dummies
 

Suchen und Finden

Titel

Autor/Verlag

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Hippie

Paulo Coelho

 

Verlag Diogenes, 2018

ISBN 9783257609325 , 304 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

9,99 EUR


 

{11}Im September 1970 befanden sich zwei Orte im Wettstreit um das Privileg, als Mittelpunkt der Welt zu gelten: Piccadilly Circus in London und der Dam in Amsterdam. Allerdings sahen dies nicht alle Menschen so. Die meisten hätten auf die Frage wohl geantwortet: das Weiße Haus in Washington und der Kreml in Moskau. Denn die meisten Menschen bezogen ihre Informationen aus Presse, Radio und Fernsehen, also durch bereits damals vollkommen überholte Kommunikationsmittel, die niemals mehr die Bedeutung haben würden wie zur Zeit ihrer Erfindung.

Im September 1970 waren Flugtickets sehr teuer, was nur einer Elite erlaubte zu reisen. Zu dieser Elite gehörte natürlich nicht die überwältigende Mehrzahl aller Jugendlichen, die in den herkömmlichen Kommunikationsmitteln nur auf ihr Äußeres reduziert wurden: lange Haare, bunte Kleidung, ungewaschen – eine glatte Lüge, aber diejenigen, die Zeitung lasen, kannten ja keine dieser Jugendlichen, und die Erwachsenen glaubten jeder angeblichen Nachricht, die imstande war, jene herabzuwürdigen, die sie für eine »Bedrohung der Gesellschaft und der guten Sitten« hielten. Mit ihrer schlimmen Zügellosigkeit und der »freien Liebe« brachten sie in ihren Augen eine ganze Generation von fleißigen jungen Männern und Frauen in Gefahr, die {12}versuchten, es im Leben zu etwas zu bringen. Jenseits der überholten Kommunikationsmittel verfügte diese immer größer werdende Menge junger Menschen jedoch über ein eigenes System der Nachrichtenverbreitung, das für diejenigen, die nicht dazugehörten, nicht wahrnehmbar war.

Der »Unsichtbaren Zeitung« lag nichts daran, das neue Volkswagenmodell oder die neuen Waschmittel, die überall auf der Welt herausgebracht wurden, bekannt zu machen oder zu kommentieren. Ihre Nachrichten beschränkten sich auf die Frage, welches die Route für die nächste Reise ebenjener unverschämten, schmutzigen Jugendlichen sein würde, die die »freie Liebe« praktizierten und Kleidung trugen, die kein Mensch mit gutem Geschmack anziehen würde. Die jungen Frauen trugen Blumen im geflochtenen Haar, lange Röcke, bunte Blusen, keine Büstenhalter, dazu bunte Ketten aus unterschiedlichsten Materialien; die jungen Männer, seit Monaten unrasiert, das Haar lang, trugen zerschlissene Jeans – sie hatten natürlich meist nur diese eine, denn Jeans waren überall auf der Welt teuer, außer in den USA, wo sie mittlerweile nicht mehr die typischen Hosen von Fabrik- und Feldarbeitern waren, sondern auch von allen Jugendlichen bei riesigen Konzerten in San Francisco und anderswo getragen wurden.

Die »Unsichtbare Zeitung« war entstanden, weil die jungen Leute sich bei diesen Konzerten darüber austauschten, wo sie sich als Nächstes treffen und wie sie die Welt entdecken könnten – ohne in einen Touristenbus steigen zu müssen, in dem Reiseleiter auf die immer gleiche Weise Landschaften kommentierten, während sich die Jüngeren langweilten und die Alten schliefen. Und so wurde von {13}Mund zu Mund weitergegeben, wo das nächste Konzert stattfinden und welches die nächste angesagte Reiseroute sein würde.

Und auch aus finanziellen Gründen wurde niemand ausgeschlossen, denn das wichtigste Buch dieser Gemeinschaft hieß Europe On Five Dollars a Day, geschrieben von Arthur Frommer. Darin konnten alle erfahren, wo man für wenig Geld unterkommen konnte, was man gesehen haben musste, wo man preiswert essen und welches die Treffpunkte und Orte waren, an denen man Live-Musik hören konnte. Das einzige Manko war, dass Frommer damals seinen Reiseführer auf Europa beschränkt hatte. Gab es denn keine anderen interessanten Orte? Wollten die Leute lieber nach Paris als nach Indien reisen? Aber die »Unsichtbare Zeitung« machte auch eine Route in Südamerika bekannt, nämlich die in die alte, hoch in den Anden gelegene Ruinenstadt Machu Picchu, wobei aber allen eingeschärft wurde, nicht mit Nicht-Hippies darüber zu sprechen. Andernfalls hätte der Ort schon bald eine Invasion von Barbaren mit Fotoapparaten und von Reiseleitern zu befürchten, die den Touristen langatmig erklärten, wie die Indios mit ihren primitiven Mitteln eine so gut versteckte Stadt hatten bauen können.

Aber gerechterweise sollte noch ein anderes Buch erwähnt werden, das zwar nicht so populär war wie Frommers Buch, aber von Leuten verschlungen wurde, die bereits ihre sozialistische, marxistische, anarchistische Phase hinter sich hatten. Es hieß Aufbruch ins dritte Jahrtausend und entstammte der Feder des Franzosen Louis Pauwels und des in der Ukraine geborenen Mathematikers, Ex-Spions und {14}unermüdlichen Erforschers des Okkultismus Jacques Bergier. Dieses Buch wurde von all jenen gelesen, die von der marxistischen Bewegung enttäuscht und davon überzeugt waren, dass die Behauptung, Religion sei »das Opium des Volkes«, nur von jemandem stammen könne, der nichts vom Volk und noch weniger von Opium verstand. Denn zum Glauben dieser schlechtgekleideten Jugendlichen gehörten Gott, Götter, Göttinnen, Engel und dergleichen. Und Pauwels und Bergier waren zudem von der Existenz von Alchimisten und Magiern überzeugt. Das Buch wurde zwar nie zu einem großen Verkaufserfolg, denn es war extrem teuer – dafür wurde jedes Exemplar von mindestens zehn Personen gelesen. Da in Pauwels’ und Bergiers Buch Machu Picchu vorkam, wollten alle dorthin, nach Peru.

*

So trafen sich dort bald junge Leute aus aller Welt, zumindest aus dem Teil der Welt, in dem es, anders als etwa in der Sowjetunion, Reisefreiheit gab. Sie begaben sich auf die sogenannten »Hippie-Trails«, obwohl viele von ihnen gar nicht wussten, was das Wort »Hippie« genau bedeutete, aber das war letztlich auch uninteressant. Vielleicht bedeutete es ja auch so etwas wie »großer Stamm ohne Anführer« oder »Outlaws, die keine Überfälle machen«.

 

Um reisen zu können, brauchten die Jugendlichen Reisepässe, jene kleinen von der Regierung gelieferten Heftchen, die mit dem Geld (gleichgültig ob viel oder wenig) in eine am Gürtel befestigte Tasche gesteckt wurden und {15}zwei Zwecke erfüllten. Der erste war natürlich, dass man damit Grenzen überschreiten konnte – solange einen die Grenzbeamten nicht zurückschickten, weil sie sich von dem beeinflussen ließen, was sie in den Zeitungen lasen. Diesen Nachrichten zufolge handelte es sich bei den ungewohnt aussehenden Menschen mit den langen Haaren, den Blumen und Glasperlenketten, die da vor ihnen auftauchten, um Drogensüchtige, die sich im Zustand ständiger Ekstase befanden.

Der zweite Zweck des Reisepasses war, seinen Inhabern bei extremer Geldknappheit zu helfen. Die besagte »Unsichtbare Zeitung« lieferte stets Informationen über die Orte, an denen Reisepässe verkauft werden konnten. Der Preis richtete sich nach dem Land: Ein Pass aus Schweden, wo alle blond, groß und blauäugig waren, gehörte nicht zu den beliebtesten. Aber ein brasilianischer Pass war auf dem Schwarzmarkt ein Vermögen wert – weil Brasilen ein Land war, in dem es neben blonden, großen und helläugigen auch große und kleine Schwarze mit dunklen Augen, Orientalen mit Mandelaugen, Mulatten, Indios gab, kurz und gut, weil Brasilien ein riesiger Schmelztiegel von Kulturen war, was den Pass zu einem der begehrtesten des Planeten machte.

Hatte er seinen Pass verkauft, ging der ursprüngliche Inhaber des Reisepasses zum Konsulat seines Landes, mimte dort den Verzweifelten, der überfallen und dem alles gestohlen worden war, allem voran Geld und Pass. Die Konsulate der reicheren Länder boten Pass und Rückflugtickets an. Die Konsulate armer Länder, bei denen es sich oft um Militärdiktaturen handelte, stellten regelrechte Verhöre an, um herauszufinden, ob der Antragsteller womöglich auf {16}der Liste gesuchter »Terroristen« stand. Wurde festgestellt, dass das Mädchen oder der Junge sauber war, mussten ihnen die Konsulate wohl oder übel einen neuen Pass ausstellen. Rückflugtickets jedoch boten sie keine an, weil kein Interesse an Personen bestand, die womöglich im Heimatland die lokale, im Respekt vor Gott, Familie und dem Besitz erzogene Jugend negativ beeinflussen würden.

*

Doch zurück zu den Reiserouten der Hippies: Nach Machu Picchu war Tiahuanaco in Bolivien dran. Dann Lhasa in Tibet, wo die Einreise äußerst schwierig war, weil es, der »Unsichtbaren Zeitung« zufolge, einen Krieg zwischen den Mönchen und den chinesischen Soldaten gab. Genaues wusste man zwar nicht, aber niemand wollte riskieren, eine endlos weite Reise anzutreten, um am Ende Gefangener der Mönche oder der Soldaten zu werden. Indien wurde das nächste Ziel. Die Beatles, die sich im April 1968 getrennt hatten und die für viele Jugendliche zu den großen Philosophen der Epoche gehörten, hatten nämlich kurz zuvor verkündet, dass die größte Weisheit des Planeten in Indien zu finden sei. Das allein genügte, damit junge Menschen aus der ganzen Welt auf der Suche nach Weisheit, Wissen und Erleuchtung dorthin reisten.

Damals kursierte allerdings das Gerücht, Maharishi Mahesh Yogi habe Mia Farrow, die auf Einladung der Beatles in seinem Ashram zu Gast war, Avancen gemacht, obwohl die Filmschauspielerin gerade nach Indien gekommen war, um sich dort von sexuellen Traumata heilen zu lassen, die sie wie {17}ein schlechtes Karma verfolgten. Angeblich, so das Gerücht weiter, habe sie in der großen Höhle des Gurus meditiert, als dieser sie zum Sex nötigte. Als Mia ihnen tränenüberströmt von dem Vorfall erzählte, packten George Harrison und John Lennon umgehend die Koffer, und als der Erleuchtete kam und fragte, was da los sei, war Lennons Antwort: »If...