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Träume und Wirklichkeit

Muriel Spark

 

Verlag Diogenes, 2019

ISBN 9783257609936 , 176 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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13,99 EUR


 

1


Er fragte sich oft, ob wir etwa alle Figuren in einem von Gottes Träumen sind.

 

Als er das Bewußtsein wiedererlangte, war das erste, was er sah, eine Frau in Weiß. Dieser Engel sprach ihn, obwohl sie einander noch nie vorgestellt worden waren, mit Vornamen an: Tom.

»Sind Sie Nonne?« fragte er.

»Nein, ich heiße Jasmine. Ich bin Krankenschwester. Kommen Sie, Tom, ich muß Sie wecken. Ich muß Ihnen das andere Kissen unterschieben. Und das Kopfteil von Ihrem Bett hochstellen. So …« Mit dem Fuß drückte sie auf einen Hebel des Krankenhausbetts, so daß Tom leicht angehoben wurde. »Sonst fühlen Sie sich womöglich erschöpft«, sagte sie. Bevor er etwas entgegnen konnte, schob sie ihm ein Thermometer in den Mund und griff nach seinem Handgelenk. Dabei schaute sie auf ihre Uhr. Er sah, daß es zwanzig nach zwölf war. Durch die Vorhänge schien die Sonne, demnach war es Tag.

Während sie seinen Puls fühlte, nickte er ein. Als er, wie es ihm vorkam, eine halbe Stunde später wieder erwachte, war es dunkel. Wie er von der neuen Schwester erfuhr – einer Nachtschwester namens Edna, wie sie ihm verriet –, war es zwanzig vor elf – abends. So lenkt unser Gewerbe also unsere Wahrnehmungen und unsere Träume, dachte er: Tom war Filmregisseur von Beruf. Überblendete die Morgenszene mit der Abendszene. Dieselbe Schwester, aber war es wirklich dieselbe? Jedenfalls war es Edna und dieselbe Szene.

»Wo steckt der Arzt?« fragte Tom.

»Er hat heute nachmittag hereingeschaut. Waren Sie wach?«

»Vielleicht.« Tom war sich nicht sicher. Er meinte, sich undeutlich an das über ihn gebeugte Gesicht eines Arztes erinnern zu können.

Edna ließ sein Bett herab, indem sie den Hebel betätigte. Sein Fuß war an einen Tropf angeschlossen, den er im Wachzustand zwar bemerkt, aber noch nicht hatte kommentieren können. Edna hatte nahezu schwarze Hautfarbe. »Wo stammen Sie her, Edna?« – »Aus Ghana«, antwortete sie, oder verwechselte er sie mit jemand anderem? Als er aufwachte, war es frühes Morgenlicht.

Auftritt eine Dame in Weiß, diesmal mit Schleier. »Sind Sie eine von den Nonnen?« So war es. Schwester Felicitas war gekommen, ihm eine Blutprobe zu entnehmen.

»Man hat mir bereits Blut entnommen«, sagte er.

»Das war Ihr Urin.«

»Was wollen Sie mit meinem Blut anfangen?«

»Es trinken«, sagte sie.

»Wieviel Uhr ist es?«

»Sieben.«

»Wie können Sie so früh am Morgen schon so putzmunter sein?«

»Es ist spät. Wir stehen bereits um fünf Uhr auf.«

»Haben Sie da vorhin gesungen? Ich habe jemanden singen hören.«

»Das waren wir in der Kapelle.«

Im Nu war sie fortgehuscht, ein weißer Wisch. Herein kam sein Frühstückstablett, das die dunkelhäutige Edna zu stützen schien.

»Nennen Sie so etwas Frühstück?«

»Nahrung bekommen Sie zu Anfang in flüssiger Form, danach als Brei und dann erst in fester Form.«

Sie schenkte ihm milchigen Tee ein. Er schlug die Augen auf. Das Tablett war verschwunden.

Ihm fielen die Pläne wieder ein, die er vor der Operation geschmiedet, das Gelübde, das er abgelegt hatte. Er hatte vor, es zu erfüllen.

»Guten Morgen.«

Zwei Frauen mit Putzlappen und Eimer traten herein. Die eine wischte Staub, während die andere den Boden scheuerte. Danach kamen zwei Schwestern, um sein Bett zu machen. Sie halfen ihm beim Aufstehen und führten ihn zum Badezimmer. Sie rasierten ihn mit kundiger Hand. Ach, rasieren Sie doch weiter, es ist so angenehm. Aber dann zogen sie den Stecker aus der Steckdose. Jemand hatte einen riesigen Blumenstrauß auf den hinteren Tisch gestellt, Rosen, Lilien und Astern, sehr auffällig und sehr teuer.

Der Chirurg: Sie werden schon wieder auf die Beine kommen.

Was meinte er damit, ich werde schon wieder auf die Beine kommen? Und so ernst. Ich hatte nie das Gegenteil angenommen.

Neben seinem Bett ein Nachttisch auf Rädern, den er beliebig hin und her schieben konnte. Auf dem Nachttisch ein Telefon. Gut, ich warte, bis ich mich etwas kräftiger fühle, nach der Flüssignahrung und dem Brei.

»Wann bekomme ich festes Essen, Edna?«

»Ich bin nicht Edna, ich heiße Greta. Morgen erhalten Sie festes Essen.«

»Greta, wo stammen Sie her?«

»Aus Hamburg.«

Er kam sich vor wie ein Besetzungschef. Greta ist für die Rolle genau richtig gebaut. Aber für welche Rolle?

Das Telefon klingelte.

Er hatte Mühe, sich umzudrehen und den Hörer abzunehmen, aber Greta kam ihm zu Hilfe, indem sie den Tisch so hinstellte, daß sich das Telefon in greifbarer Nähe befand.

»Ja?« Seine Stimme klang krächzend.

»Tom, bist du’s? Tom, bist du’s?«

»Ich denke schon. Morgen bekomme ich festes Essen.« Eigentlich war er um einiges wacher, als er sich anmerken lassen wollte.

»Ich kann dich doch heute nachmittag besuchen kommen?«

»Nein, morgen.«

Claire, Toms Frau, fand sich am Nachmittag ein. Er hatte ihr noch nichts von den Plänen verraten, die er geschmiedet hatte. Sie würde neugierig sein, aber nicht beunruhigt. Das war ein Vorteil, wenn man eine sehr reiche Frau hatte. Man konnte Pläne schmieden, ohne daß sie sich sofort Sorgen darum machte, wie sie sich auf ihr Budget auswirkten. Früher einmal hatte Tom eine Frau gehabt, die jede seiner Handlungen, jeden seiner Gedanken immer nur auf ihr Budget bezog. Jetzt, wo sie geschieden war und eine eigene gutbezahlte Anstellung hatte, war sie um vieles glücklicher.

Er hatte Magenschmerzen. Schon kam Schwester Benedict mit ihrer Spritze.

»Tom …! Tom …!«

Claire stand lächelnd an seinem Bett und hielt seine Hand. »Du wirst schon wieder auf die Beine kommen«, sagte sie.

Niemand hatte das Gegenteil behauptet.

Er sagte: »Ich möchte Fortescue-Brown sprechen.« Das war sein Anwalt, voller Hektik und Geschäftigkeit. Nie kam man bei ihm zu Wort. Ich bleibe nur deswegen bei ihm, dachte Tom, weil ich zuviel am Hals habe, um ihn zu wechseln.

»Fortescue-Brown?« fragte Claire.

»Ja, Fortescue-Brown«, antwortete er.

»In einem solchen Augenblick willst du Fortescue-Brown sprechen?«

»So ist es«, sagte er.

Sie rückte einen Stuhl heran, setzte sich dicht an sein Bett und schob den Tisch auf Rädern zur Seite. Als er wieder aufsah, stand nur noch der Stuhl da, und eine Krankenschwester kam mit einem Tablett voll ekligen Abendessens herein.

»Wie heißen Sie?«

»Ruth.«

»Also, Ruth, diese weiße Brühe kann ich unmöglich essen.«

»Was würden Sie denn gerne essen? Ich kann Ihnen auch etwas anderes besorgen.«

»Ich strenge jeden Muskel meiner Vorstellungskraft an, um mir etwas anderes auszudenken. Lassen Sie nur.«

»Sie müssen bei Kräften bleiben«, sagte Ruth. Sie hatte eine Wespentaille und einen ausladenden Hintern. Er konnte den Blick nicht davon abwenden. Sie war um die Dreißig, hatte strohblondes, zurückgekämmtes Haar und ein blasses Gesicht. In Filmen aus längst vergangenen Zeiten hätte sie eine gute deutsche Spionin abgegeben. Sie verschwand, und zu seiner Überraschung kam sie mit einem weichgekochten Ei zurück, das er geistesabwesend verzehrte.

»Erwarten Sie heute abend Besuch?« Ruth war gekommen, um sein Tablett wieder mitzunehmen. Ihre Uhr zeigte halb sieben an.

»Meine Tochter Marigold, eine Frau, die aussieht wie ein Priester im Laienstand.«

Plötzlich war Marigold da.

»Na, Papa, ich höre, du wirst schon wieder auf die Beine kommen«, sagte sie mit ihrem nach unten gezogenen Lächeln, ließ ihren schmächtigen Körper auf einen Stuhl gleiten und schlug ihren Mantel über die flache Brust. Sie hätte nie heiraten sollen. Kein Wunder, daß James, ihr Mann, beschlossen hatte, Reisebücher zu schreiben.

»Wie geht’s James?« erkundigte sich Tom.

»Soviel ich weiß, ist er in Polynesien.«

»Ich habe nicht gefragt, wo er sich befindet, sondern wie.«

»Sprich nicht so viel, sonst überanstrengst du dich noch«, sagte sie. »Ich hab dir Trauben gekauft.« Sie sagte »gekauft«, nicht »mitgebracht«. Sie warf eine Plastiktüte auf den Nachttisch. »Das ist ja eine wunderbare Klinik«, sagte sie. »Ich schätze, der Aufenthalt kostet ein Vermögen. Natürlich sollte man in einem Fall wie dem deinen an nichts sparen.«

Man glaube nur nicht, daß Marigold sonderlich benachteiligt war.

Am Morgen rief Tom seinen Anwalt an und machte mit ihm einen Termin um drei Uhr nachmittags in der Klinik aus.

 

Liebe und Sparsamkeit, sinnierte Tom. Ich habe sie stets als Gegensätze angesehen, dachte er. Weshalb werden sie dauernd im selben Atemzug genannt, als wären es benachbarte Themen? Sollte es möglich sein, daß das, was ich Liebe nenne, gar keine Liebe ist?

Er war gerührt, weil Cora, seine bildhübsche Tochter aus erster Ehe, eigens nach London geflogen war, um ihn zu besuchen. Sie hatte sich aus diesem Anlaß Urlaub von irgendeiner Tätigkeit für Channel Four in Lyon genommen. Ihre ersten Worte waren: »Papa, du wirst schon wieder auf die Beine kommen.« Weiter sagte sie, ihr Mann Johnny habe seine Stelle als Sachbearbeiter bei Parsimmons & Gould, der Farbenfirma, verloren – sei überflüssig geworden. Sie habe sich einen billigen Flug erschwindelt, um Tom sehen zu können. Und was, dachte er, hat Johnnys Entlassung mit mir und meinen Knochenbrüchen zu tun? Und ihr billiger Flug? War sie nun aus Liebe gekommen oder was?

Und ich freue mich, fuhr er in Gedanken fort, daß Johnny seinen Arbeitsplatz verloren hat. Ich freue mich mit der Freude...