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Saturnischer Tanz

Saturnischer Tanz

Brian Moore

 

Verlag Diogenes, 2018

ISBN 9783257609004 , 304 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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7,99 EUR


 

{7}1


Diarmuid Devine, Englischlehrer für die Unter- und Oberstufe, stand am Katheder und ordnete seine Bücher der Größe nach zu einem Stapel. Er klemmte den Rohrstock unter den Ärmel seines Talars und ging zur Tür. In zehn Jahren als Lehrer hatte er gelernt, die jeweils vierzig Minuten einer Unterrichtsstunde abzuschätzen, ohne auf die Uhr zu sehen. Es war soweit. Gleich würde es klingeln. Mit einem letzten Blick ermahnte er die Jungen zur Ruhe. Dann verließ er den Raum.

Im gleichen Moment steckte der Pförtner in seinem kleinen Kabuff an der Seite der Eingangshalle des St. Michan’s College einen Schlüssel in den Schaltkasten und drehte ihn um. Eine elektrische Klingel gellte ohrenbetäubend laut durch die Gänge, schellte ungehört in leeren Schlafsälen und echote über nasse Sportplätze hin, um sich in den fernen Nebeln über Belfast Lough zu verlieren.

In der darauffolgenden Stille schien die lange graue Fassade vom St. Michan’s zu erbeben. Jungen jeden Alters stürmten auf die Gänge und auf die Treppen, als stünde das Gebäude in Flammen. Priester in schwarzen Soutanen erschienen an Türen und Quergängen, ließen ihre Stöcke sausen, um die Ordnung wiederherzustellen, und trieben Nachzügler auf dem Weg ins nächste Schulzimmer zur Eile an. Es war zehn vor drei. Alle brannten darauf, den Tag zu beenden.

Mr. Devine war diesem Ansturm ausgewichen. Er {8}nahm die Hintertreppe nach unten zum Hauptkorridor. Schnell auf die Lehrertoilette, Wasser lassen … dann zur letzten Stunde hinüber in die Oberstufe. Macbeth, genau. Und ihre Aufsätze einsammeln.

Als er die Toilette betrat, inspizierte Mr. Devine die Türreihe. Nirgends schauten Füße hervor. Er nahm die zweite Kabine und schloß sich ein, froh, einen Augenblick Ruhe zu finden. Aber er hatte kein Glück. Rumms öffnete sich die Flurtür, und jemand ging zu den Waschbecken. Ein Priester? Er hörte den Jemand ein paar Takte aus Rose von Tralee pfeifen. Das war ein Lieblingssong von Frank Turley, der Geographie unterrichtete.

Rumms flog die Tür wieder auf. Eine Stimme sagte etwas. Diesmal erkannte er ohne Mühe Connolly, einen der jüngeren Mathematiklehrer.

»Sind Sie das, Frank?«

»Ach, hallo.«

»Dachte doch, ich hätte Sie reingehen sehen«, sagte Connolly. »Sie sind genau der Mann, den ich suche.«

Mr. Devine, eingeschlossen in seiner Kabine, starrte die Wand an. Er fragte sich, ob er husten sollte oder so etwas. Aber dann würde er mit ihnen reden müssen. Und er konnte es überhaupt nicht ausstehen, wenn er gezwungen war, sich beim Wasserlassen zu unterhalten.

Er hörte, wie Turley den Wasserhahn aufdrehte.

»Sagen Sie, Frank«, fragte der junge Connolly in vertraulichem Ton, »haben Sie was von einer Party heute abend bei Heron gehört?«

»Ich? Nein«, sagte Turley.

Mr. Devine nickte mit dem Kopf. Er wußte Bescheid. Tim Heron, einer der älteren Laienlehrer, gab am Abend eine Party, um die Verlobung seiner Tochter mit einem {9}jungen Arzt namens Carty bekanntzugeben. Mr. Devine wußte auch, weshalb Connolly nicht eingeladen worden war. Connolly hatte selbst ein Auge auf das Mädchen gehabt. Es wäre nicht eben taktvoll gewesen, ihn zu einem solchen Anlaß einzuladen.

»Sie haben also auch keine Einladung gekriegt?« fragte Connolly.

»Weshalb sollte ich? Heron und ich waren noch nie dick befreundet«, erwiderte Turley.

»Mich hätten sie aber schon einladen können.« Connollys Stimme war empört. »Immerhin gehe ich doch praktisch mit Mary.«

Mr. Devine war bestürzt in seiner Kabine. Der arme Connolly wußte also noch gar nichts. Ach, der Ärmste. Wahrscheinlich hatte Tim Heron es nicht übers Herz gebracht, Connolly zu sagen, daß die Tochter sich mit jemand anderem verlobte. Verdammt leid tat er ihm, der gute Connolly.

»Na ja, wer ist denn überhaupt eingeladen worden?« fragte Turley.

»Devine zum Beispiel.«

»Dann fragen Sie Devine doch mal.«

»Ach, das alte Weib!« sagte Connolly.

Mr. Devine preßte die Lippen zusammen und starrte auf die Klosettschüssel. Altes Weib? Was in aller Welt …? Zu seiner Erleichterung hörte er, daß Frank Turley sich für ihn einsetzte.

»Ich weiß nicht, was Sie meinen«, sagte Turley. »Ich habe immer wieder festgestellt, daß Dev eine sehr anständige Haut ist. Warum fragen Sie ihn nicht?«

»Wie könnte ich denn?« sagte Connolly in entrüstetem Ton. »Der würde bestimmt denken, ich sei auf eine {10}Einladung aus. Am Ende würde er noch Heron erzählen, daß ich mich erkundigt habe. Und das ist das letzte, was ich will.«

»Sie brauchen doch nur zu erklären, warum Sie fragen«, meinte Turley. »Dev ist sehr diskret.«

»Erklären? Der wüßte doch gar nicht, wovon ich rede. Wie soll jemand wie Dev verstehen, was einer für ein Mädchen empfinden kann?«

Mr. Devine hörte Turley lachen: ein kurzes belustigtes Glucksen. Mit glühendem Gesicht starrte er auf die Klosettschüssel und knöpfte seine Hose zu. Er stand still, damit sie ihn nicht hörten, und betete, sie möchten weggehen. Wenn sie ihn jetzt bemerkten, würde er ihnen nicht in die Augen sehen können. Noch nie im Leben hatte er sich so beschämt gefühlt.

»Na, dann fragen Sie Tony Moloney, wenn Sie Dev nicht fragen wollen«, sagte Turley. »Tony weiß Bescheid, der kriegt alles mit.«

»Bei Gott, daran habe ich gar nicht gedacht«, sagte Connolly. »Wo unterrichtet Tony jetzt?«

»Drüben in der Unterstufe«, sagte Turley.

»Ich lauf gleich mal hin.«

»Dann verspäten Sie sich«, sagte Turley.

»Ach, zum Teufel, ich bin doch kein Roboter. Die sollen gefälligst warten!«

Mr. Devine hörte die Tür schlagen. Einen Augenblick später kamen Turleys Füße an seiner Kabine vorbei. Er hoffte, daß Turley nicht …

Aber die Tür schlug ein zweites Mal. Jetzt konnte er raus. Es war alles in Ordnung. Er wartete noch, um völlig sicherzugehen, daß Frank Turley fort war, bevor er aus der Kabine trat. Sein Gesicht war immer noch rot. Er hatte sich sehr aufgeregt.

{11}Er war groß, ohne groß zu erscheinen; nicht jugendlich, und doch irgendwie jung; ein Mann, dessen Äußeres auf eine schmerzliche Unsicherheit hindeutete. Er trug das Jackett und die Weste eines Straßenanzugs, dazu aber eine Flanellhose mit ausgebeulten Knien. Seine schwarzen Golfschuhe bissen sich mit grell glänzenden Socken. Der dicke, militärisch verwegene Schnurrbart stand im Widerspruch zu schwachen, von einer schlechtsitzenden Brille eingerahmten Augen. Ebensowenig vertrugen sich die sandfarbenen Haare – hinter den Ohren lang und zottlig, über der sommersprossigen Stirn gelichtet – mit der viktorianischen Achtbarkeit von Weste, goldener Uhrkette und Siegelring.

Er ging geradewegs zum Waschbecken, um sich in einem beschleunigten Ritual die Hände zu waschen, sie abzuschütteln und zu trocknen, während er schamrot immerzu sein Bild im Spiegel anstarrte. Der junge Connolly war natürlich sauer gewesen. Wahrscheinlich krank vor Argwohn, daß Mary ihn abserviert haben könnte. Von daher war seine unfreundliche Bemerkung vielleicht zu entschuldigen. Aber Frank Turley hatte darüber gelacht, als wäre es allgemein bekannt, daß Devine – komisch war.

Trotzdem hatte er jetzt keine Zeit, darüber nachzudenken. Er kam zu spät in die Stunde. Er stieß die Tür auf und lief, in der Seite einen stechenden Schmerz, mit lauten Schritten über den Terrazzoboden. Höchste, allerhöchste Zeit. Und hör dir das da oben an. Wie sie auf den Putz hauen.

Er kam zur Treppe und nahm zwei Stufen auf einmal. Ein Aufpasser rief warnend: »Dev!« Füße trappten über blanke Dielen, als die Jungen zu ihren Plätzen stürzten. Pultdeckel klappten zu. Der Lärm erstarb zu einem {12}Flüstern, als Mr. Devine das Klassenzimmer betrat. Er legte Stock und Bücher auf sein Pult, nestelte mit der rechten Hand wie ein Staatsanwalt am Kragen seines Talars und überblickte dann mit der vertrauten Miene des streitbaren Lehrers die Klasse. Das Flüstern hörte auf. Er drehte ihnen verächtlich den Rücken zu und schaute auf die Tafel. Er wartete. Als es vollkommen still war, sagte er:

»Daly. Wischen Sie die Tafel ab.«

Ein Schüler aus der letzten Bank, schmutzig im Gesicht und störrisch, ging zur Tafel und wischte sie unter einer Wolke von Kreidestaub sauber. Mr. Devine setzte sich.

»McAvitty. Sammeln Sie die Aufsätze ein.«

Am Abend vorher geschriebene Aufsätze wurden ihm ans Pult gebracht.

Vier externe Schüler hatten keine Arbeit abgegeben. Zwei wiesen eine schriftliche Entschuldigung von ihren Eltern vor. Das genügte Mr. Devine. Er fragte die beiden anderen Schüler nach ihren Gründen.

»Bitte, Sir, ich hatte so viel auf, das konnte ich nicht alles schaffen.«

»Ich auch nicht, Sir.«

Die Klasse wog die Chancen ab. Gestern erst hatte ein Schüler der Unterstufe diese alte und wahre Entschuldigung vorgebracht. Mr. Devine hatte den Jungen nach jeder einzelnen Hausaufgabe gefragt und angemerkt, daß diesmal wirklich extrem viel zusammengekommen sei. Er war selbst ein St.-Michan’s-Schüler gewesen und wußte, daß die Arbeit manchmal überhandnahm. Aber als er einen Tag später jetzt die gleiche Entschuldigung in einer höheren Klasse hörte, wurde ihm klar, daß sie in Umlauf kam. Akzeptierte er sie noch einmal, würde das ausgenutzt werden.

{13}Er stieg von seinem Podest herunter und ergriff den langen, dünnen Rohrstock. Mit geübter Sanftheit hob er Frankie Deegans Arm auf Schulterhöhe. Dann zielte...