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Die Diebin - Die Tochter des Magiers

Torsten Fink

 

Verlag Blanvalet, 2009

ISBN 9783641026103 , 416 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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8,99 EUR


 

Die Dolche der Hakul


Verlassen und leer liegt das Land zwischen den Roten Hügeln und dem Dhanis, und kein Korn Gerste fließt mehr von dort in die Kammern des Raik.
 

Kerva der Schreiber, Bericht für den Hohen Verwalter
 

 

Die Nacht war angebrochen, und die Taube hatte am Ufer des Dhanis angelegt. Sie war ein gedrungenes Schilfboot, beinahe eher ein Floß, fast so breit wie lang, mit wenig Tiefgang und einem rechteckigen Segel am kurzen Mast. Im Bug waren Fässer, Ballen und Bündel gestapelt, im Heck gab es einen Verschlag für lebende Ware. Etwa zwei Dutzend Menschen drängten sich in dem engen Holzkäfig. Es waren Sklaven, Namenlose. Sie fanden kaum genug Platz, um zu sitzen, und sicher nicht genügend, dass in der Nacht alle gleichzeitig liegen und schlafen konnten. Sie saßen dicht an dicht, einige mit dem Rücken aneinandergelehnt, und unterhielten sich flüsternd.
»Ich dachte, wir würden es heute schaffen, und jetzt müssen wir noch eine Nacht in diesem Loch verbringen«, sagte ein junger Mann.
»Ja, ich verstehe es auch nicht. Meine Knochen würden sich freuen, wenn ich sie mal wieder richtig ausstrecken könnte«, bestätigte ein älterer.
Trotz der drangvollen Enge gab es eine schmächtige Gestalt, die alleine in einer Ecke des Käfigs saß. Es schien, als wollten die anderen ihr nicht zu nahe kommen. Zwei Krieger bewachten den Verschlag. Sie standen am Mast, und ihre Silhouetten zeigten, dass sie mit Speer und Schild bewaffnet waren.
Die Schiffsführer hatten die Taube in einer kleinen Bucht vertäut. Hier floss das Wasser des Stroms nur träge. Am Ufer hatte einst eine Siedlung gelegen, eingezwängt zwischen dem Dhanis und dem Höhenzug des Glutrückens, doch das Dorf war wohl schon vor langer Zeit zerstört worden. Ölpalmen und Rotdornbüsche wuchsen zwischen den Ruinen, und raues Gras hatte sich auf geborstenen Lehmziegeln angesiedelt.
»Was macht Atib?«, fragte der Jüngere jetzt.
»Er steht immer noch da drüben auf der Mauer.«
»Aber wozu?«
»Frag ihn doch«, brummte der ältere.
Atib der Händler stand auf den Mauerresten eines niedergebrannten Hauses und starrte nach Osten. Die ersten Sterne zeigten sich am Himmel. In Mauerspalten hockten Zikaden und Grillen und erfüllten die warme Abendluft mit ihrem zirpenden Gesang. Der Fluss rauschte leise. An einem Lagerfeuer, dicht beim Schiff, saßen sechs Männer. Zwei von ihnen trugen den rockartigen Sker, die kurze, leichte Kleidung der Flussschiffer. Drei der anderen waren an ihren ledernen Waffengurten und den schmucklosen Bronzehelmen als Krieger zu erkennen. Ihre Speere hatten sie in Griffweite in den Boden gerammt, die mannshohen Lederschilde an eine verbrannte Mauer gelehnt. Der Jüngste von ihnen war damit beschäftigt, die Sehne seines kurzen Bogens zu fetten.
»Sieh dir nur den kleinen Dyl an«, flüsterte einer der Sklaven im Verschlag.
»Was ist mit ihm?«, fragte eine junge Frau zurück.
»Er behandelt den Bogen mit einer Liebe, wie er sie sicher noch keiner Frau geschenkt hat.«
Leises Gelächter lief durch den Verschlag. Die beiden Wachen am Mast hoben argwöhnisch die Köpfe, und das Lachen verstummte.
Der größte der Männer am Feuer, der alle anderen noch im Sitzen um Kopfeslänge überragte, trug einen langen, ledernen Schuppenpanzer, der ihm im Stehen sicher bis an die Schenkel reichte. Jetzt lag der Saum in Falten im Staub. Eine schwere Bronzeaxt ruhte auf seinen Knien. Ihr Blatt war geschwärzt, aber an der einen oder anderen Stelle schimmerte matt das Metall hindurch. Ein Zeichen häufiger Benutzung. Der sechste in dieser Runde war offensichtlich weder Soldat noch Schiffer; wer in sein greises und zerfurchtes Gesicht blickte, konnte feststellen, dass die Augenhöhlen des Mannes leer waren. Er war nicht einfach nur blind, sondern hatte keine Augen. Der Alte hielt einen langen Stab in den Händen, lächelte versonnen und schien dem prasselnden Feuer zuzuhören. Ein schwarzer Kochtopf hing über den Flammen, und der Geruch von gekochtem Lammfleisch verbreitete sich mit dem Gesang der Zikaden zwischen den Ruinen.
Atib blickte unverwandt nach Osten, wo ein matter roter Schimmer den Horizont hinter den Hügeln erhellte. Er seufzte und schüttelte den Kopf. Dann stieg er von der Mauer und trat ans Feuer.
»Fakyn, du bist ein Künstler nicht nur mit dem Speer, scheint mir«, sagte gerade der Blinde mit brüchiger Stimme, »ich rieche Lamm und Linsen und einige Kräuter, die ein Festmahl versprechen.«
»Und du glaubst, wir geben dir was ab?«, brummte der große Krieger missvergnügt und warf ein Stück Holz ins Feuer.
Der Alte lachte. »Du möchtest, dass ich für meine Mahlzeit bezahle, Fakyn?«
 

»Worüber reden sie?«, fragte ein älterer Sklave im Verschlag.
»Ich glaube, sie wollen, dass der alte Biredh etwas erzählt«, sagte ein anderer, »aber er ziert sich. Dyl will etwas über Boga und Arku hören, und der dicke Kadar fragt nach dem Marsch der Akkesch. Ist ihm wohl beides nicht recht. Ich glaube, er hat Hunger und will lieber essen. Aber warte...«
 

Unten am Feuer hatte der Erzähler einen eigenen Vorschlag unterbreitet. Dyl und Kadar wirkten nicht sehr begeistert, doch Fakyn, der Anführer der Krieger, stimmte zu. Der Alte räusperte sich, dann schien er sich zu verwandeln. Seine Gesichtszüge glätteten sich, seine Stimme, die eben noch leise und brüchig klang, wurde nun sanft und zugleich fest. Sie erfüllte die verbrannten Ruinen mit Leben, hallte von den Hängen der Anhöhen wider. Die Sklaven im Verschlag konnten jedes Wort verstehen.
»Nun, gut, die Geschichte der Zwölf Städte. Wisset also: Vor unvorstellbar langer Zeit lebten die Menschen in immerwährendem Frieden und ewiger Eintracht in zwölf großen Städten. Sie befuhren das Meer, um zu fischen, bebauten ihre Felder, weideten ihr Vieh und brachten den Hütern – den erstgeborenen Göttern – ihre Opfer dar. Die Hüter hielten die Naturgewalten im Zaum, und die nachgeborenen Götter, die nur ihre Diener sind, folgten ihren Befehlen. Es waren Zeiten des Glücks, und die Menschen mehrten sich. Die Hüter walteten ihrer Aufgabe, wie es Edhil, der Tiefdenkende, der Schöpfer der Welt, ihnen aufgetragen hatte. Die Städte am Meer standen unter dem Schutz Alwas, und die Fischernetze waren immer gut gefüllt. Die schöne Hirth sorgte dafür, dass in den Ebenen die Herden gediehen und die Felder reiche Ernte trugen. Brond schützte die Siedlungen an den Hängen der Feuerberge, und unter seinem Segen schufen die Schmiede dort wunderbare Werkzeuge, die sie mit den anderen Städten tauschten. Die Bewohner der himmelnahen Berge jedoch huldigten Fahs, und seine Winde lehrten sie die Geheimnisse der Heilkunst und manch anderes Wissen, das nun verloren ist. Sie lebten gut, die Menschen unter dem Schutz der Hüter, und sie waren frei von Leid und Elend.«
Der Alte schwieg und schien den Nachklang seiner Worte zu prüfen. Die Männer am Feuer hingen an seinen Lippen. Beide Wachen an Bord der Taube waren aus dem Schatten des Mastes getreten und lauschten nun, auf ihre Wurfspeere gestützt, dem Erzähler. Hinter ihnen drängten sich die Namenlosen, die Sklaven, an das Gitter. Auch Atib der Händler hörte der altbekannten Geschichte aufmerksam zu.
»Dann aber«, fuhr der Erzähler fort, »kam Strydh, der letzte der erstgeborenen Götter, zu den Fürsten der zwölf Städte und sprach zu ihnen: ›Ein hartes Leben ist es, das ihr führt, nichts als Mühe und Schweiß, und es währt nur kurz. Ist es aber zu Ende, dann steigt ihr hinab in das Land ohne Wiederkehr und wartet im Staub der Totenstadt Ud-Sror auf das Vergessen. Und dieses ereilt euch schnell, denn wer entzündet Opferfeuer für euch, wenn eure Söhne erst einmal gestorben sind? Dann entschwindet euer Geist endgültig aus dem Kreis dieser Welt, und verloren seid ihr auf ewig.‹
Und die Fürsten fürchteten sich.
Strydh aber fuhr fort: ›Dies ist das Los der Menschen seit alters her, ich aber kann euch ein neues Leben zeigen. Wenn ihr mir folgt, werden eure Tage ruhmvoll sein, Gold und Silber wird eure Hallen schmücken, und noch die Enkel eurer Enkel werden eurer Taten gedenken. In der Stadt der Toten aber werdet ihr an der Tafel meines Dieners Uo, des Fürsten der Toten, sitzen, und lange und ehrenvoll soll euer Sein dort währen, denn die Opferfeuer für Helden werden nie verlöschen. Diesen Weg aber kann nur ich euch zeigen, denn meine Geschwister, die Hüter, wissen nichts von ihm.‹
Da gelobten die Fürsten Strydh Treue und schworen, seinem Rat zu folgen und künftig ihm – noch vor den Hütern – zu huldigen. So lehrte Strydh sie, Helme, Speere und Schilde zu schmieden, und er zeigte ihnen, wie sie im Kampfe Ruhm gewinnen konnten.
So endete die lange Zeit des Friedens, denn bald schon kämpfte Stadt gegen Stadt. Große und ruhmreiche Taten wurden vollbracht und besungen.
Und Strydh hielt Wort. Der Reichtum der Fürsten nahm zu, und bald schmückten Gold und Silber ihre Hallen. Doch aus den Straßen der Städte stiegen Klagen auf, denn manches Heer, das auszog, kehrte nie zurück, und mancher Held, der besungen wurde, hat den Lobgesang nie vernommen. So, wie der Glanz der Städte zunahm, so sank...