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Becks letzter Sommer

Benedict Wells

 

Verlag Diogenes, 2018

ISBN 9783257609271 , 464 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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10,99 EUR


 

{73}TRACK 2 »Buckets Of Rain«


Der zweite Song: Über ein bewusstseinsveränderndes Abendessen bei Familie Kantas, unvermutete Wendungen und Charlies Zusammenbruch.

1


Am Ende der Osterferien saß Beck mit einigen jungen Kollegen im ›Schiff‹, einer urigen Kneipe in Schwabing. Beck ging öf‌ter mit Referendaren weg, um sich jung vorzukommen. Er hatte ohnehin das Gefühl, noch immer in den Zwanzigern zu stecken – der älteste Twen der Welt. Er war nicht siebenunddreißig, sondern siebzehnundzwanzig.

Während die Kollegen Ernst Mayer, Georg Keller und Oliver Schmidtbauer über schwachsinnige Schüler herzogen, war Beck jedoch in Gedanken woanders. Er musste wie so oft in letzter Zeit an den Jungen denken. Rauli Kantas war in den vergangenen Wochen zu einer festen Größe in seinem Leben geworden. Zwar entwickelte sich die Familiengeschichte des notorisch lügenden Litauers allmählich zu einer Farce (aktueller Stand: Sein Vater war wieder am Leben und arbeitsloser Hausmeister in München, dafür hatte er keine Großmutter und keine Schwestern mehr, {74}sondern nur einen älteren Bruder, den er weiterhin Genadij nannte), mit der Musik lief es dagegen umso besser. Beck war in Höchstform!

Noch immer jammten er und Rauli zusammen nach Schulschluss. Und abends saß Beck zu Hause, rauchte sein Dope und schrieb neue Songs für den Jungen, die alle zum Besten gehörten, was er jemals zu Papier gebracht hatte. Er dachte inzwischen ernsthaft daran, mit Rauli eine Demo-CD aufzunehmen. Den Vertrag, der ihn zum Manager des Jungen machte, hatte er bereits aufgesetzt. Zum ersten Mal seit einer Ewigkeit sah Beck die Chance, aus dem Gefängnis seines Lehrerdaseins auszubrechen.

In diesem Moment stieß ihn Oliver Schmidtbauer an. »He, Robert, hast du mitbekommen, dass die jetzt in der Zwölf‌ten Drogentests gemacht haben? Zwei Kif‌fer sind schon geflogen.«

Beck konnte, wenn er ehrlich war, diesen Referendar Schmidtbauer nicht leiden. Er war zu jung, zu gutaussehend. Und zu beliebt. Er war im Prinzip der Lehrer, der Beck immer hatte sein wollen, und das gefiel ihm gar nicht.

»Ja, ja, davon hab ich gehört«, murmelte er nur.

»Es heißt, die bekommen das Zeug alle von einem neuen Dealer.«

»Hm.«

»Die wollen jetzt auch bei uns im Kollegenkreis testen«, sagte Schmidtbauer.

Plötzlich war Beck hellwach. Es lief ihm heißkalt den Rücken hinunter. »Was? Wieso wollen die uns testen? Das ist doch absurd, ich meine, was soll das, das …«

Die anderen Referendare lachten.

{75}»Komm schon, Robert«, sagte Schmidtbauer. »Das war doch nur ein Witz. Brauchst dich nicht gleich so aufzuregen … Oder gibt es da was, das du uns erzählen möchtest?«

Jetzt lachten die anderen noch mehr.

Na warte, dachte Beck. Ihm wurde klar, dass er diesen Schmidtbauer eigentlich richtig hasste. Dem ging’s wohl zu gut, da musste man mal ein bisschen gegensteuern. Zieh dich warm an, Schmidtbauer, dachte Beck, das kann hier nämlich noch ganz schön ungemütlich für dich werden.

Da klingelte sein Handy. Charlie. Er sagte mit tiefer Stimme, Beck solle sich besser erst mal setzen.

»Wieso, was ist denn?«, fragte Beck.

»Ich werde sterben.«

Fünf Gespräche zwischen Charlie und Beck:

GESPRÄCH 1

Vor dreizehn Jahren, Anfang 1986. Charlie und Beck gehen gemeinsam von einer Bandprobe nach Hause. Charlie ist seit kurzem der neue Schlagzeuger der Band. Deutlich jünger als die anderen, aber mit Abstand der Beste, der sich auf die Anzeige hin beworben hatte. Unterwegs erzählt er zum ersten Mal von seiner Befürchtung, krank zu sein.

CHARLIE:

»Ich habe so ein dumpfes Pochen in meinem Kopf, und irgendwie seh ich nicht mehr so gut. Ich hab gestern im Radio einen Bericht darüber gehört. Ich glaube, es ist ein Tumor.«

BECK, damals noch ehrlich besorgt und überrascht:

»Vielleicht solltest du zum Arzt gehen? Mit solchen Dingen wartet man nicht.«

{76}CHARLIE:

»Ich hab Angst, dass ich sterbe.«

BECK:

»Dann geh zum Arzt.«

CHARLIE:

»Wahrscheinlich sollte ich mich mal durchchecken lassen, eine Blutuntersuchung und so.«

BECK:

»Unbedingt, vielleicht finden die ja was.«

GESPRÄCH 2

Mehrere Wochen danach. Charlie hat inzwischen alle paar Tage einen neuen Verdacht. Beck ist zunehmend genervt.

CHARLIE:

»In meinem Blut ist zu wenig Eisen.«

BECK:

»Und?«

CHARLIE:

»Das ist nicht gut.«

BECK:

»Das ist mir schon klar, dass das nicht gut ist, denn es ist ja zu wenig davon da. Die Frage ist, was machst du jetzt?«

CHARLIE:

»Keine Ahnung. Ich fühle mich einfach schlecht.«

BECK:

»Ich finde, du steigerst dich da zu sehr rein.«

CHARLIE:

»Ach was.«

BECK:

»Ich hab nur Angst, dass du irgendwann eines von diesen Hypochonder-Arschlöchern wirst, die Flugangst haben und dauernd denken, sie sind todkrank.«

CHARLIE:

»Du übertreibst doch. Ich bin momentan einfach nur schlecht drauf. Ich weiß, dass ich krank bin, ich will nur wissen, was los ist, das ist alles.«

GESPRÄCH 3

Zwei Jahre und unzählige tödliche, nie wahr gewordene Krankheiten später. Beck und Charlie besaufen sich in Becks Wohnung, als Charlie tief Luft holt.

CHARLIE:

»Du, ich muss dir etwas sagen, etwas Ernstes. Ich hab heute mein Blut untersuchen lassen, du weißt schon, wegen dieser Sache von letzter Woche. Ich bin mir ziemlich sicher, dass da was ist. Und gestern hab ich irgendwie so einen Stich {77}in meinem Herz gefühlt. Vielleicht eine Herzrhythmusstörung oder ein Herzklappenfehler.«

BECK, sein Bier trinkend:

»Leck mich am Arsch.«

GESPRÄCH 4

Fünf Jahre später. Charlie und Beck sitzen in Becks Wohnzimmer und essen Leberkässemmeln.

CHARLIE, kauend:

»Kennst du dieses Gefühl, wenn du dir absolut sicher bist, dass in deinem Hirn etwas nicht stimmt, dass da was ist, was weh tut?«

BECK:

Nimmt die Fernbedienung in die Hand und macht die Stereoanlage an.

GESPRÄCH 5

Es ist spätabends. Beck ruft bei Charlie an.

CHARLIE, schnaufend:

»Ich kann jetzt nicht.«

BECK:

»Wieso?«

CHARLIE:

»Ich ficke gerade.«

BECK:

»Großer Gott, wieso kannst du nicht sagen: Ich habe Sex, oder: Ich schlafe mit jemanden, oder … verdammt, wieso kannst du nicht einfach nur sagen, dass du gerade nicht allein bist?«

CHARLIE:

»Weil ich ficke.«

Legt auf.

2


Beck war auf dem Weg nach Hause. Das Telefonat hatte sich recht schnell erledigt. Charlie schilderte mehrere stark angeschwollene Lymphknoten, ein sicherer Beweis für seinen bevorstehenden Tod durch Lymphdrüsenkrebs, und er {78}gab erst Ruhe, als Beck ihm die drei Songs genannt hatte, die unbedingt auf seiner Beerdigung gespielt werden müssten. Heroes von Bowie, Wild Horses von den Stones und Atlantic City von Springsteen. Danach hatte Beck schleunigst aufgelegt.

Das Tref‌fen mit den Referendaren dagegen war noch ganz witzig gewesen. Sie hatten über Andy Shevantich geredet und über Anna Lind, die immer hübscher wurde, ehe Ernst Mayer erzählte, dass er sich mit seiner Freundin verlobt habe, woraufhin ihn alle schief ansahen und bemitleideten und eine neue Runde bestellten.

Als Beck leicht angeheitert seine Wohnung betrat, lag Lara verkehrt herum auf seinem Sofa. Ihr Kopf berührte beinahe den Boden, ihr Gesicht war halb von ihren hellbraunen Haaren bedeckt, während ihre Füße in die Luft ragten. Sie las ein Buch von John Irving und lachte laut.

»Was ist so lustig?«, fragte Beck.

Sie richtete sich auf und klappte das Buch zu. »Ach, nichts … Wie war’s?«

»Ganz nett.«

Während Lara zu ihm kam und ihm einen Kuss gab, dachte Beck, wie ungewohnt es war, dass sie seit neuestem einen Schlüssel für seine Wohnung besaß. Sie hatte zwar selbst noch ein Apartment am anderen Ende der Viktoriastraße, doch das war winzig und direkt unter der Wohnung von ein paar Studenten, die auch unter der Woche oft durchfeierten. Deshalb schlief sie oft bei ihm.

Beck hatte sich in den letzten Wochen an sie gewöhnt. Dafür, dass Lara nicht sein Typ war, machte sie ihre Sache ziemlich gut. Und es war ja auch schön, dass nun fast {79}jeden Tag so ein munteres junges Ding durch seine Wohnung lief, mal angezogen, mal nackt, immer fröhlich vor sich hin schnatternd, Pläne schmiedend oder ihn neckend. Auch wenn Lara bei ihm alles durcheinanderbrachte, Tausende Kopien für eine Hausarbeit rumliegen ließ, nie abspülte, schon zweimal etwas auf seiner Couch verschüttet...