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John Sinclair Großband 8 - Folgen 71-80 in einem Sammelband

Jason Dark

 

Verlag Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2019

ISBN 9783732573073 , 640 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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14,99 EUR

Für Firmen: Nutzung über Internet und Intranet (ab 2 Exemplaren) freigegeben

Derzeit können über den Shop maximal 500 Exemplare bestellt werden. Benötigen Sie mehr Exemplare, nehmen Sie bitte Kontakt mit uns auf.


 

Der Güterzug fuhr von Chieti her durch die nächtlichen Abruzzen. 46 Waggons und Güterwagen ratterten und dröhnten hinter der Dampflok über die Schienen. Am Morgen sollte die Ladung in Rom am Güterbahnhof entladen werden.

Bis dahin hatte der Lokführer Aldo Tuzzi, der Heizer und der ebenfalls mitfahrende Bahnarbeiter noch eine lange, eintönige Nacht vor sich. Der nächste Aufenthalt war in Celano vorgesehen, wo drei Waggons abgekoppelt und dafür zwei andere angehängt werden sollten.

Aldo Tuzzi saß auf dem Lokführersitz und blickte konzentriert auf die Strecke. Von Zeit zu Zeit kontrollierte er das Manometer. Heizflächenbelastung, Steuerung, Geschwindigkeit und andere Werte konnten er und sein Heizer ebenfalls an den Instrumenten ablesen.

Tuzzi kannte die Strecke wie seine Westentasche. Er wusste, wann sie sich Signalen und Langsamfahrstellen näherten.

Lokführer und Heizer tranken Kaffee aus der Thermosflasche, rauchten gelegentlich eine Zigarette und unterhielten sich. Der Bahnarbeiter fuhr hinten in einem Arbeitswagen mit und hatte sich wahrscheinlich aufs Ohr gehauen.

»Diese Strecke fahre ich jetzt schon seit über dreißig Jahren«, sagte Tuzzi. »Mir persönlich ist nie etwas besonders Aufregendes passiert in all der Zeit. Von dem großen Zugunglück vor 15 Jahren habe ich nur mitgekriegt, dass der ganze Fahrplan umgekrempelt wurde.«

Er nahm eine Zug aus seiner Zigarette und seufzte: »Manchmal wünsche ich mir eine von den superschnellen E- oder Dieselloks fahren zu können. Ich möchte nach Rimini, Mailand, Florenz und Venedig. So ist es immer nur der gleiche Trott mit der alten Dampfchaise.«

Der Heizer, zehn Jahre jünger als der dreiundfünfzigjährige Tuzzi und eine viel simplere Natur, hatte nie solche Träume gehabt.

»Sei doch froh, dass du Arbeit hast, und dass nichts Besonderes vorfällt, Aldo«, antwortete er. »Denn die außergewöhnlichen Sachen wirken sich meistens unangenehm aus, zumindestens für unsereinen.«

Er fuhr fort, nach Tuzzis Abschweife von seinem Garten zu erzählen, von den paar Äckern, die er neben seiner Arbeit bei der Bahn noch bewirtschaftete, und von dem Streit, den er mit einem Anlieger wegen einer Ackergrenze hatte.

»Jedesmal pflügt der Kerl eine Furche mehr auf mein Gelände herüber«, sagte er. »Jahr für Jahr dasselbe. Und den Grenzstein versetzt er auch.«

»Warum zeigst du ihn denn nicht bei den Carabinieri an?«

»Das gibt mir zu viel Scherereien und Papierkrieg. Ich pflüge einfach wieder zu ihm hinüber und setze den Grenzstein alle paar Jahre zurecht. Damit hat sich der Fall.«

Der Lokführer schüttelte den Kopf. Automatisch überblickte er die Instrumente. Es war alles in Ordnung. Tuzzi sah auf seine Uhr.

23 Uhr 10, also noch eine gute halbe Stunde bis Celano. In etwa zwanzig Minuten sollte der Nachtzug nach Pescara aus der anderen Richtung passieren.

Die Strecke verlief hier zweigleisig. In vielen Windungen führte sie durchs Gebirge, und ab und zu durch einen Tunnel.

Endlos zogen sich die Schienenbänder dahin. Der Dampf aus dem Schornstein wehte über die lange Reihe der Waggons und Wagen.

Tuzzi schaute wieder nach vorn. Außerhalb des Lichtbereichs der Scheinwerfer war nicht viel zu erkennen. Aber da gab es auch bei Tag außer Steinen und Büschen nichts zu sehen. Nur ab und zu einmal ein entlegenes Bergbauerngehöft.

Doch plötzlich sprang Tuzzi auf wie elektrisiert. Dabei schüttelte er dem Heizer den heißen Kaffee über die Hose.

»He!«, beschwerte sich der. »Aldo, was hast du denn?«

Der Lokführer betätigte das Warnsignal.

»Da ist einer vor uns auf den Schienen!« , schrie er.

Der Heizer sprang hoch. Während die Dampfpfeife losschrillte, sah auch er die groteske Gestalt auf den Schienen, einige Hundert Meter vor der Lok. Der Güterzug nahm gerade eine Steigung und fuhr deshalb langsamer.

Trotzdem verringerte die Entfernung sich rasch.

Auch der Heizer erkannte die bleiche, fast durchscheinende Gestalt. Wie ein Gespenst sah sie aus, vielleicht zwei Meter hoch, aber mit deutlich erkennbaren Armen und Beinen. Sie schien auf den Gleisen zu hüpfen und zu tanzen, sie fuchtelte mit den Armen.

Die Dampfpfeife gellte. Der Lokführer hatte sie arretiert, er griff zum Notbremsventil.

Der Güterzug war inzwischen bis auf 300 Meter an die Gestalt herangekommen.

»Nicht bremsen, Aldo!«, schrie der Heizer da. »Das ist kein Mensch!«

»Kein Mensch?«, fragte der Lokführer perplex. »Ja, was denn sonst?«

»Das weiß ich nicht. Ein Geist, ein Gespenst! Wenn du anhältst, sind wir verloren.«

Während des kurzen Gespräches hatte der Zug weitere Meter zurückgelegt, ohne dass der Lokführer bremste. Er schaute schärfer hin. Tatsächlich, ein normaler Mensch konnte diese Erscheinung keinesfalls sein.

Ihre Beine berührten den Schienendamm nicht, jetzt sah es der Lokführer. Ein eisiges Gefühl erfüllte ihn. Wie sollte er sich verhalten? Die Vorschriften sagten eindeutig, dass der Zug zu stoppen war, wenn ein Mensch auf den Gleisen stand.

Aber über Spuk und Geister stand nichts in den Vorschriften.

Der Güterzug raste näher. Die Räder ratterten und stampften, die Dampflokomotive fauchte, und die Pfeife schrillte gellend. Der Lokführer und der Heizer sahen nun deutlich, dass sie keinen Menschen vor sich haben konnten.

So groß, so blass und so grotesk war kein Mensch von dieser Welt. Aldo Tuzzis linke Hand lag am Griff des Notbremsventils.

Aber Tuzzi betätigte ihn nicht, denn sein Heizer schrie wieder: »Nur nicht bremsen, Aldo, sonst kommt er auf die Lok! Das ist ein Geist, er will uns etwas antun!«

Tuzzi brauchte sich nicht mehr zu entscheiden, ob er bremsen sollte oder nicht, denn die Lok hatte die unheimliche Erscheinung bereits erreicht. Direkt vor dem Kessel warf sie noch einmal die Arme hoch.

Das weiße Gesicht mit den dunklen Augenhöhlen verzerrte sich, der Mund öffnete sich zu einem Schrei. Doch wenn der Geist ihn ausstieß, dann übertönte ihn die Dampfpfeife.

Dann war die Lok über die Stelle weg und hatte damit auch die Steigung überwunden. Die Güterwaggons folgten. Der Geist war verschwunden.

Schweißgebadet standen Lokführer und Heizer im Führerhaus. Der Heizer dachte nicht mehr an seine vom Kaffee durchnässte Hose. Auch sein Kaffeebecher und die Zigarette lagen am Boden.

»Ein Glück, wir sind den Spuk los, Aldo!«, stöhnte er aus tiefstem Herzen. Aber schon im nächsten Moment packte ihn neues Entsetzen. »Aldo, Aldo, da ist er! Links an der Tür! Er will zu uns herein! Aldo! Aldo!«

Der Lokführer schaute zur Seite und schrie gleichfalls auf. Das bleiche Gesicht und die Schultern waren am Fenster der schweren Lokomotivtür zu sehen. Die dunklen Augenhöhlen fixierten die beiden Männer.

Die dunkle Öffnung des Mundes schien Worte zu formen, aber es war nichts zu verstehen. Der Geist schüttelte den Kopf, dann hob er den rechten Arm.

Ein schlimmer Anblick bot sich. Die Hand fehlte. Der Arm endete knapp unterhalb des Handgelenks in einem blutigen Stumpf. Das Gespenst, das sonst so weiß wie Dampf oder kompakter Nebel aussah, hatte einen blutigen Armstumpf.

Es schwenkte ihn hin und her und schüttelte den Kopf.

»Aldo! Aldo!«, kreischte der Heizer. »Es kommt zu uns herein! Unternimm doch etwas!«

»Hör auf zu schlottern, du Feigling!«, fuhr der Lokführer den Heizer an. »Nimm den Dampfschlauch, dann öffne das Fenster und gib ihm Saures! – Na los doch, beeil dich!«

»Ich kann nicht, Aldo!«

»Du musst!«

Der Lokführer fügte einen lästerlichen Fluch hinzu. Er wusste nicht, ob der heiße Dampf etwas gegen den unheimlichen Beifahrer nutzen würde. Aber Aldo Tuzzi wollte es zumindestens versuchen.

Denn eine eisige Kälte kroch in das Führerhaus der Lok, in dem es zuvor stickig heiß gewesen war. Die Kälte strahlte von der Geistererscheinung aus.

Mit zitternden Händen packte der Heizer den Schlauch mit der Düse am Ende. Er war an ein Druckventil angeschlossen und diente dazu, entweder Wasser aus den Rohren abzulassen oder Heißdampf auszublasen.

Der Heizer drehte das Dampfventil auf. Er fasste die Düse, spürte wie der Schlauch sich straffte, als der kochend heiße Wasserdampf hineinschoss. Doch noch war die Düse geschlossen.

»Ich … ich traue mich nicht!«, jammerte der Heizer.

Der Lokführer fluchte, sandte dann ein Stoßgebet zum Himmel. Er wollte seinen unheimlichen Beifahrer, der sich immer wilder und verzweifelter gebärdete, auf jeden Fall los werden. Er stellte die automatische Steuerung ein und ging entschlossen ans Fenster.

Mit einem Ruck riss er es herunter. Der Fahrtwind fauchte herein und brachte eine Kälte wie vom Nordpol. Der Lokführer starrte in das weiße Gesicht mit den undeutlich erkennbaren Konturen und dem aufgerissenen Mund.

Durch den Lärm der Kolbenmaschine und der Räder, durch das Rattern, Dröhnen und Fauchen und das Gellen der Dampfpfeife hörte Aldo Tuzzi es wie ein leises Wispern.

»Anhalten! Anhalten! Nicht weiter! Gefahr!«

Der Geist sprach. Er streckte den blutigen Armstumpf ins Führerhaus. Aldo Tuzzi wich zurück. Im nächsten Moment fauchte der Heißdampfstrahl aus der Düse, traf fauchend die bleiche Fratze am Fenster und hüllte sie ein.

Der Heizer richtete den Dampfstrahl genau auf den gespenstischen Mitfahrer und vernebelte ihn. Der Geist war nicht mehr zu sehen. Dampfschwaden drangen ins Führerhaus der Lok. Aldo Tuzzi übernahm wieder das Steuerrad, er schob den Reglerhebel vor und beschleunigte.

Die Sicherheitsgrenze war ihm jetzt egal. Er wollte so schnell wie...