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Glück Auf - Oje du fröhliche - 24 kriminelle Geschichten aus dem Weihnachtsland

Petra Steps, Petra Steps

 

Verlag Gmeiner-Verlag, 2019

ISBN 9783839261842 , 281 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

Gaunerzinken


Manfred Köhler (Scharfenstein)


Gernot war seit Jahren nicht in Scharfenstein gewesen. Und er wäre nicht zurückgekommen, hätte er nicht gehört, dass die alte Traudel gestorben war. Ihr Haus wäre ideal für ihn.

Auch wenn das Freibad im Winterschlaf lag und das Zeiss-Planetarium heute geschlossen war, kamen Erinnerungen hoch, ganz automatisch, als Gernot, von Ehrenfriedersdorf kommend, durch Drebach und an den Schildern nach Venusberg vorbei Richtung Scharfenstein tippelte. Aber der Schmerz fühlte sich alt und verschorft an.

Und noch etwas hatte sich geändert: Burg Scharfenstein war für ihn immer ein Ort kämpferischer, Freiheitsgefühle aufwühlender und revolutionärer Gedanken gewesen. Die Legende vom Stülpner Karl hatte sein Leben von Kind an geprägt, als er die erste Burgführung mit einem der Wilderer-Darsteller mitgemacht hatte.

Aber jetzt, da er unfreiwillig etwas geworden war wie ein Stülpner dieser Zeit, wenn auch eine rein aufs Negative beschränkte und unheldenhafte Version des Volkshelden, hasste er es. So wollte er nicht sein.

Gernot schaute hoch zur Burg und sah einen Lastwagen den Burgberg herabfahren. Vermutlich wurde da oben gerade der Weihnachtsmarkt abgebaut, nach einem letzten Besucheransturm am zurückliegenden vierten Adventswochenende. Nun freuten die Leute sich auf den Heiligabend.

Der Gedanke weckte Aufbruchstimmung. Etwas musste geschehen. Gernot wusste nicht, was, aber war entschlossen, die Heimkehr zu nutzen, um wieder in die Spur zu kommen.

Allerdings musste er erst mal die Nacht überleben und die nächsten Tage. Dafür musste er es schaffen, die Unterkunft zu beziehen, wegen der er sich auf den Weg gemacht hatte, und sich ein bisschen Geld besorgen. Eine Idee hatte er schon. Brauchte er nur noch ein Opfer.

Es war die Frau, die sich um Gernot kümmerte.

Der Mann hätte ihn vermutlich verletzt liegen gelassen.

»Jetzt hol doch mal Verbandszeug. Der arme Kerl blutet!«

»Die Polizei sollte ich rufen!«

»Wir wissen doch noch gar nicht, was passiert ist.«

Gernot sah den Moment gekommen, sich zu erklären:

»Drei jugendliche Punks wollten Ihren Briefkasten abfackeln. Als ich sie verjagt hatte und das Feuer löschen wollte, ist plötzlich was explodiert.«

»Punks. Hier in Scharfenstein. In einem bürgerlichen Wohngebiet.«

Der Mann kontrollierte trotz seiner lautstark geäußerten Zweifel sofort den Briefkasten.

»Verdammter Mist! Da hat es wirklich gebrannt.«

»Ich muss aufstehen. Die Kälte. Entschuldigung.«

Die Frau ließ nicht von seiner verletzten Hand ab, half ihm aber schließlich umständlich mit hoch. Es hatte ihn wirklich ganz schön aufs Steißbein gesetzt vor Schreck. Und der Chinaböller hätte ihm fast den Zeigefinger abgerissen. Die Wucht hatte er anders in Erinnerung gehabt. Eher wie einen festen Schlag. Nicht mit einer solchen zerstörerischen Sprengkraft.

»Wir stehen tief in Ihrer Schuld«, sagte die Frau.

»Blödsinn!«, fuhr ihr der Mann ins Wort. »Die Geschichte stinkt.«

»Hören Sie nicht auf ihn. Sollen wir Sie wirklich nicht ins Krankenhaus fahren?«

»Nein, nein, danke. Es hat auch schon aufgehört zu bluten.«

»Können wir sonst irgendwas für Sie tun? Haben Sie Obdach, heute … am Heiligabend?«

Die Betonung aufs letzte Wort schleuderte sie ihrem Mann entgegen. Der fauchte zurück:

»Lass dir bloß nicht einfallen, den zu uns einzuladen!«

»Aber eine finanzielle Anerkennung bekommt er.«

Sie sagte das ihrem Mann zugewandt mit besonderem Trotz.

»Dann aber von deinem Taschengeld. Ich hab keinen Cent für dieses Affentheater übrig.«

»So ein Geizhals. Bitte entschuldigen Sie. Machen Sie es sich mal besonders schön heute Abend.«

Sie zog 50 Euro aus ihrem Geldbeutel. 30 Euro mehr als Gernot maximal erwartet hätte. Der Mann geriet außer sich.

»Das war lauter Werbemist. Nur leicht angekohlt. Der Böller hätte gar nichts gemacht.«

»Du kannst dir heute deinen Gänsebraten selbst zubereiten«, sagte die Frau, lächelte Gernot verschwörerisch zu, als er sich schon schleunigst davonmachen wollte, und rief noch: »Gesegnete Weihnachten. Und alles Gute für Ihre Hand.«

Gernot hatte es sich in seinem gerade bezogenen Häuschen so weihnachtlich-gemütlich gemacht wie es nur ging ohne Strom, Heizung und fließendes Wasser. Er war es seit Jahren gewohnt so, in immer wieder anderen Bruchbuden. Früher kannten die Leute es gar nicht anders, als überwiegend kalt und mühevoll zu wohnen, das Wasser von draußen hereinzuschleppen. Ganz bewusst suchte er sich leer stehende, einsame Häuser mit Kamin aus und alten Kohleherden, sodass er wenigstens mit Holz aus dem Wald ein bisschen Wärme hereinbekam und auch mal was kochen konnte. Traudels Haus war dafür ideal. Wasser holte er aus dem Bach, genug Licht kam an diesem Abend von den Weihnachtskerzen auf dem ebenfalls im Wald geschlagenen Baum. Die Kerzen waren bezahlt, der Baum natürlich nicht.

An einen richtigen Weihnachtsbraten war nicht zu denken gewesen ohne Backofen. Aber aus der Not war eine echte Tugend geworden, als er den Spirituskocher auf dem Speicher des Häuschens fand. Mit einem alten, gründlich gereinigten Topf, einer Flasche Sonnenblumenöl, diversem plastikverpacktem Billigfleisch, Ketchup und drei Brötchen zauberte er sich ein Fondue, das ihm seine besseren Tage wirklich zurückbrachte, statt nur an sie zu erinnern. Woran auch das Sixpack Weizenbier gehörig Anteil hatte. Wenn Gernot eines drauf hatte, dann das Beste aus allem zu machen. Anders wäre ein Leben wie seines auch gar nicht so lange möglich gewesen.

Seine zweite Überlebenseigenschaft war sein Instinkt. Als es nebenan leise quietschte und gleich darauf etwas knarrte, hatte er sich das alte Brotmesser schon unters Hosenbein in den Socken geschoben, ehe ihm die Widersinnigkeit klar wurde.

Jemand war ins Haus eingedrungen. Gequietscht hatte die Eingangstür, geknarrt eine der alten Dielen im Flur. Das Kerzenlicht war durch den Türspalt zu sehen. Entweder verdrückte er sich in den dunklen Nebenraum und dort notfalls durchs Fenster – oder er trat dem Eindringling mit gezücktem Messer entgegen.

Gernot ließ es, denn sein Instinkt war dem Verstand auch diesmal voraus. Zum Verdrücken war es zu spät, die Tür vom Flur her ging bereits auf; und ein gezücktes Messer hätte ihn dieser einzigen Waffe umgehend beraubt, wenn nicht gleich das Leben gekostet. Denn der Eindringling schob eine langstielige Axt voraus. Und seine hasserfüllte Fratze ließ keinen Zweifel an der nötigen Entschlossenheit, sie ohne jede Rücksicht zu gebrauchen.

»Nette Nummer am Briefkasten«, sagte der Mann. »Wundert mich, dass du nicht gebührender feierst.«

»Das Geld muss eine Weile reichen«, antwortete Gernot. Ehrlichkeit schien ihm in dieser plötzlichen Gefahrenlage noch die sicherste Bank.

»Ach ja, wofür denn?«

Der Mann schaute sich angewidert in dem kargen ehemaligen Wohnraum um, der seit Gernots Einzug zumindest kein Lost Place mehr war. Von Wohnlichkeit war die Bude dennoch weit entfernt. Die Leere des Raumes stand in rührendem Kontrast zu dem kleinen Weihnachtsbaum, dessen einziger Schmuck die Kerzen waren. Und das auch nur, weil Gernot Kerzenhalter auf dem Dachboden gefunden hatte. Kaufen wäre nicht drin gewesen.

»Essen«, antwortete Gernot verspätet auf die provozierende Frage.

»Und saufen«, warf ihm der Mann mit Blick auf die Bierdosen vor. Eine war geöffnet, die anderen fünf hingen noch am Trageriemen.

»Eine pro Abend. Mein einziger Luxus.«

»Denk bloß nicht, dass ich auf die Mitleidsmasche reinfalle!«

»Ich sag bloß, wie es ist«, blieb Gernot fest. Die plötzliche Wut des Mannes verebbte, er räumte ein:

»Wie ein Säufer siehst du wirklich nicht aus. Sonstige Drogen?«

Gernot schüttelte stumm den Kopf.

»Hattest irgendwann mal ein normales Leben, oder?«

Dem Mann waren die wenigen Besitztümer aufgefallen, die Gernot von Haus zu Haus mit sich führte, darunter ein kleiner Bilderrahmen mit einem typischen gestellten Familienfoto, der auf dem Kaminsims stand.

»Aber jetzt lebst du illegal in fremden Häusern und bescheißt Leute. Wem gehört die Bude hier?«

Gernot räusperte sich.

»Traudel, einer alten Frau«, antwortete er schließlich. »Sie ist kürzlich gestorben und hatte keine Erben, also ist das Haus an den Staat gefallen.«

»Dem Staat liegst du also hier auf der Tasche. Da weiß ich doch gleich, wie ich dir eins auswischen kann.«

»Ihre Frau hat mir das Geld gegeben. Was wollen Sie also von mir?«

»Na was wohl? Deine Herausforderung annehmen. Außerdem war das mein Geld. Die Alte ist doch nur Hausfrau.«

»Welche Herausforderung denn?«, fragte Gernot und hätte zu gern noch was zum Thema Ausbeutung einer Hausfrau mit schäbigem Taschengeld gesagt. Aber mit dem Typen eröffnete er mal lieber keine Nebenkriegsschauplätze.

»Dass du diese Nummer abziehst, du Arsch. Trotz der deutlichen Warnung am Haus.«

»Ich weiß wirklich nicht, was Sie meinen.«

Gernot hatte die ganze Zeit weiter am Tisch gesessen und beobachtet, wie der Mann durchs Zimmer schlurfte, immer mal schmerzvoll das Gesicht verzog und alles genau anglotzte. Als er nun einen der modrigen Vorhänge zur Seite schob, um nach draußen zu spähen, wollte Gernot aufstehen und sich in eine strategisch günstigere Position bringen.

»Schneit...