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Happy End

Amélie Nothomb

 

Verlag Diogenes, 2018

ISBN 9783257609219 , 192 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

{7}Als Énide mit achtundvierzig Jahren ihr erstes Kind erwartete, fieberte sie der Entbindung entgegen wie andere einer Partie Russisch Roulette. Trotzdem freute sie sich über die lang ersehnte Schwangerschaft, die sie erst im sechsten Monat bemerkt hatte.

»Aber ich bitte Sie, Madame, Ihre Monatsblutungen sind ein halbes Jahr ausgeblieben!«, wunderte sich der Arzt.

»In meinem Alter habe ich das für normal gehalten.«

»Und was ist mit Übelkeit und Erschöpfung?«

»Das war für mich nichts Neues.«

Der Arzt musste einräumen, dass ihr kaum gerundeter Bauch nicht besonders auffiel. Énide gehörte zu dieser Art kleiner, zarter Frauen, die nie besonders weiblich wirken und übergangslos vom jungen Mädchen zur alten Jungfer mutieren.

Als es so weit war, bekam sie es mit der Angst zu tun. Sie hatte das Gefühl, dass eine Katastrophe im Anzug war, gegen die sie nichts unternehmen konnte. Ihr Mann saß im Krankenhaus an ihrem Bett und hielt ihr die Hand.

{8}»Ich schaffe das nicht!«, jammerte sie.

»Das wird schon!«, sprach er ihr Mut zu.

Aber da war er sich selbst nicht so sicher. Énide hatte während der ganzen Schwangerschaft kein Gramm zugenommen. Das Baby in ihrem Bauch sei am Leben, wurde ihnen versichert. Man brauchte schon Phantasie, um daran zu glauben.

Der Arzt erklärte, er werde einen Kaiserschnitt vornehmen, weil das die einzige Möglichkeit sei. Das beruhigte die beiden ein wenig.

Sie wussten, dass es ein Junge sein würde. Da Énide ihn als ein Geschenk Gottes betrachtete, wollte sie ihn Déodat taufen.

»Warum nicht Théodore? Das bedeutet dasselbe«, gab ihr Mann zu bedenken.

»Die besten Männer der Welt haben einen Namen, der auf -at endet«, antwortete sie.

Da musste Honorat lächeln.

 

Als die Eltern das Baby zum ersten Mal sahen, fielen sie aus allen Wolken. Es sah aus wie ein neugeborener Greis, faltig, die Augen kaum geöffnet, der Mund eingefallen – richtig abstoßend.

Énide war so entsetzt, dass es ihr die Sprache verschlug. Mit Müh und Not schaffte sie es, den Arzt zu fragen, ob ihr Sohn normal sei.

»Er ist vollkommen gesund, Madame.«

{9}»Und warum ist er so faltig?«

»Er ist ein bisschen dehydriert. Das gibt sich.«

»Und wie klein und dünn er ist!«

»Er kommt eben ganz nach der Mama.«

»Ehrlich gesagt, Herr Doktor, finde ich, dass er schauderhaft aussieht.«

»Das traut sich kaum jemand zu sagen, Madame, aber Babys sind fast immer hässlich, müssen Sie wissen. Trotzdem macht das hier einen guten Eindruck, darauf gebe ich Ihnen mein Wort.«

Alleingelassen mit ihrem hässlichen Sohn, fanden sich die Eltern schließlich damit ab und beschlossen, ihn zu lieben.

»Vielleicht sollten wir ihn Riquet mit der Locke nennen?«, schlug Énide vor.

»Nein, Déodat ist sehr schön«, erwiderte der frischgebackene Vater und lächelte tapfer.

Zum Glück hatten sie kaum Familie und nicht viele Freunde. Dennoch mussten sie Situationen ertragen, in denen die Höf‌lichkeit der Besucher deren Entsetzen nicht ganz verbergen konnte. Énide beobachtete die Gesichter derjenigen, die ihr Baby zum ersten Mal sahen, und litt jedes Mal Höllenqualen, wenn sie ein Zucken des Abscheus darin entdeckte. Einem bedrückenden Schweigen folgte dann meist eine mehr oder minder peinliche Bemerkung: »Genau wie sein Urgroßvater, als der {10}auf dem Totenbett lag!«, oder: »Schaut ja ein bisschen sonderbar aus der Wäsche! Gott sei Dank ist es ein Junge!«

Die böse Tante Épziba schoss den Vogel ab.

»Meine arme Énide!«, säuselte sie. »Hast du dich denn schon halbwegs wieder erholt?«

»Ja, es gab ja keine Komplikationen bei dem Kaiserschnitt.«

»Nein, ich meine von dem Schrecken über das kleine Scheusal!«

Geschlagen verließen die Eltern das Krankenhaus und verkrochen sich in ihrem Zuhause.

»Schwöre mir, Liebster, dass wir keinen Besuch mehr empfangen!«, bat Énide.

»Ich schwöre es dir, Liebste!«, versprach Honorat.

»Hoffentlich hat Déodat von der Niedertracht und Gehässigkeit der Menschen nichts gespürt. Er ist ja so lieb, weißt du. Als ich ihn stillen wollte und er begriffen hat, dass es nicht funktioniert, hat er mich angelächelt, als wollte er mir sagen: Ist nicht so wichtig.«

Honorat fand das bedenklich. ›Verliert sie jetzt den Verstand?‹, fragte er sich. Énide war immer schon äußerst empfindsam gewesen, körperlich wie seelisch. Mit fünfzehn war sie von der Ballettschule der Pariser Oper verwiesen worden, und zwar aus {11}einem in der Geschichte dieses hervorragenden Hauses bis dato noch nie dagewesenen Grund: wegen übertriebener Magerkeit.

»Wir wussten gar nicht, dass so etwas möglich ist«, sagte die Prüferin.

Bei einer Größe von einem Meter fünfzig war an eine Modelkarriere nicht zu denken. Énide bekam gerade noch ihr Zeugnis – hauptsächlich deshalb, weil die Lehrer in ihr immer noch die künftige Primaballerina sahen.

Da sie sich nicht traute, den Eltern ihr Scheitern zu gestehen, setzte sie sich jeden Morgen auf den Vorplatz der Oper und blieb dort bis zum Abend. Dort sah sie Honorat, damals Kochlehrling an der Ballettschule, ein junger Mann von siebzehn Jahren, rund an Körper und Geist, und verliebte sich Hals über Kopf in das dünne Mädchen.

»Du könntest doch bestimmt etwas Besseres finden als eine Selbstmordkandidatin«, sagte sie.

»Heirate mich!«, bat er.

»Dazu bin ich nicht gewichtig genug.«

»Zu zweit sind wir es.«

Da sie für sich keine andere Zukunft mehr sah, nahm Énide den Antrag an. Der Code Napoléon schrieb damals noch für eine Ehe das Mindestalter von fünfzehn Jahren bei Mädchen und achtzehn bei Jungen vor. Deshalb mussten die beiden noch ein {12}Jahr warten, bis sie in der Église de Saint-Augustin heiraten konnten.

Sie wurden sehr glücklich. Zu ihrer eigenen Überraschung verliebte sich Énide leidenschaftlich in den rundlichen Jungen. Seine bedingungslose Freundlichkeit und Geduld beeindruckten sie. Er stieg rasch auf und wurde Chefkoch der Schule. Die Ballettratten ermahnten ihn ständig, weniger Butter und Sahne zu verwenden, worauf er ihnen versicherte, dass er diese Zutaten seit langer Zeit nicht mehr kauf‌te.

»Aber warum schmeckt es dann so gut?«, wollten die Jungballerinen wissen.

»Weil ich mit Liebe koche.«

»Macht Liebe dick? Sie sind ja recht rund!«

»Das ist bei mir angeboren. Aber schaut meine Frau an, dann wisst ihr, dass Liebe dünn macht.«

Das war zwar ein Scheinargument, denn Énide war schon immer so zart gewesen, aber es half ihm, die Ballettratten, die ihn zu ihrem Leibkoch ernannt hatten, zu beruhigen.

 

Mehr als dreißig Jahre verflogen in einem so vollkommenen Glück, dass die Liebenden die Zeit kaum bemerkten. Allerdings war Énide oft traurig darüber, dass sie keine Kinder hatten.

»Wir sind die Kinder«, tröstete Honorat sie dann.

{13}Tatsächlich lebten sie in kindlicher Unbeschwertheit. Nach der Arbeit eilte er immer gleich heim zu seiner Frau. Dann spielten sie Karten oder Mensch-ärgere-dich-nicht. Wenn in den Tuilerien Jahrmarkt war, verbrachten sie viele Stunden dort, am liebsten am Schießstand, obwohl sie beide die lausigsten Schützen waren, die man sich vorstellen kann. Wenn ihnen schlecht wurde, weil sie zu oft Riesenrad gefahren waren und zu viel Zuckerwatte gegessen hatten, schlenderten sie Hand in Hand zurück zur Oper.

Énide war nie ganz gesund, aber was machte das schon? Ihre Krankheiten waren glücklicherweise allesamt harmlos und wurden so ausführlich zelebriert, wie sie es sich nur wünschen konnte. Honorat brachte ihr ein Tablett mit Toast und Heidelbeergelee und einem leichten Tee ans Bett. Nachdem er abgeräumt hatte, legte er sich zu ihr und drückte sie an sich. Sein gutgepolsterter Körper saugte den Schweiß der Fiebernden ebenso auf wie die Ausdünstungen der Hustenden. Durch das Fenster ihres Schlafzimmers unter dem Dach der Oper betrachteten sie Paris, das sich nur für sie seit Cocteau nicht verändert hatte. Nicht jedem ist die Anmut seiner Kinder der Nacht gegeben.

 

{14}Déodats Geburt war eine harte Landung. Nolens volens wurden die beiden Liebenden zu jener Sorte Erwachsener, die man als Eltern bezeichnet. Der Umstand, dass sie viel länger Kind gewesen waren als der Durchschnitt, stand ihnen jetzt im Weg. So dachten sie aus alter Gewohnheit nach dem Aufwachen als Erstes an ihr Vergnügen.

Dann fiel es Honorat wieder ein, und er rief: »Der Kleine!«

Das Baby, das die Enttäuschung seiner Eltern gleich gespürt hatte, verhielt sich von Anfang an unauf‌fällig. Nie hörte man es weinen. Auch wenn es Hunger hatte, wartete es geduldig auf das Fläschchen, an dem es dann mit der ekstatischen Gier eines Mystikers saugte. Da Énide Mühe hatte, das Grauen, das ihr sein Gesicht einflößte, zu verbergen, lernte es sehr schnell zu lächeln.

Sie war ihm dafür dankbar und liebte es. Ihre Liebe war umso größer, als sie befürchtet hatte, keine empfinden zu können. Sie ahnte, dass sich Déodat seines abstoßenden Äußeren bewusst war und ihr dabei geholfen hatte, ihren Widerwillen zu überwinden.

»Unser Sohn ist intelligent«, verkündete sie.

Und sie hatte recht: Der Säugling verfügte über jene höhere Form der Intelligenz, die man den Sinn für andere nennen könnte. Der klassischen {15}Intelligenz mangelt es meist an dieser mit der Sprachbegabung vergleichbaren Tugend: Wer darüber verfügt, weiß, dass jede Person wie eine eigene Sprache ist, die man lernen kann, wenn man ihr mit...