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Versuchung - Kriminalroman

Florian Harms

 

Verlag Benevento, 2019

ISBN 9783710950803 , 448 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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15,99 EUR


 

AL-DSCHADIDA


4


Der Morgen war erhaben. Zart dufteten die ersten Orangenblüten, das Gras stand hoch. Als die Kühle sich davonschlich, dräute der neue Tag. Das Gestern war versunken im Schlund der Erinnerung, wirklich war nur das Jetzt. Morgensonne, Arbeit, Fischfabrik. Schnell hin, der Chef wartet schon und die anderen auch. Männer, Freunde, Knechte wie ich. Macht sie zu Hause alles richtig? Hab ihr fünfmal gesagt, dass sie den Verwundeten zu jeder vollen Stunde wecken soll, muss ihm Tee einflößen, macht sie’s richtig? Gott vergib mir, kann sie das? Ist noch jung, die Hochzeit im vergangenen Frühsommer. Blühender Jasmin. Sogar in Mutters Haar, die alte Frau. Berge von Couscous, Meeraal, Dschamila damals so verlockend, ihre Schenkel unter dem gespannten Stoff. Er muss jede Stunde ein Glas heißen Tee trinken, hab ihr`s fünfmal gesagt. Fische. Ob ich’s den anderen berichten soll? Werden dann sicher alles wissen wollen: Wo hast ihn gefunden? Erzähl doch, wie ist’s passiert? Bist zur Polizei gegangen? Waren da noch mehr Verwundete? Und das Wrack glühte noch? Flunkerst du nicht? Erzähl doch, Ibrahim, erzähl! Lieber nicht. Mein Gott, die Sirene ist schon verstummt, höchste Zeit! Fahrrad in den Schuppen rein, den der französische Vizedirektor hat bauen lassen mit dem Geld der Europäer, weil ein Fahrradschuppen wichtig ist für die Arbeiter, hat er gesagt, der Vizedirektor mit seinen bartlosen Wangen, wegen der Ordnung, denn wer Ordnung hält, kann mehr Fische verkaufen. Fische in Dosen, wer will so etwas essen? Die Europäer wollen sie essen, bauen uns hier sogar einen viel zu großen Fahrradschuppen aus weiß lackiertem Metall, damit sie zu Hause unsere Sardinen essen können, die Europäer. Also rasch in den Kittel, dann ans Fließband, heute sind die guten Fische an der Reihe. Gute Fische in goldene Dosen für die Europäer, schlechte Fische in rote Dosen für die Afrikaner. Natürlich bin ich nicht zu den Polizisten gegangen. Wer kann denen schon trauen? Geldgierige Halunken. Nein, der Verwundete gehört uns. Ob Dschamila alles richtig macht mit ihm?

5


Sie weckte ihn das nächste Mal um neun, tränkte ein Tuch in Kräuterwasser, netzte seine heiße Stirn. Eine kühlende Hand auf seiner Schläfe. Er schlug die Augen auf und blickte in ein fremdes Gesicht. Was? Es war so ruhig um ihn, keine Bewegung. »Trink«, sagte sie und drückte ihm den Becher an die Lippen. »Trink!« Er trank. Mild rannen ihm die Schlieren warmen Tees durch die Kehle. Lächelte sie? Er suchte nach Halt, nach Erinnerung. War da eine hübsche Frau gewesen, Wolken? Hände, eine Insel? Er versuchte, ebenfalls zu lächeln. Das Feuer. Sie kühlte seine Schläfe, drückte ihn zurück in die Kissen, lächelte. Sprach sie französisch? Hatte sie »Trink« gesagt? Wer war sie und wo war er? Er schlief wieder ein, träumte wild, schwitzte gotterbärmlich.

6


Sie weckte ihn wieder um zwölf. Das feuchte Tuch, die kühle Hand. Er spürte sein Gesicht brennen, fühlte sich aber kräftig genug, sie anzusprechen: »Wo bin ich?«

»In Al-Dschadida.«

»Wo ist das?«

»Am Meer. Nicht allzu weit von der roten Stadt.«

»Der roten Stadt?« Denken bereitete ihm Schmerzen, Sprechen weniger.

»Marrakesch.«

»Marra…? Marokko?«

»Ja, natürlich.«

Er schloss die Augen. Marrakesch. Der Vater. Der Flug von Hamburg auf seinen Spuren. Der Absturz, das Feuer, das Licht. Sein brennendes Gesicht.

7


Das nächste Mal erwachte er von einem Duft, der ihm in die Nase stieg. Das Gesicht war nicht da, keine Hand und kein Tee. Dafür der Duft. Wohlige Tiefe mit einer leichten säuerlichen Note.

»Wer bist du?«, fragte er in die duftende Leere.

Sie trat an sein Lager. »Na, du bist wieder aufgewacht. Geht es besser? Der Scheich hat gesagt, du hast keine Knochenbrüche. Nur Prellungen. Ein Wunder, sagt der Scheich« Sie richtete seine Decke.

»Wer bist du?«

»Dschamila.« Wieder das Lächeln.

»Dschamila wie weiter?«

»Meine Familie sind die Aulad Lakrik. Trink noch etwas Tee.«

»Was ist passiert?«

»Du bist vom Himmel gefallen, zusammen mit einem Haufen brennenden Metalls. Der Scheich sagt, es ist ein Wunder, dass du lebst, Gott ist groß.«

»Das Flugzeug?«

Sie hatte sich schon wieder abgewandt und ging in die andere Ecke des Raumes. Er drehte den Kopf und sah hinüber. Das also war Dschamila aus der Familie der Soundso in irgendeinem Kaff nicht weit von Marrakesch. Offenbar ein gutes Kaff. Sie beugte sich über einen Topf, so viel konnte er erkennen. Der Duft kam von dort. Dann warf sie etwas in den Topf, und plötzlich erhob sich im ganzen Raum ein herber Geruch, der majestätisch den vorherigen Duft überbot.

»Koriander!«, rief sie aus der Ecke und erwiderte sein Lächeln. »Ich habe ihn aus dem Garten geholt. Gleich ist die Suppe fertig.«

Er rappelte sich in den Kissen auf, als sie mit einer dampfenden Schale zu ihm kam.

»Iss!«

Vorsichtig tauchte er den Löffel in die rote Suppe, in der sich grüne Korianderschnitzchen und hellgelbe Kichererbsen wie kleine Bojen drehten. Direkt unter der Oberfläche schien sie zwei Millimeter durchsichtig zu sein, um dann rasch abzusteigen in glitzerndes Dunkelgelb, strahlendes Orange und schließlich ein tiefes, vertrauenerweckendes Rot. Sie war warm, sie war geschmeidig, sie war köstlich. Ihr Lächeln. Als er die Schale bis auf den Grund ausgelöffelt hatte, verlangte er mehr. Dschamila nickte und brachte eine zweite Portion.

»Wie heißt das?«

»Das«, lächelte sie mit einem Anflug von Stolz, »ist eine Harira. Es heißt, sie flöße den Schwachen Kraft ein und verleihe den Zweifelnden Mut.«

»Sie schmeckt herrlich, so weich.«

»Sie ist wie die Seide, von ihr hat sie den Namen.«

»Du bist sehr freundlich, Dschamila. Bist du allein?«

Sie lachte. »Wo denkst du hin? Mein Mann Ibrahim arbeitet in der Fabrik, er wird am Abend zurückkommen. Er hat dich gefunden.«

»Er hat mich gerettet?«

»Wir beide haben dich gerettet.«

Wieder hörte er den Stolz in ihrer Stimme.

»Ich weiß nicht, wie ich euch danken soll.«

»Du kannst uns später danken, iss jetzt.«

8


Die Beete mussten bestellt werden, Reih an Reih die Kräuter; Minze, Petersilie und natürlich viel, viel Koriander. Daneben die Kartoffeln und Zwiebeln. Er half, wo er konnte, steckte hier Setzlinge, grub dort ein Loch, rupfte Unkraut, ließ eine Handvoll roter Erde zwischen den Fingern zu Boden rieseln und blinzelte in die Frühsommersonne. Ibrahim zeigte ihm, was er tun sollte, und er gehorchte. Die Dankbarkeit des Gastes, der um seine Schuldigkeit weiß und ebenso um seine vollkommene Unfähigkeit, die riesige Schuld jemals begleichen zu können. Groß in der Absicht, ungelenk im Vollzug. Die andere Umgebung, die fremde Kultur, das erschütterte Ich. Er gehorchte. Hier noch ein Strauch Minze. Nicht zu vergessen der Koriander! Keine Harira ohne Koriander, lautete das eherne kulinarische Gesetz dieses Landes. Es erschien ihm nun, da er neun Tage lang hintereinander ausschließlich Harira gelöffelt hatte, so selbstverständlich wie Dschamilas Lächeln und Ibrahims schweigsame Gutmütigkeit, die sich nur dann in Lebhaftigkeit entlud, wenn er in eine unvorhergesehene Situation geriet. Den Heilungsprozess seiner Blessuren schien die Harira auf wundersame Weise beschleunigt zu haben.

Er war der Gast, er tat, was er konnte, um sich der Gnade würdig zu erweisen, die ihm zuteilgeworden war. Hier noch ein Strauch Koriander und dort noch einer und noch einer dahinten. Ko-ri-an-der. Ibrahim hatte ihm auch den arabischen Namen genannt: Kusbara. Ein schönes Wort. Nur Dschamilas Lächeln war schöner.

Was sollte sein nächster Schritt sein? Vom Himmel gefallen, hatte Dschamila gesagt, dass stimmte. Vom Himmel direkt in ihr Lächeln, überlegte er, tadelte sich sofort für die Rührseligkeit dieses Gedankens und ließ sich doch von ihm verführen. Die Scham naht gern in Schönheit gewandet, hinterlässt aber meist nicht viel mehr als Fragen. Mut dagegen speist sich aus Lob und Liebe und erhebt selbst das kleinste Licht. Was ist besser? Oder: Was ist ehrlicher? Hochmut ist die Spannfeder der schnellen Zunge, heißt es, doch wer keinen Schatz sucht, wird nicht einmal einen Kiesel finden. Meist, das kommt hinzu, hat der Weg längst begonnen,...