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Alles, was heilig ist - Ein Fall für Kenzie & Gennaro

Dennis Lehane

 

Verlag Diogenes, 2019

ISBN 9783257609509 , 432 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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13,99 EUR


 

{9}TEIL EINS Trauer & Trost


{11}1


Ein guter Rat: Falls Sie in meiner Nachbarschaft jemanden beschatten wollen, tragen Sie kein Rosa.

Am ersten Tag, als Angie und ich den kleinen rundlichen Kerl entdeckten, trug er ein rosafarbenes Hemd zu einem grauen Anzug und einem schwarzen Mantel. Der Zweireiher wirkte italienisch und war um mehrere hundert Dollar zu gut für meine Gegend. Der Mantel war Kaschmir. Gut möglich, dass die Leute hier sich Kaschmir leisten könnten, aber normalerweise geben sie derart viel Geld für Isolierband aus, damit die Auspuffrohre an ihren 82er Chevys nicht abfallen, da bleibt ihnen nicht mehr allzu viel übrig, mal abgesehen von dem jährlichen Abstecher in die Karibik.

Am zweiten Tag ersetzte der kleine rundliche Kerl das rosafarbene durch ein dezenteres weißes Hemd; Kaschmirmantel und italienischen Anzug hatte er abgelegt, aber da er einen Hut trug, war er immer noch so auf‌fällig wie Michael Jackson in einem Kindergarten. Niemand in meiner Gegend – oder irgendwo sonst in Bostons Innenstadt – trägt auf dem Kopf etwas anderes als ein Baseballcap oder ab und an mal eine Schiebermütze aus Tweed. Doch unser Freund, wir nannten ihn das Stehaufmännchen, trug einen Bowler.

Er sah gut aus, dieser Bowler, verstehen Sie mich nicht falsch, aber es war ein Bowler.

{12}»Vielleicht ist er nicht von hier«, sagte Angie.

Ich schaute zum Fenster des Avenue Cof‌fee Shop hinaus. Der Kopf des Stehaufmännchens ruckte, dann beugte er sich vor und spielte mit seinen Schnürsenkeln herum.

»Nicht von hier«, sagte ich. »Und von wo genau? Frankreich?«

Angie sah mich stirnrunzelnd an und strich sich Frischkäse auf einen Bagel, der so voller Zwiebeln war, dass mir die Augen schon vom Hinschauen tränten. »Nein, du dumme Nuss. Aus der Zukunft. Hast du denn noch nie die alte Folge von Raumschiff Enterprise gesehen, in der Kirk und Spock in den Dreißigern auf der Erde landen und sich hoffnungslos danebenbenehmen?«

»Ich hasse Raumschiff Enterprise.«

»Aber du bist mit dem Konzept der Serie vertraut.«

Ich nickte und musste gähnen. Das Stehaufmännchen begutachtete einen Telefonmast, als hätte er noch nie einen gesehen. Vielleicht hatte Angie recht.

»Wie kann man Raumschiff Enterprise nicht mögen?«, fragte Angie.

»Ganz einfach. Ich schau es mir an, es nervt mich, ich schalte wieder aus.«

»Auch nicht Enterprise: Die Nächste Generation

»Was ist das denn?«, fragte ich.

»Ich wette, als du geboren wurdest«, sagte Angie, »da hat dein Vater dich genommen, deiner Mutter hingehalten und gesagt: ›Schau, Schätzchen, du hast gerade einen ganz bezaubernden, mürrischen alten Mann zur Welt gebracht.‹«

»Was willst du mir damit sagen?«, fragte ich.

 

{13}Am dritten Tag beschlossen wir, uns einen kleinen Spaß zu erlauben. Als wir morgens mein Haus verließen, ging Angie nach Norden und ich nach Süden.

Das Stehaufmännchen folgte Angie.

Lurch, der Butler aus der Addams Family, folgte mir.

Ich hatte Lurch zuvor noch nicht bemerkt, und vielleicht hätte ich das auch nie. Aber inzwischen war ich auf der Hut.

Bevor wir das Haus verließen, hatte ich meine Sonnenbrille aufgesetzt, die ich sonst zum Fahrradfahren benutze. An der linken Seite des Brillengestells war ein kleiner Rückspiegel zum Ausklappen befestigt. Nicht ganz so cool wie das Zeug, das Bond immer von Q bekam, aber immerhin. Und außerdem musste ich dafür nicht mit Ms. Moneypenny flirten.

Ein drittes Auge im Hinterkopf, und ich wette, ich war der erste Junge im Viertel, der so etwas hatte.

Ich entdeckte Lurch, als ich ganz plötzlich im Eingang zu Patty’s Pantry stehenblieb, um mir meinen Morgenkaffee zu holen. Ich las eine imaginäre Speisekarte an der Tür, klappte den Spiegel aus und drehte den Kopf, bis ich den Kerl, der aussah wie ein Leichenbestatter, auf der anderen Seite der Straße bei Pat Jay’s Pharmacy entdeckte. Er stand mit vor der Spatzenbrust verschränkten Armen da und starrte mir ganz unverhohlen auf den Hinterkopf. Furchen durchzogen seine eingefallenen Wangen wie trockene Flussläufe, und der spitze Haaransatz begann auf halber Stirnhöhe.

In Patty’s Pantry klappte ich den Spiegel zurück an die Brille und bestellte meinen Kaffee.

»Bist du plötzlich blind geworden, Patrick?«

{14}Ich schaute Johnny Deegan an, der gerade Sahne in meinen Kaffee goss. »Was?«

»Die Brille«, sagte er. »Ich mein, es ist Mitte März oder so, und seit Thanksgiving hat keiner mehr die Sonne gesehen. Bist du blind, oder willst du nur hip sein oder so’n Scheiß?«

»Ich will nur hip sein oder so’n Scheiß, Johnny.«

Er schob mir meinen Kaffee über die Theke und nahm mein Geld.

»Funktioniert nicht«, sagte er.

 

Draußen auf der Straße beobachtete ich Lurch durch die Sonnenbrille, wie er sich ein paar Flusen vom Knie wischte und sich dann genau so zu seinen Schnürsenkeln hinunterbeugte wie das Stehaufmännchen am Vortag.

Ich dachte daran, was Johnny Deegan gesagt hatte, und nahm die Sonnenbrille ab. Bond war schon cool, klar, aber der musste ja auch seinen Kaffee nicht bei Patty’s Pantry trinken. Ach, zum Teufel, versuchen Sie mal, in diesem Viertel einen Wodka Martini zu bestellen. Ob geschüttelt oder gerührt, die würden Sie achtkantig aus der Bar schmeißen.

Ich überquerte die Straße, Lurch konzentrierte sich auf seine Schnürsenkel.

»Hi«, sagte ich.

Er richtete sich auf und sah sich um, als hätte jemand aus einiger Entfernung seinen Namen gerufen.

»Hi«, wiederholte ich und hielt ihm meine Hand hin.

Er sah sie an und schaute wieder die Straße entlang.

»Wow«, sagte ich, »im Beschatten sind Sie eine Niete, aber Ihre Umgangsformen sind vom Feinsten.«

{15}Langsam drehte sich sein Kopf wie die Erde um ihre Achse, bis der Blick seiner dunklen Kieselaugen meinen kreuzte. Er musste dafür nach unten schauen, und der Schatten seines knochigen Schädels fiel mir auf Gesicht und Schultern. Dabei bin ich gar nicht sonderlich klein geraten.

»Kennen wir uns, Sir?« Seine Stimme klang, als müsse sie gleich wieder im Sarg verschwinden.

»Sicher kennen wir uns«, sagte ich. »Sie sind Lurch.« Ich schaute nach oben und dann die Straße entlang. »Wo ist denn Ihr Cousin It, Lurch?«

»Sie sind lange nicht so witzig, wie Sie glauben, Sir.«

Ich hielt meinen Kaffeebecher hoch. »Warten Sie, bis ich mein Koffein hatte, Lurch. In einer Viertelstunde bin ich staatlich anerkannter Oberbrüller.«

Er lächelte zu mir herab, und die Furchen in seinen Wangen verwandelten sich in Canyons. »Wenn Sie doch nur nicht so durchschaubar wären, Mr. Kenzie.«

»Wie das, Lurch?«

Ein Kran schwang mir einen Betonpfeiler ins Kreuz, irgendetwas mit winzigen scharfen Zähnen biss mir rechts in den Hals, und Lurch taumelte durch mein Blickfeld, als der Bürgersteig sich aufbäumte und auf mein Ohr zukam.

»Hübsche Sonnenbrille, Mr. Kenzie«, sagte das Stehaufmännchen, als sein Gummigesicht an mir vorbeischwebte. »Das gibt so eine besondere Note.«

»Ganz schön Hightech«, meinte Lurch.

Jemand lachte, ein anderer startete einen Wagen, und ich kam mir sehr dumm vor.

Q wäre erschüttert gewesen.

 

{16}»Mir brummt der Schädel«, sagte Angie.

Sie saß neben mir auf einem schwarzen Ledersofa, und wie meine waren auch ihre Hände hinter den Rücken gefesselt.

»Und wie steht’s mit Ihnen, Mr. Kenzie?«, fragte jemand. »Was macht Ihr Kopf?«

»Geschüttelt«, antwortete ich. »Nicht gerührt.«

Ich drehte meinen Kopf in die Richtung der Stimme, doch ich sah nur ein grelles gelbes Licht, umgeben von weicherem Braun. Ich blinzelte und spürte, wie der Raum leicht ins Schlingern geriet.

»Das mit der Betäubung tut mir leid«, sagte die Stimme. »Wenn es eine andere Möglichkeit gegeben hätte …«

»Da muss Ihnen nichts leidtun«, meinte eine Stimme, die ich als die von Lurch erkannte. »Es gab keine andere Möglichkeit.«

»Julian, geben Sie Ms. Gennaro und Mr. Kenzie bitte ein Aspirin.« Dann seufzte die Stimme hinter dem grellen gelben Licht. »Und binde sie los, bitte.«

»Und wenn sie sich rühren?«, fragte das Stehaufmännchen.

»Sorgen Sie dafür, dass sie es nicht tun, Mr. Clif‌ton.«

»Jawohl, Sir. Mit dem größten Vergnügen.«

 

»Ich heiße Trevor Stone«, sagte der Mann hinter dem Licht. »Sagt Ihnen der Name etwas?«

Ich rieb mir die roten Striemen an den Handgelenken.

Angie tat das Gleiche bei sich und atmete tief ein. Ich vermutete, dass wir in Trevor Stones Arbeitszimmer waren.

»Ich habe Ihnen eine Frage gestellt.«

{17}Ich blickte in das gelbe Licht. »Stimmt. Schön für Sie.« Ich drehte mich zu Angie hin. »Wie geht es dir?«

»Die Handgelenke tun mir weh, und mir brummt der Schädel.«

»Und sonst?«

»Und sonst bin ich richtig mies drauf.«

Ich blickte wieder in das Licht. »Wir sind richtig mies drauf.«

»Das kann ich mir denken.«

»Sie können mich mal am Arsch lecken«, sagte ich.

»Geistreich«, meinte Trevor Stone hinter dem grellen Licht, und das Stehaufmännchen und Lurch kicherten leise.

»Geistreich«, wiederholte das Stehaufmännchen.

»Mr. Kenzie, Ms. Gennaro«, sagte Trevor Stone, »ich kann Ihnen versichern, dass ich Ihnen keinen Schaden zufügen...