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Wintergruft - Kriminalroman

Alida Leimbach

 

Verlag Gmeiner-Verlag, 2011

ISBN 9783839237625 , 448 Seiten

4. Auflage

Format PDF, ePUB, OL

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

10,99 EUR


 

Donnerstag, 14. Oktober 2010


Wie lange er so am Küchentisch gesessen hatte, wusste er nicht mehr. Er hätte auch nicht sagen können, wie er den Tag verbracht hatte. Er war irgendwie versumpft, hatte verschiedene Dinge begonnen, aber nichts zu Ende gebracht.

Durch das gegenüberliegende Fenster konnte er die Kirche und das Gemeindehaus sehen, bis beides mit der einsetzenden Dämmerung Stück für Stück verschwand. Er schaltete jetzt die Tischlampe an und erschrak, als er mit seinem Spiegelbild im Küchenfenster konfrontiert wurde. Für einen Moment dachte er, ein Greis starre ihn an. Er musste über Nacht um Lichtjahre gealtert sein. Mann, wie lange war er schon nicht mehr beim Friseur gewesen. Die Haare, grau und wirr, standen wie elektrisiert vom Kopf ab. Der Vollbart müsste dringend mal wieder gestutzt werden. Dünn sah er aus. Noch hagerer als sonst, wie ein Schatten seiner selbst. Angewidert wandte er sich ab.

Mechanisch griff er nach der bereits zur Hälfte geleerten Rotweinflasche und füllte erneut sein Glas. Seine Hände zitterten dabei und er fluchte leise.

Vor ihm lag der Brief seiner Frau, computergeschrieben, was ihn ärgerte. War er jetzt schon nur noch eine Sache für sie, eine Geschäftsbeziehung, die man jederzeit kündigen konnte? Wieder las er ihn, und er merkte, wie sich vor lauter Müdigkeit ein Schleier über die Buchstaben zog. Wann hatte sie ihn hierhin gelegt? Sie musste noch einmal zurückgekommen sein, während er geschlafen hatte. Vor allem fragte er sich, wo sie jetzt war. Heike war noch nie vor ihm weggelaufen. Das war nicht ihre Art. Sie stellte sich den Problemen, war diskussionsfreudig, kämpferisch, voller Energie und Tatendrang. An Heike konnte man sich die Zähne ausbeißen, aber Weglaufen, nein, das passte nicht zu ihr.

Mit Heike teilte sich Udo Meierbrink in Sandfelde, unweit von Osnabrück, eine Pfarrstelle. Sie liebte es, an diesem abgenutzten Kieferntisch ihre Predigten vorzubereiten, obwohl sie ein eigenes Arbeitszimmer hatte. Aber hier, an diesem Tisch, kamen ihr die besten Gedanken, wie sie immer sagte. Kein Wunder, das Küchenfenster zeigte zum Dorfplatz. Kirche, Gemeindehaus und die umliegenden Häuser mit ihren gepflegten Vorgärten und Gehwegen waren deutlich zu erkennen. Am Morgen, wenn die Schulkinder hier vorbeiliefen und die Hausfrauen ihre Einkäufe erledigten, und am Abend, wenn die Dorfbewohner zu ihren Vereinen aufbrachen, war hier immer etwas los.

Trotz der einsetzenden Dunkelheit konnte er Aloisius Kannengießer vom Haus schräg gegenüber ausmachen, der seit dem Vormittag an seinem Auto herumwerkelte. Wie üblich trug er einen roten, verblichenen Arbeitsoverall und zog von Zeit zu Zeit genüsslich an seiner Pfeife. Nichts liebte er so sehr wie sein Auto, einen silberfarbenen Audi. Der Regen schien ihm nichts auszumachen, im Gegenteil, Herr Kannengießer wusch sein Auto immer bei diesem Wetter. Wahrscheinlich nutzte er den Regen für die Vorwäsche. Erst hatte er den Audi liebevoll eingeseift, mit viel Schaum und viel Wasser, und ihn dann so auf Hochglanz poliert, dass Udo schon fürchtete, die äußere Lackschicht könne sich auflösen. Als es am Nachmittag endlich aufhörte zu regnen, traf Herr Kannengießer seine umfangreichen Vorbereitungen für den Reifenwechsel. Erst holte er die mehrfach eingepackten Winterreifen aus der Garage und legte sich dann in aller Ruhe ein umfangreiches Werkzeugsortiment zurecht. Den Anfang machte wie immer ein riesiger Schraubenschlüssel, mit dem er kraftvoll an den Muttern zog. Die Prozedur des Reifenwechselns nahm bei ihm jedes Mal Stunden in Anspruch. Jede einzelne Schraube wurde gesäubert und vom Rost befreit. Zunächst mit einem Schraubenzieher und dann mit verschiedenen Läppchen und Tinkturen wurden die Felgen und das gesamte Werkzeug gereinigt und anschließend mit Talg oder etwas Ähnlichem eingerieben und poliert. Udo schüttelte den Kopf. Diese Liebe und Hingabe zu einem Auto – das machte ihn jedes Mal fassungslos.

Vor dem Gemeindehaus, das dem Pfarrhaus gegenüber lag, herrschte reger Betrieb. Natürlich, es war Donnerstag, da probte immer der Kirchenchor. Vor dem Eingang hatten sich einige Leute versammelt. Sie steckten die Köpfe zusammen und schienen sich über irgendetwas aufzuregen. Was war dort los?

Wenige Augenblicke später kam ein giftgrünes Motorrad angerattert. Darauf saß – in voller Ledermontur – Sebastian von Hegendorff, Kantor und Organist der Gemeinde. Ein großer Typ mit stahlblauen Augen und blondem Pferdeschwanz, Mitte 30, ledig. Könnte direkt als Double von David Garrett, dem Stargeiger, durchgehen. Vor allem was sein Faible für ausgefallenen Silberschmuck und Tattoos anging, was eher untypisch für einen Organisten war. Der Chorleiter stellte sein Motorrad ab, klemmte seinen Helm unter den Arm und steuerte geradewegs auf die Gemeindehaustür zu. Er schloss sie auf und bedeutete der Gruppe mit einem Kopfnicken, ihm zu folgen. Sofort kehrte Ruhe ein.

Binnen Sekunden war der Vorplatz wieder wie leergefegt.

»Hättest auch Sektenführer werden können, bei deinem Charisma«, brummelte Udo. »Das Zeug dazu hättest du allemal.«

Er griff nach der Rotweinflasche. Während er sich einschenkte und den Wein eine Weile im Glas rotieren ließ, wanderten seine Gedanken wieder zu Heike und seiner gescheiterten Ehe. Trübsal und Melancholie breiteten sich in ihm aus. Er hatte das alles nicht gewollt. Die erste Träne fiel ins Weinglas. Mit seinem Pulloverärmel wischte er sich über die Augen. Endlich konnte er das.

Eigentlich hätte er damit rechnen müssen, dass eines Tages alles herauskommen würde. Nadine war die zweite Kirchenmusikerin und gleichzeitig eine Freundin von Heike. Das konnte auf Dauer nicht gutgehen. Anfangs hatte er noch aufgepasst. Jede Nachricht von ihr auf dem Anrufbeantworter oder Handy hatte er sofort gelöscht, ebenso jede E-Mail auf seinem Computer. Nach jedem Zusammensein mit Nadine hatte er seine Kleidung sofort in den Wäschekorb gestopft, ganz nach unten, damit Nadines Parfüm ihn nicht verraten konnte.

Irgendwann wurde er jedoch nachlässiger. Erst kürzlich hatte Heike an ihm geschnuppert und dabei die Bemerkung fallen lassen: »Du riechst irgendwie anders.« Dabei hatte sie ihn herausfordernd angesehen. So, als wüsste sie Bescheid.

Einmal war er aus der Stadt gekommen, mit zwei Einkaufstüten in der Hand. Sie trugen den Aufdruck eines bekannten Osnabrücker Herrenausstatters. Noch bevor er die Taschen an ihr vorbeischmuggeln konnte, riss Heike ihm sie weg. Nachdem sie einen Blick hinein geworfen hatte, stellte sie fest: »Aha, schon wieder neue Klamotten. Und total modisch. Lauter Markensachen. Sonst hast du dir doch nie was draus gemacht.«

Die Verachtung in ihrer Stimme war unüberhörbar.

»Du weißt, das ist Berufskleidung«, entgegnete er. »Damit ich bei Amtsbesuchen nicht immer gleich angezogen bin.«

»So?«, sagte sie und zog dabei eine Augenbraue hoch, was ihr einen spöttischen Ausdruck verlieh. »Bei Amtsbesuchen trägt der feine Herr neuerdings Polo-Shirts von Lacoste und Calvin-Klein-Unterhosen, die beim Bücken dezent aus der Boss-Jeans herauslugen. Interessant. Da haben die Weiber ja was zu gucken.«

Sie ahnte etwas, das spürte er. Schon lange hatte er das gespürt, wenn er jetzt so darüber nachdachte. Doch sie hatte ihn nie direkt gefragt. Er wollte sie nicht anlügen, aber er hatte darauf gewartet, dass sie ihn fragen würde.

Und plötzlich wurde alles anders. Gestern Abend um 19 Uhr hatte er ein Trauergespräch. Bereits auf der Fahrt zur Familie des Verstorbenen fühlte er sich seltsam fahrig und zerstreut. Im Autoradio brachten sie gerade die Meldung, dass der 15. Bergarbeiter aus Chile gerettet werden konnte, aber diese Nachricht konnte kaum zu Udo durchdringen.

Während des Gesprächs fiel ihm ein, dass er sein Handy nicht ausgeschaltet hatte. Unmöglich, wenn es plötzlich klingeln würde. Er griff in die Innentasche seines Jacketts und stellte fest, dass er es gar nicht dabeihatte. Die Unruhe, die ihn die ganze Zeit über schon befallen hatte, wurde auf einmal so beklemmend, dass er sich nicht mehr auf das Gespräch konzentrieren konnte. Er notierte sich kurz die Wünsche der Hinterbliebenen und verabschiedete sich rasch. Während der Rückfahrt verkündete ein Sprecher, dass der 16. Bergarbeiter gerade in der Rettungskapsel nach oben befördert wurde, aber Udo war zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um sich davon beeindrucken zu lassen.

Wieder und wieder ließ Udo den gestrigen Abend Revue passieren.

Er sah Heike in der Tür stehen, wutentbrannt, mit seinem Handy in der Hand. Er ging in Gedanken den Streit mit ihr durch, versuchte sich jedes einzelne Wort ins Gedächtnis zu rufen. Er erinnerte sich daran, wie Heike weggerannt war, wie der Motor ihres Polos aufheulte. Offensichtlich war sie noch einmal zurückgekommen. Er fragte sich, wann sie den Brief auf den Tisch gelegt hatte, wann sie beschlossen hatte, ihn zu verlassen. In der Nacht, als sie zurückgekommen war, oder heute früh?

Während er wie ein Stein schlief, musste sie einige ihrer persönlichen Sachen mitgenommen haben, das ging aus dem Brief hervor. Udo schluckte. Er verfluchte sich selbst, dass er so tatenlos herumsaß. Aber er wusste nicht, was er tun sollte oder wo er nach ihr suchen könnte. Am ehesten vielleicht bei ihrer Freundin Sybille, aber Udo traute ihr nicht. Die würde sofort losrennen und in der ganzen Gemeinde herumerzählen, dass Udo seine Frau betrogen hatte.

Das wäre das Letzte, was er im Moment gebrauchen könnte. Er hasste jeden Wirbel um seine Person.

Natürlich war nicht auszuschließen, dass seine...