsordnung auf die politische Agenda. Diese Idee liegt nach Sloterdijk nach wie vor dem modernen Sozialstaat zugrunde. Deshalb könne »gegen den ursprünglichen Diebstahl seitens der wenigen nur ein sittlich berechtigter Gegendiebstahl seitens der vielen Abhilfe schaffen.« (Sloterdijk 2009) Weil die Wirtschaft vom linken politischen Lager als eine Kleptokratie gedeutet wird, plädiere dieses Lager für eine sozialstaatliche Umverteilung. Sloterdijk schlussfolgert deshalb, dass die wirklich nehmende Hand der zeitgenössische Sozialstaat ist. Der Staat hat sich »binnen eines Jahrhunderts zu einem geldsaugenden und geldspeienden Ungeheuer von beispiellosen Dimensionen ausgeformt.« (Sloterdijk 2009) Es wird eine gewaltsame Umverteilung durch den Sozialstaat im Namen der Gerechtigkeit vollzogen, so seine Kritik. Das sei letztlich eine getarnte Ausbeutung ähnlich des Feudalismus – nur geschickter angestellt.

»Voll...