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Kälteschlaf - Island-Krimi

Arnaldur Indriðason

 

Verlag Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2011

ISBN 9783838712604 , 384 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR

Für Firmen: Nutzung über Internet und Intranet (ab 2 Exemplaren) freigegeben

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Vier

Als Erlendur nach Hause kam, machte er zunächst Licht in der Küche. Aus dem Stockwerk über ihm drangen wummernde Bässe nach unten. Vor Kurzem war dort ein junges Paar eingezogen, das abends laut Musik hörte, manchmal sehr laut, und an Wochenenden Partys feierte. Die Gäste trampelten bis zum frühen Morgen durchs Treppenhaus, nicht selten gab es einen Riesenradau. Über das Pärchen hatten sich bereits etliche Anwohner beschwert. Die beiden gelobten auch Besserung, aber mit diesem Versprechen war es nicht weit her. Für Erlendur war das, was das Pärchen da hörte, eigentlich gar keine Musik, sondern nur ein sich unablässig wiederholendes Wummwumm, begleitet von gelegentlichem Geheul.

Dennoch hörte Erlendur ein Klopfen an der Tür.

»Ich hab gesehen, dass Licht bei dir war«, erklärte sein Sohn Sindri Snær, als Erlendur öffnete.

»Komm rein«, sagte Erlendur. »Ich bin gerade aus Grafarvogur zurück.«

»Interessanter Fall?«, fragte Sindri und machte die Tür hinter sich zu.

»Interessant ist eigentlich alles«, antwortete Erlendur. »Möchtest du Kaffee oder etwas anderes?«

»Bloß ein Glas Wasser«, erklärte Sindri und zog eine Zigarettenschachtel aus der Tasche. »Ich hab Urlaub. Zwei Wochen.« Er sah zur Decke und lauschte dem Hardrock über ihm, den Erlendur gar nicht mehr hörte. »Was ist denn das für ein Krach?«

»Da oben sind neue Leute eingezogen«, sagte Erlendur in der Küche. »Hast du etwas von Eva Lind gehört?«

»Das ist schon etwas länger her. Sie hat sich neulich mit Mama gefetzt, aber ich weiß nicht, was da los war.«

»Sich mit eurer Mutter gefetzt?«, hakte Erlendur nach und tauchte im Türrahmen auf. »Weswegen?«

»Deinetwegen, soweit ich weiß.«

»Wieso sollten sie sich meinetwegen fetzen?«

»Frag sie doch selbst.«

»Arbeitet sie?«

»Ja.«

»Und wie ist es mit dem Rauschgift?«

»Sie ist clean, glaube ich. Aber sie will trotzdem nicht mit mir zu diesen Treffen gehen.«

Erlendur wusste, dass Sindri regelmäßig die Zusammenkünfte der Anonymen Alkoholiker besuchte, und glaubte, dass es ihm half. Trotz seines jungen Alters hatte er große Probleme wegen Alkohol gehabt, sich aber auf eigene Faust aus dem Sumpf herausgezogen und das getan, was notwendig war, um die Sucht unter Kontrolle zu bekommen. Seine Schwester Eva hielt sich zwar im Augenblick von Drogen fern, aber von Entziehungskuren und Gruppentherapien wollte sie nichts wissen; sie war überzeugt, dass sie das allein und ohne Hilfe schaffen würde.

»Was war denn da in Grafarvogur?«, fragte Sindri. »Passiert da tatsächlich mal etwas?«

»Selbstmord«, sagte Erlendur.

»Ist das ein Verbrechen?«

»Nein, Selbstmord ist kein Verbrechen«, entgegnete Erlendur. »Höchstens gegenüber denjenigen, die weiterleben.«

»Ich kannte einen Jungen, der sich umgebracht hat«, sagte Sindri.

»Tatsächlich?«

»Ja, der Simmi.«

»Wer war das?«

»Der war in Ordnung. Wir haben seinerzeit zusammen bei der Stadt gearbeitet. Ein ganz ruhiger Typ, der hat niemals was gesagt. Und auf einmal hat er sich erhängt, und zwar bei der Arbeit. Wir hatten da so einen Schuppen auf dem Gelände, und in dem hat er sich aufgehängt. Unser Vorarbeiter hat ihn gefunden und runtergeschnitten.«

»Habt ihr gewusst, weshalb er das getan hat?«

»Nee. Er wohnte bei seiner Mutter. Ich hab einmal zusammen mit ihm einen draufgemacht. Er hatte noch nie Alkohol getrunken und kotzte in einem fort.« Sindri schüttelte den Kopf. »Ein komischer Typ, dieser Simmi«, sagte er.

Über ihnen hämmerte es pausenlos aus den Boxen.

»Willst du nicht was dagegen unternehmen?«, fragte Sindri und sah zur Decke.

»Die lassen sich von niemandem etwas sagen«, erklärte Erlendur.

»Möchtest du, dass ich mit ihnen rede?«

»Du?«

»Ich kann sie bitten, diesen Scheiß auszumachen, wenn du willst.«

Erlendur überlegte. »Versuchen kannst du es ja mal«, sagte er. »Ich habe keine Lust, zu denen hochzugehen. Worüber haben sich deine Mutter und Eva denn gestritten?«

»Da misch ich mich nicht ein«, sagte Sindri. »Gab es bei diesem Selbstmord in Grafarvogur etwas Verdächtiges?«

»Nein, so etwas ist immer eine schreckliche Sache. Der Ehemann war in der Stadt, als seine Frau sich in ihrem Ferienhaus in Þingvellir das Leben nahm.«

»Wusste er von nichts?«

»Nein.«

Kurz nachdem Sindri gegangen war, verstummten die Bässe im Stockwerk über Erlendur. Er blickte zur Decke. Dann ging er in den Flur und öffnete die Wohnungstür. Er rief nach Sindri Snær, aber der war bereits verschwunden.

Einige Tage später erhielt Erlendur den offiziellen Obduktionsbericht der Frau, die in Þingvellir aufgefunden worden war. Aus ihm ging, abgesehen von der Todesursache durch Erhängen, nichts Auffälliges hervor, es gab weder Verletzungen noch irgendetwas Ungewöhnliches im Blut. María hatte keine Krankheiten gehabt und war in guter körperlicher Verfassung gewesen. Biologisch gesehen gab es keine Antwort auf die Frage, weshalb sie sich entschlossen hatte, sich das Leben zu nehmen.

Erlendur musste jetzt noch einmal mit dem Ehemann sprechen, um ihm das Ergebnis mitzuteilen. Er fuhr kurz nach Mittag ins Grafarvogur-Viertel und klingelte. Elínborg begleitete ihn, obwohl sie eigentlich gar keine Zeit dazu hatte. Sigurður Óli war krank und lag mit Grippe im Bett. Erlendur warf einen Blick auf die Uhr.

Baldvin führte sie ins Wohnzimmer. Er hatte sich auf unbestimmte Zeit Urlaub genommen. Seine Mutter war zwei Tage bei ihm gewesen, doch inzwischen war sie wieder weg, Arbeitskollegen und Freunde waren zu Besuch gekommen oder hatten ihm Beileidstelegramme geschickt. Er hatte die Beerdigung vorbereitet und wusste, dass einige vorhatten, Nachrufe für die Zeitung zu schreiben. Das alles erzählte er Elínborg und Erlendur, während er Kaffee machte. Er wirkte niedergeschlagen, und seine Bewegungen waren langsam, er schien aber ansonsten im Gleichgewicht zu sein. Erlendur erzählte ihm, was die Obduktion ergeben hatte. Der Tod seiner Frau wurde als Selbstmord registriert. Er sprach ihm ein weiteres Mal sein Beileid aus. Elínborg sagte kaum etwas.

»Es war bestimmt gut, unter diesen Umständen jemanden im Haus zu haben«, sagte Erlendur.

»Sie kümmern sich sehr um mich, meine Schwester und meine Mutter«, antwortete Baldvin. »Manchmal ist es jedoch auch wichtig, allein zu sein.«

»Ja, keine Frage«, sagte Erlendur. »Für manche ist das sogar das Beste.«

Elínborg blickte zu ihm hinüber. Erlendur schätzte das Alleinsein mehr als alles andere. Sie überlegte krampfhaft, weshalb er sie mitgeschleppt hatte. Erlendur hatte nur gesagt, dass er diesem Mann die Obduktionsergebnisse mitteilen wollte; es würde nicht lange dauern. Jetzt hatte er auf einmal angefangen, sich mit dem Mann zu unterhalten, als seien sie seit Langem befreundet.

»Man gibt sich immer selbst die Schuld«, sagte Baldvin. »Ich habe das Gefühl, ich hätte etwas unternehmen müssen. Dass ich irgendetwas hätte machen können.«

»Das ist eine ganz natürliche Reaktion«, sagte Erlendur. »Wir kennen das sehr gut von unserer Arbeit. In solchen Fällen haben die Angehörigen aber in der Regel fast alles, wenn nicht tatsächlich alles getan, was in ihrer Macht steht.«

»Ich habe es nicht vorausgesehen«, sagte Baldvin. »Das kann ich euch versichern. Ich habe einen Schock bekommen wie noch nie in meinem Leben, als ich erfuhr, was passiert ist. Ihr könnt euch überhaupt nicht vorstellen, wie mir zumute war. Als Arzt bin ich ja einiges gewöhnt, aber wenn … wenn so etwas passiert … Ich bezweifle, dass man jemals auf so etwas vorbereitet sein kann.«

Er schien das Bedürfnis zu haben, sich auszusprechen, und sagte ihnen, dass er und seine Frau sich an der Universität kennengelernt hatten. María studierte Geschichte und Französisch. Er hatte schon auf dem Gymnasium mit der Schauspielerei geliebäugelt und war auch eine Weile auf der Schauspielschule gewesen, bevor er sich entschloss, umzusatteln und Medizin zu studieren.

»Hat sie nach dem Studium in ihrem Bereich gearbeitet?«, fragte Elínborg, die ein Diplom in Geologie hatte, aber beruflich nie auf diesem Gebiet tätig gewesen war.

»Ja, das hat sie«, erklärte Baldvin. »Sie hat alle möglichen Aufträge übernommen und hier zu Hause gearbeitet. Unten ist ihr Arbeitszimmer. Sie hat auch etwas unterrichtet und an bestimmten Projekten für Institutionen und Firmen gearbeitet. Sie forschte und veröffentlichte Artikel.«

»Wann seid ihr hier nach Grafarvogur gezogen?«, fragte Erlendur.

»Wir haben schon immer in diesem Haus gewohnt«, sagte Baldvin und sah sich im Wohnzimmer um. »Ich bin noch während des Studiums hier eingezogen. María war Einzelkind und erbte das Haus, als ihre Mutter starb. Es wurde errichtet, bevor die ganze Siedlung geplant und hier in großem Stil gebaut wurde. Das Haus steht ein bisschen für sich, wie ihr wahrscheinlich bemerkt habt.«

»Es macht den Eindruck, als sei es älter als die anderen«, sagte Elínborg.

»Leonóras Sterbebett war in einem der Zimmer hier«, erklärte Baldvin. »Es vergingen drei Jahre von dem Zeitpunkt an, als der Krebs bei ihr festgestellt wurde, bis sie starb. Sie wollte auf keinen Fall in ein Krankenhaus. Leonóra wollte zu Hause sterben. María hat sie die ganze Zeit gepflegt.«

»Das muss sehr schwierig für deine Frau gewesen sein«, sagte Erlendur. »Du hast mir gesagt, dass sie religiös war.«

Er bemerkte, dass Elínborg heimlich auf ihre Uhr schielte.

»Ja, das war sie. Sie hatte sich ihren Kinderglauben bewahrt. Die beiden sprachen viel...