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Der Tote von Sines - Inspektor Cabral ermittelt

Claudia Santana

 

Verlag Aufbau Verlag, 2020

ISBN 9783841218230 , 352 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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7,99 EUR


 

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»Wer ist dieser Óscar Lima?«, fragte Cabral.

»Einer der Kapverdianer. Lebt seit den siebziger Jahren in Sines, aber sehr zurückgezogen. Er war Fischer, wie die meisten, die 1974 nach der Nelkenrevolution und dem Ende der Diktatur von den Kapverden hierhergekommen sind. Familie hatte er nicht.«

Cabral und Gouveia flogen fast über die Avenida da Costa do Norte, die die Stadt im Norden wie ein Halbkreis umspannte und von der die Estrada do Guia abging, die zur Küste führte.

»Und er wurde zu einer Feier im Centro de Artes erwartet? Warum?«

»Er war einer der Männer, die für eine Ausstellung über Einwanderer porträtiert worden sind. An diesem Wochenende geht sie zu Ende. Joana Meireles hat die Interviews geführt und Fotos gemacht. Alles wurde auf riesigen Plakaten und Leinwänden ausgestellt. Auf der Webseite der Câmara Municipal kannst du das alles nachlesen. Auch die Zeitungen haben ausführlich darüber berichtet. Óscar wurde ganz besonders hervorgehoben, weil er einer der Ältesten in der kapverdischen Gemeinde war. Die gesamte Ausstellung war eine Kooperation zwischen der Stadt und der Associação Caboverdiana.«

»Und Joana Meireles? Wer ist das?«

»Eine Journalistin. Sie hat hier im letzten Jahr über das FMM berichtet. Es war das fünfzehnte Festival und daher etwas Besonderes und größer als alle anderen zuvor. Danach ist sie dann einfach geblieben.«

Cabral dachte mit einem Anflug von Wehmut an das Festival Músicas do Mundo zurück, ein echtes Musikspektakel, das jedes Jahr im Juli für die Dauer von etwa zehn Tagen in Sines stattfand. Es war über die Grenzen Portugals hinaus bekannt und zog jedes Jahr an die hunderttausend Besucher an. Die meisten waren Touristen, überwiegend junge Leute, Backpacker und Alternative. Viele Künstler kamen aus den ehemaligen Kolonien Portugals in Afrika. Als Cabral noch jünger war, hatte er sich jedes Jahr mit Freunden einige Nächte vor den Bühnen am Strand und im Burginnenhof um die Ohren geschlagen.

Gouveia bog jetzt von der Hauptstraße in die Estrada do Guia ab. Schon von Weitem sahen sie die Blaulichter der Einsatzwagen der GNR und der Ambulanz durch die Schwärze der Nacht zucken. Die Estrada do Guia war früher nicht mehr als eine holprige Schotterpiste gewesen, mit Schlaglöchern so tief, dass man darin einen Fußball hätte verschwinden lassen können. Sie verband die Stadt mit dem Restaurante O Guia, das auf einer Düne über der Nordküste thronte. Links und rechts der Schotterpiste hatten nur vereinzelt Häuser gestanden, die überwiegend von Fischern bewohnt wurden. Doch was Cabral jetzt in der Dunkelheit ausmachte, war eine ausgedehnte Baustelle. Teile der Strecke waren bereits asphaltiert, die Seitenstreifen allerdings noch nicht befestigt. Schwere Straßenbaumaschinen waren zu beiden Seiten am Rand der Fahrbahn geparkt. Es war gespenstisch.

»Was wird das hier?«, fragte er Gouveia.

»Die Straße zu O Guia wird ausgebaut. Touristisch erschlossen, wie es so schön heißt. Jede Menge neuer Fahrradwege sollen entstehen.«

»Für welchen Tourismus?« Cabral lachte auf. »Soweit ich mich erinnere, wurde in den letzten Jahren ausschließlich daran gearbeitet, den Industriehafen auszubauen. Um Naturschutz und Ökologie kümmert sich hier doch niemand. Touristen fahren entweder Richtung Norden zur Lagune von Santo André oder Richtung Süden nach Porto Covo. Wer also soll hier herumradeln? Das ist doch lächerlich!«

»Das musst du mir nicht erzählen, Nuno. Du kennst meine Einstellung dazu, und ich tue mein Bestes.«

Cabral war aufgebracht und fragte sich außerdem, wie die Anwohner diese Baupläne aufnahmen. Mit einem merkwürdigen Ziehen in der Magengegend dachte er jetzt an Lavendel und wilden Rosmarin. Beides war hier einst in üppigen Büschen zwischen den Schirmpinien und Steineichen gewachsen. Als er ein Kind war, wurden an den Feiertagen zu Ehren der Volksheiligen Santo António, São João und São Pedro kleine Feuer mit den aufgeschichteten Zweigen entzündet, über deren Flammen man traditionell sprang. Heute war daran nicht mehr zu denken. Offenes Feuer in der Natur war verboten. Zu oft wurden weite Teile im Süden des Landes in den heißen Monaten von Waldbränden heimgesucht.

Sie erreichten Limas Haus, und mit einem Ruck kam der Wagen in einer Staubwolke zum Stehen. Kleine Steinchen flogen wie Geschosse in alle Richtungen. Die vielen Absperrungen und das große Aufgebot an Männern der GNR machten sofort klar, dass Óscar Lima nicht an einem Herzinfarkt verstorben war. Ein derartiger Aufwand wurde nur an einem Ort betrieben, an dem ein Verbrechen geschehen war. Cabral und Gouveia stiegen aus und wurden sofort von einem Cabo der GNR, einem Angehörigen der in viele Subkategorien eingeteilten Gruppe der Unteroffiziere, abgefangen.

»Sie können hier nicht stehen bleiben. Bitte fahren Sie weiter.«

»Cabo, wo ist João?«

Da erkannte der Mann Gouveia.

»Boa noite, Presidente. Er ist nicht mehr hier. Er wurde bereits auf die Wache mitgenommen. War nicht gerade in der besten Verfassung, der arme Mann«, sagte er.

Cabral schmunzelte. Gouveia wurde seinen Titel auch im Ruhestand nicht los. Vermutlich würde er ihn lebenslang tragen.

»Kein Wunder, wenn ihr ihn erst hier festhaltet und dann abführt, als wäre er ein Verdächtiger«, beschwerte sich Gouveia.

»Er ist immerhin ein Zeuge«, mischte sich Cabral ein. »Und als solcher muss er noch seine Aussage machen. Das macht man nicht hier am Tatort. Ein ganz gewöhnlicher Vorgang.«

»Stimmt. Ihn hat auch der Anblick der Leiche mitgenommen«, wandte der Cabo ein. »Das ist nie schön, aber wenn man den Toten auch noch kennt, ist es noch schlimmer. Er hat sich ein paarmal in die Büsche übergeben.«

»Wo ist der Tote?«, fragte Cabral.

»Drüben in dem Toilettenhäuschen, aber da können Sie nicht hin. Wer sind Sie überhaupt? Sind Sie mit dem Opfer bekannt oder verwandt?«

»Inspektor Nuno Cabral, Polícia Judiciária Lissabon.«

Gouveia hatte die Frage des jungen Mannes beantwortet, bevor Cabral auch nur den Mund öffnen konnte. Der Mann nahm augenblicklich eine straffere Haltung an. Cabral wollte aufbrausen, aber Gouveia legte ihm eine Hand auf die Schulter, und im letzten Moment beherrschte er sich. Er wollte Gouveia nicht hier vor dem Cabo zur Rede stellen, aber er fühlte sich in die Ecke gedrängt. Und damit nicht genug. Ihm war auf einmal ganz schwindelig. Gouveias Worte brachten Saiten zum Schwingen, von denen er geglaubt hatte, dass sie vor langer Zeit verstummt waren. Hatte er sich getäuscht? Er konnte die Emotion nicht definieren, die sich um sein Herz klammerte. Dennoch würde er das später mit Gouveia klären müssen.

»Verzeihung, Inspektor, aber wie sind Sie so schnell aus Lissabon hierhergekommen? Und wieso Lissabon? Dies hier ist doch der Zuständigkeitsbereich von Setúbal.«

»Reiner Zufall. Ich habe privat in Sines zu tun. Sind denn die Kollegen aus Setúbal schon benachrichtigt?«

Cabral hatte sich wieder gefasst.

»Jawohl, aber vor morgen wird hier niemand erscheinen.«

»Lassen Sie mich den Tatort ansehen?«

Aus dem Augenwinkel nahm Cabral das Grinsen von Gouveia wahr. Sie würden reden müssen, später. Nur weil er einen Blick auf den Tatort werfen wollte, hieß das noch lange nicht, dass er sich darüber hinaus einmischen oder womöglich länger bleiben würde. Gouveia glaubte doch nicht ernsthaft, dass er sich damit ködern ließ.

Er ging hinüber zu dem einfachen Haus, welches typisch war für die ländlichen Regionen im Alentejo. Es war eingeschossig, weiß getüncht und hatte einen leuchtend blauen Sockel. Allerdings war auf die übliche blaue Umrandung von Fenstern und Tür verzichtet worden. Ein paar rote Dachziegel fehlten. In der Dunkelheit wirkte das Dach wie ein Mund mit lückenhafter Zahnreihe. Wie bei vielen älteren Häusern dieser Art, befand sich die Toilette in einem separaten kleinen Anbau. Oft waren sie mit einem Heizlüfter ausgestattet, der an der Wand oder unter der Decke hing, damit die Dinge, die man dort eben so erledigte, auch in der kühleren Jahreszeit so angenehm wie möglich auszuführen waren. Dieser Anbau wurde in der Regel aus Zement gebaut, aber auch heute gab es noch viele ältere Modelle aus Holz. Aber eines hatten alle gemeinsam: Sie waren fensterlos. Es war nicht mehr als eine Zelle.

Man ließ Cabral passieren, ohne nach einem Dienstausweis zu verlangen. Sein Glück, denn nachdem er den Dienst quittiert hatte, besaß er keinen mehr. Er hatte ihn, den Protest seines Vorgesetzten ignorierend, zusammen mit seiner Dienstwaffe abgegeben.

Die GNR hatte Scheinwerfer aufgebaut, und Cabral kam sich vor, als wäre er an einem Set für ein Fotoshooting. Es war ganz und gar surreal. Er ging auf das Häuschen zu und versuchte erst einmal, sich aus ein paar Metern Distanz ein Gesamtbild zu machen. Der Tote saß auf dem Toilettensitz, war aber vollständig angekleidet. Er war ein kräftig gebauter Mann gewesen. Nun aber war er in sich zusammengesunken wie ein schlaffer Getreidesack und lehnte, zur Seite gekippt, an der Wand. Nur der Enge des Häuschens, dessen Grundfläche sich auf nicht viel mehr als einen Quadratmeter belief, war es zu verdanken, dass er nicht zu Boden gefallen war. Cabral trat näher heran. Blut war dem Toten über den Nacken in den Hemdkragen gelaufen und zu fast schwarzen Krusten getrocknet.

Er muss einen Schlag auf den Hinterkopf bekommen haben, vermutete Cabral. Aber das konnte nicht hier drinnen...