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KATZENDÄMMERUNG - Roman

Arthur Gordon Wolf

 

Verlag Luzifer Verlag, 2021

ISBN 9783958353947 , 672 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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2,99 EUR


 

1. Kapitel


»Die Flammende Jenny«
San Francisco, 1906


San Francisco Chronicle vom 21. April 1906:

»BIZARRES DRAMA INMITTEN VON CHAOS UND ZERSTÖRUNG«

Von einem grausigen Anblick berichten mehrere Augenzeugen im Bereich der Waller Street. Obwohl die verheerenden Brände vor allem in den Vierteln 'South of Market', 'Chinatown' und 'North Beach' wüteten, wurden auch viele Häuser westlich der Van Ness Avenue ein Opfer der Flammen. - Am gestrigen Vormittag irrte offenbar ein schwer verletztes Brandopfer durch die Waller- und Haight Street in Richtung Market Street. Nach übereinstimmenden Berichten zufolge handelte es sich um ein Mädchen oder eine junge Frau, die lichterloh brannte. Seltsamerweise unternahm die Unbekannte keinen Versuch, die Flammen zu ersticken. Trotz der Tatsache, dass Haare, Kopf und Schultern der Bedauernswerten von lodernden Flammen umhüllt waren, rannte oder schrie sie nicht. In aufrechter Haltung und mit unglaublich ruhigen Schritten sei die Frau durch die Straßen gegangen. Von den zahlreichen Umstehenden waren nur zwei Männer geistesgegenwärtig genug, um der Brennenden zur Hilfe zu eilen. Ihre Bemühungen waren jedoch vergeblich. Die Hitze der Flammen war so groß, dass die freiwilligen Helfer mit ihren Decken kaum näher als drei Yards an das Opfer herankamen. Und selbst dort erlitten beide noch Verbrennungen an Armen und Händen. Die brennende Frau aber setzte ihren Weg fort. Ein Großteil der umherstehenden Menschen war viel zu entsetzt und zu sehr mit ihren eigenen Problemen beschäftigt, um der Unglücklichen hinterher zu laufen. Als sie in die Fillmore St. einbog, folgte ihr daher nur eine kleine Gruppe, die vor allem aus Jugendlichen bestand. Und dort – zwischen Fillmore und Haight – verloren sie die Frau aus den Augen. War allein schon die Tatsache, dass sich die Unbekannte trotz ihrer schweren Verbrennungen so lange auf den Beinen hatte halten können, nahezu ein bizarres Wunder, so erscheint ihr plötzliches Verschwinden in einem nicht minder mysteriösen Licht. - Chet Mankell (15), wohnhaft in 412 Pierce St., berichtet: »Drei meiner Freunde und ich sind der brennenden Lady gefolgt, etwa in einem Abstand von 50 Yards. Als wir zur Ecke Fillmore kamen, sahen wir nur noch, wie etwas Feuriges oben in die Haight einbog. Ich weiß nicht, wie sie es geschafft hat, so schnell zu sein. Mein Freund Bill ist in der Leichtathletik-Schulmannschaft und läuft die 100 Yards in 1.4 Sekunden, und ihm wäre es gewiss nicht gelungen. Und dabei hat die Frau auch noch gebrannt!« - Als die Jungen schließlich die Haight Street erreichten, war die brennende Frau verschwunden. »Als wenn jemand plötzlich 'ne Fackel ausgemacht hätte, mitten in der Nacht«, sagte Mankell. »Aber es war helllichter Tag!« - Die Haight Street war um diese Zeit recht belebt, doch die Angst vor dem herannahenden Feuer lenkte die Bewohner offenbar so stark ab, dass niemand das menschliche Feuer direkt vor ihren Augen bemerkte. Auch nachdem sich einige Polizisten und Feuerwehrmänner an der Suche beteiligten, fand sich kein Hinweis über den Verbleib der brennenden Frau. Obwohl in der Gegend nur wenige tiefe Risse im Straßenboden entstanden sind, glaubt man, die Unbekannte sei in einen bodenlosen Krater gestürzt.

W. Grisswald

San Francisco Chronicle vom 22. April 1906:

»BRENNENDE FRAU IN PACIFIC HEIGHTS«
Anwesen der Blatchfords ein Raub der Flammen

Auch am gestrigen Tag wurden viele Anwohner in Pacific Heights durch den Anblick einer in Flammen stehenden Frau in Angst und Schrecken versetzt. Ähnlich wie schon am Freitag auf der Waller St. lief auch am gestrigen Tag eine brennende Unbekannte durch die Straßen. Diesmal ereignete sich der Vorfall im Bereich Broadway und Webster. Zeugen wollen beobachtet haben, wie die Frau zuvor das Blatchford-Haus, 2112 Broadway, mit einem Gegenstand unter dem Arm verlassen hatte. Das Haus des verstorbenen Textilfabrikanten James William Blatchford, das 1878 von Edward Swain in aufwändigem Stil der französischen Gotik erbaut worden war, hatte – anders als die meisten der benachbarten Gebäude – erhebliche Schäden durch das Erdbeben davongetragen. Ein Seitenturm wurde vollkommen zerstört und der große Tiffany-Wintergarten war gemeinsam mit Teilen der Fassade in den Garten des Anwesens gestürzt. Bis auf eine Köchin hat offenbar niemand der Bewohner das Erdbeben überlebt. Was die Fremde in den nur schwer zugänglichen Räumen des Hauses gesucht haben mag, ist nicht bekannt, doch Plünderei scheint am naheliegendsten zu sein. Jedenfalls trug die Frau etwas aus dem Haus hinaus. Und sie brannte!! - Mehreren Zeugenaussagen zufolge hatte die an Haaren und Armen brennende Diebin gerade den Vorgarten erreicht, als das Haus plötzlich förmlich explodiert sei. Viele verglichen den gewaltigen, weit über das Dach hinaus lodernden Flammenball mit der Zündung einer Bombe. Doch niemand hörte das Geräusch einer Detonation, nur das Rauschen, Prasseln und Ächzen der unbezwingbaren Feuerwand. - Hatte die Fremde selbst das Feuer gelegt, um Spuren zu beseitigen? Doch womit? Da seit Mittwoch alle Gasleitungen abgesperrt sind, ist auch diese Möglichkeit auszuschließen. - Das Feuer war so gewaltig, dass befürchtet wurde, die Flammen könnten auf die benachbarten Grundstücke übergreifen. Da die Hauptbrände im Westen und Süden der Stadt am Samstagmorgen endlich eingedämmt werden konnten, war es möglich, recht schnell einige Einheiten der Feuerwehr nach Pacific Heights zu entsenden. - Nur durch den gemeinsamen Einsatz von mehr als 20 Feuerwehrmännern und vielen freiwilligen Helfern gelang es schließlich am späten Abend, den Brand unter Kontrolle zu bringen. Vom Blatchford-Haus blieb jedoch weniger als die Grundmauern stehen. - »Im Vergleich dazu sei das 'Flood-Haus' auf dem Nob-Hill ja geradezu verschont geblieben«, meinte ein Feuerwehrmann kopfschüttelnd. - Die Identität der mutmaßlichen Brandstifterin konnte bislang nicht ermittelt werden. Ähnlich wie schon am Freitag scheint sich auch diese brennende Frau in Luft aufgelöst zu haben. Befragungen des Militärs ergaben, dass man die Fremde auf dem Broadway bis zur Höhe der Octavian St. gesichtet hat, danach aber verliert sich ihre Spur. Erneut stellt sich die Frage, wie ein Mensch mit derartigen Verbrennungen überhaupt einen so weiten Weg zurücklegen konnte. - Einige Abergläubische sind sich sicher, dass beide brennenden Frauen ein und dieselbe Person sind. Sie hat sogar schon einen Spitznamen: ›die Flammende Jenny‹.

W. Grisswald

San Francisco Examiner vom 26. April 1906:

»DIE FLAMMENDE JENNY«
Feuerteufel oder Massenhysterie?

Seit nunmehr 6 Tagen mehren sich Vorfälle – meist verbunden mit verheerenden Hausbränden – bei denen eine brennende Frau beteiligt zu sein scheint. “Die Flammende Jenny", wie sie der Volksmund bereits nennt, wird als junge, zierliche Frau beschrieben, die geisterhaft durch die Straßen wandert, wobei ihre brennenden Haare und Hände vielen Häusern das Verderben bringen. Feuerwehr und Militär stehen vor einem Rätsel. Viele der Feuer brachen noch am Samstag aus und ereigneten sich in Gebieten westlich der Van Ness Avenue – in deutlicher Entfernung von der tatsächlichen Feuerzone. - Ob in ›Marina‹, ›Pacific Heights‹ oder ›Haight-Ashbury‹, überall trafen die Brände Gebäude, die als sicher eingestuft waren. Anders als im Bereich ›South Of Market‹ oder ›Northbeach‹ breiteten sich in diesen Fällen die Flammen aber niemals aus. »Es war unglaublich«, berichtet ein Augenzeuge, »zuweilen war das gesamte Haus hinter einem Meer aus Flammen verschwunden. Die Hitze war unerträglich und doch blieb das benachbarte Grundstück vom Feuer verschont. Ich weiß nicht, wie es geschehen konnte, doch selbst die Blätter des Eukalyptusbaumes, der nur zwei oder drei Yards vom Haus entfernt stand, waren nicht einmal angesengt.« Bei vielen dieser unerklärlichen Brände wollen Zeugen in der Nähe eine brennende Frau beobachtet haben. - Doch wer ist nun diese ›Flammende Jenny‹? Mitglieder der ›Kirche der Letzten Tage‹ sehen in ihr eine Art überirdische Erscheinung, einen Racheengel, der die Sünden der Menschen bestraft. - Viel wahrscheinlicher klingt da schon die Annahme, dass es sich bei der Unbekannten nicht um ein, sondern um mehrere verwirrte Brandopfer handelt, welche in ihrem Wahn nun selbst Feuer entfachen. Unerklärt bleibt allerdings, warum es bisher nicht gelang, eine dieser Frauen zu finden. - Dr. Carl Browers vom Park Emergency Hospital spricht daher auch von einem ›hysterischen Phänomen‹. »Vielleicht mag es tatsächlich einen Vorfall mit einer brennenden Frau gegeben haben«, konstatiert der Neurologe. »Bei den vielen Bränden, die in der Stadt gewütet haben, ist dies sicher nicht auszuschließen. Die Gerüchte und die Artikel im ›Chronicle‹ haben die Menschen aber beeinflusst. Zehntausende von Einwohnern haben ihre Wohnungen und Häuser verloren. Fast jeder von uns steht unter einer unglaublichen Anspannung. In dieser Situation ist es nicht weiter verwunderlich, wenn plötzlich überall brennende Frauen auftauchen. Für mich ist es ein Ausdruck dafür, dass die Menschen nach etwas Greifbarem suchen, dem sie die Schuld für das Unglück geben können.« Trotz vieler Unklarheiten über das Entstehen und die Art der neuerlichen Brände scheinen auch die offiziellen Vertreter der Stadt die Ansicht von Dr. Browers zu teilen.

C.H. Griffith

Aufzeichnungen aus dem Nachlass von Leland J. Copeland,...