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Marionettenverschwörung - Meranas siebter Fall

Manfred Baumann

 

Verlag Gmeiner-Verlag, 2019

ISBN 9783839260609 , 310 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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13,99 EUR


 

Dienstag, 23. April


Ein helles Etwas huscht vorüber, wie ein Stück Stoff, ein bleiches Tuch, das der Wind kurz aufbläht. Merana hebt den Kopf und lugt durch die geöffneten Vorhänge nach draußen. Das helle Gebilde entpuppt sich als Möwe. Sie spreizt ihre Flügel, landet mit den Beinen voran auf dem Geländer des Balkons. Der gelbe Schnabel schimmert im Dunst der Morgendämmerung. Merana wälzt sich aus dem Bett, greift nach dem Morgenmantel. Vorsichtig öffnet er die Balkontür. Er will das Tier nicht gleich verscheuchen. Der Vogel scheint die Nähe von Menschen gewohnt zu sein. Neugierig beäugt er die Gestalt im blauen Mantel, die aus dem Dunkel des Hotelzimmers ins Freie tritt. Langsam nähert sich Merana den Querstreben der Balkonumrahmung, legt die Hände darauf. Das Metall fühlt sich kühl an, feucht. Die Möwe beobachtet ihn, ruckt mit dem Kopf, verharrt auf ihrem Platz. Der Himmel über dem Hotel prangt in sattem Grau, durchzogen von dunklen Schlieren, ein düsterer Anblick. Die dichte Dunstdecke ringsum zeigt sich schon heller. Das Morgenlicht wird stärker. Laut Wetterbericht wird die Sonne in zwei bis drei Stunden große Schneisen in den Nebel reißen. Dann wird die Stadt in vollem Licht erstrahlen. Langsam beugt sich Merana vor, schiebt den Oberkörper so weit wie möglich über das Geländer, dreht den Kopf nach links. Zwischen den schemenhaften Häuserumrissen ist die Spitze des Michel auszumachen, ein Teil der Kuppel ist zu sehen, und die obere Rundung der goldenen Uhr. Wäre der Nebel lichter, könnte er vom Balkon des Hotelzimmers sogar die geschwungene Treppe zwischen den Säulen erkennen, über deren Stufen er gestern nach oben gestiegen ist.

Zusammen mit Jennifer.

Heute ist sein dritter Tag in Hamburg. Gestern, am Ostermontag, hat Jennifer ihn auf ihrer Tour durch die Innenstadt auch zur Kirche geführt. Sie befanden sich plötzlich mitten in einem Fest. Auf dem großen Platz vor der Kirche waren Tische aufgestellt, dicht gefüllt mit Feiernden. Eine Band spielte auf einer provisorisch errichteten Bühne nahe an der Kirchenmauer. An den Verkaufsständen wurden Würste angeboten, Bouletten, Gemüseauflauf, Salate, Kaffee und Kuchen, Getränke. Merana hätte gerne ein kühles Bier getrunken, aber Alkohol wurde nicht ausgeschenkt. Organisiert wurde das Fest von ehrenamtlichen Mitarbeitern der Pfarrgemeinde. Die Einnahmen kamen Obdachlosen zugute. Auch die waren Teil des Festes, hockten in kleinen Grüppchen oder vereinzelt zwischen den übrigen Gästen. Manche blickten misstrauisch, hielten grimmig die Hände um ihre Gläser gekrallt. Andere lachten und zeigten offenherzig ihre Freude an der Aufmerksamkeit, die man ihnen an diesem Feiertag widmete. Merana war überrascht gewesen, als sie die Stelle erreicht hatten. Der Platz war wie eine Insel, die sich plötzlich im Meer der Stadthäuser auftat. Die bunte Schar der an schlichten Holztischen versammelten Feiernden verlieh dem Platz samt seiner Umgebung einen nahezu dörflichen Charakter. Beherrscht wurde das Ambiente vom großen Gotteshaus, von der evangelischen Hauptkirche Sankt Michaelis, eines der Wahrzeichen der Hansestadt. Der markante Turm war jahrhundertelang gut sichtbare Markierung für Seefahrer, die mit ihren Schiffen auf der Elbe nach Hamburg segelten.

Nicht weit von der Michaelis-Kirche entfernt trifft man auf die spektakulären Glasbauten der neu errichteten HafenCity. Sie schicken sich an, das Bild des modernen Hamburgs zu prägen, sich zum neuen Erkennungszeichen aufzuschwingen. Aber noch thront das alte Wahrzeichen über den Glaspalästen, noch überragt sie der alte »Michel«, wie die Hamburger liebevoll ihre Kirche nennen.

Merana war auch vom Inneren des Gebäudes beeindruckt. Ein weiter, heller, lichtdurchfluteter Raum bietet sich dem Betrachter, nicht so protzig überladen wie manche Barockkirchen in Österreich und im süddeutschen Raum, die er kennt. Am meisten überwältigt war er von der Aussicht. Vor allem die Sicht auf die Elbe und den riesigen Hafen war unbeschreiblich.

Jetzt, vom Balkon des Hotels aus, kann er nur wenig in der Ferne erkennen. Er überlegt kurz, den gefiederten Kollegen alleine zu lassen und sich wieder ins warme Zimmer zu verziehen. Doch er bleibt. Und er wird für sein Ausharren belohnt. Der dichte graue Schleier wird durchlässiger. Nach wenigen Minuten sind bereits schemenhafte Konturen auszumachen. Was eben noch formloses graues Gebilde war, verwandelt sich langsam zu Umrissen von imposanten Windrädern, von gigantischen Kränen, die ihre kolossalen Stahlarme in den Himmel recken wie furchterregende Weltraummonster aus einem Science-Fiction-Film. Weit unter ihm vermeint Merana, einen mächtigen, lang gezogenen Schatten auszumachen, der geräuschlos durch den Nebel gleitet. Im nächsten Moment spaltet sich die graue Wand, gibt den Blick frei auf ein riesiges Containerschiff. Wie ein urzeitlicher Koloss schiebt sich das schwimmende Ungetüm über das Wasser der Elbe, begleitet von Schleppern, deren schwache Umrisse er mehr erahnen kann, als sie tatsächlich auszumachen.

Merana ist zum ersten Mal in Hamburg. Auf den Anblick des berühmten Hafens mit seinen Schiffen und Kränen hat er sich am meisten gefreut. Und natürlich auf Jennifer. Sie hat ihn am Sonntag vom Flugplatz abgeholt, ihn zum Hotel gebracht. Am Nachmittag suchten sie den Jungfernstieg auf, mengten sich mitten unter die vielen Einheimischen und Touristen, ließen sich auf den voll besetzten Steinstufen am Ufer nieder. Jennifer besorgte einen Imbiss von einer der vielen Verkaufsbuden. So saßen sie fast zwei Stunden lang auf den warmen Steinplatten, löffelten Glasnudeln mit Fisch und Thaisoße aus Pappbechern. Sie redeten, lachten, genossen die beiderseitige Nähe und ließen dazwischen immer wieder den Blick über das Wasser der Binnenalster streifen, erfreuten sich am Anblick der Boote und der großen weißen Fontäne in der Mitte des Areals. Später wechselten sie in ein nahes Lokal an einem der Kanäle mit Blick auf das imposante Rathaus. Viel mehr bekam er an seinem ersten Tag von Hamburg allerdings nicht mit. Was beide an diesem ersten Nachmittag und Abend vor allem wollten, war miteinander reden.

Sie hatten sich über ein halbes Jahr nicht gesehen. Bei ihrer Verabschiedung in Salzburg hatte Jennifer gesagt: »Besuchst du mich bald einmal in Hamburg?« Es hat ein wenig gedauert, aber jetzt ist er hier, um sein Versprechen einzulösen.

Ein scharfes Krächzen reißt ihn aus seinen Gedanken. Der Seevogel neben ihm zuckt mit den Flügeln. Ein weiterer Schrei, dann stößt sich der Vogel vom Geländer ab, nimmt Kurs nach unten, in Richtung Hafen. Der Flügelschlag der startenden Möwe wirkt wie ein Rückzugszeichen für die Nebelwände. Immer größer werden die hellen Flecken in der grauen Umgebung. Am linken Rand von Meranas Blickfeld schieben sich die dunklen Zacken eines Gebäudes aus dem Dickicht der Schwaden. Die geschwungene aufsteigende Silhouette eines prächtigen Bauwerkes wird sichtbar. Wegen dieses Kunsttempels kommt mittlerweile die halbe Welt nach Hamburg. Vor Meranas Augen schält sich die Kontur der berühmten Elbphilharmonie aus dem Nebel. Wie eine überdimensionale futuristische Schmuckschatulle mit kleinen Juwelen auf der dunklen Außenhaut ragt sie über die Gebäude am Fluss. Merana freut sich wie ein kleines Kind. Er hat das Konzerthaus seit seiner Ankunft nur aus der Entfernung gesehen. Den direkten Blick aus der Nähe wollte er sich aufsparen für die Hafenrundfahrt, zu der ihn Jennifer in drei Stunden abholen wird. Und vor allem wollte er sich den Eindruck für heute Abend bewahren. Da würde er nicht nur staunend vor der ungewöhnlichen Fassade des Gebäudes stehen. Heute Abend würde er das Haus auch in dessen Innerem erleben. Bei einem Konzert! Die Musikveranstaltungen in der Elbphilharmonie sind heiß begehrt, man muss monatelang auf Tickets warten. Merana konnte Jennifer lange nicht mitteilen, wann er tatsächlich nach Hamburg käme. Zu viel war in letzter Zeit geschehen, hielt ihn auf Trab. Auch das Ende seines komplizierten Prozesses vor der Disziplinarkommission war schwer abzuschätzen gewesen. Erst vor knapp vier Wochen konnte Merana den Termin für seinen Besuch endgültig zusagen. Er muss sie heute Abend fragen, wie sie es geschafft hat, noch Karten zu ergattern. Er wirft einen Blick auf das prunkvolle Konzerthaus in der Ferne, dann kehrt er zurück ins Zimmer. Das dumpfe Dröhnen eines Schiffshorns ist zu vernehmen, gleich darauf ein helleres. Der Hafen erwacht zum Leben. Der Digitalwecker neben dem Bett zeigt 06.15 Uhr. Das Hotel verfügt über einen Swimmingpool und einen Fitnessraum. Beides will er noch nützen. Um halb acht würde er frühstücken und warten, bis Jennifer ihn abholt.

»Einem Verrückten in die Karten schauen, was bringt das?« Der Spruch steht außen auf einem der Fenster des Caféhauses. Er stammt von Thomas Bernhard. Sibylle kennt das Zitat. Doch sie liest die Zeilen jedes Mal aufs Neue, ehe sie eintritt. Und jedes Mal sucht sie nach einer originellen Antwort. Aber ihr fällt nie mehr ein als: Das bringt gar nichts! Auch wenn du das Blatt kennst, weißt du bei Verrückten nie, welche Karte sie als Nächstes ausspielen. Sie schmunzelt, schüttelt den Kopf und öffnet mit Schwung die beiden Eingangstüren zum Café Classic.

»Guten Morgen. Es gibt frischen Topfenstrudel.«

Die Chefin des Hauses lächelt ihr zu. Ihr Mann hantiert am Tresen an der Espressomaschine. Zwei Kellnerinnen sind im hinteren Bereich des Cafés unterwegs.

»Wunderbar, den Strudel nehme ich. Und dazu einen Cappuccino.«

Sie hat sich zwar vorgenommen, heute nichts Süßes zu essen. Aber bei Topfenstrudel kann sie nicht widerstehen. Sie holt sich eine Zeitung, nimmt Platz an einem der Fenstertische. Sie schaut...