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Graue Bienen

Andrej Kurkow

 

Verlag Diogenes, 2019

ISBN 9783257609813 , 448 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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11,99 EUR


 

6


Nach ein paar ruhigen, windstillen Tagen kam ein Abend, der dunkler war als gewöhnlich. In einem Aufruhr am Himmel, der in der winterlichen Dunkelheit von unten nicht zu sehen war, hatten schwere Wolken die leichten fortgeschoben, und plötzlich fielen aus ihnen weiche Flocken auf den alten, im trockenen Wind hart gewordenen Schnee.

Gähnend warf Sergejitsch eine neue Ladung lang brennender Kohle in den Ofen und löschte mit zwei Fingern die gelbe Kirchenkerze. Damit hatte er schon alles, was vor dem Schlaf zu tun war, vollbracht. Blieb nur noch, sich die Decke über die Ohren zu ziehen und zu schlafen, bis der Morgen oder die Kälte kam. Aber wegen des Schneefalls schien die Stille nicht vollkommen zu sein. An das ferne Geschützfeuer hatte Sergejitsch sich längst gewöhnt, daher war es Bestandteil seiner Stille geworden. Doch der Schneefall, ein viel seltenerer Gast, überdeckte es mit seinem Rascheln vor dem Fenster.

Stille ist natürlich etwas Relatives, und als persönliche Klangerscheinung stimmt jeder Mensch sie nach sich selbst. Früher war Sergejitschs Stille genau wie die aller anderen gewesen. Das ferne Brummen eines Flugzeugs am Himmel oder das Zirpen der Grillen, das nachts durchs offene Fenster hereinflog, wurde mühelos Teil von ihr. Jedes leise Geräusch, das einen nicht ärgert oder zwingt, sich nach ihm umzudrehen, wird letztlich Teil der Stille. So war es früher mit der Stille in Friedenszeiten. So wurde es dann auch mit der Stille in Kriegszeiten, in der die Geräusche des Krieges die friedlichen unterdrückten, die Geräusche der Natur verdrängten, mit der Zeit aber selbst uninteressant und alltäglich wurden, sich dann gleichsam ebenfalls unter die Flügel der Stille legten und keine Aufmerksamkeit mehr erregten.

Jetzt lag Sergejitsch da, durch den Schneefall, der ihm zu laut schien, von einer seltsamen Unruhe gepackt. Und statt einzuschlafen, dachte er nach.

Wieder fiel ihm der auf dem Feld liegende Tote ein. Aber diesmal kam ihm schnell der erfreuliche Gedanke, dass er jetzt schon sicher nicht mehr zu sehen war! Denn ein solcher Schnee deckte alles zu, bis zum Frühling, bis zum Tauwetter! Im Frühling würde alles anders, die Natur würde erwachen, und die Vögel würden lauter singen, als die Geschütze feuerten, weil die Vögel in der Nähe sangen, die Geschütze aber dort in der Ferne blieben. Nur manchmal würden die Artilleristen aus unbegreiflichem Grund, vielleicht weil sie betrunken oder müde waren, ein, zwei Geschosse zufällig auf ihr Dorf, auf Malaja Starogradowka, abfeuern. Einmal im Monat, nicht öfter. Die Geschosse würden dort hinfallen, wo es schon kein Leben mehr gab: auf den Friedhof oder den Kirchenvorhof oder das seit langem leer und ohne Fenster dastehende Gebäude des alten Kolchosebüros.

Er aber würde, wenn der Krieg weiterging, das Dorf Paschka überlassen und seine Bienen, alle sechs Stöcke, dorthin bringen, wo kein Krieg war. Wo es auf den Feldern keine Explosionskrater, sondern Blumen oder Buchweizen gab, wo man unbeschwert und furchtlos durch den Wald, das Feld, die Dorfstraße gehen konnte. Wo viele Menschen waren und einem das Leben allein wegen ihrer Menge und ihrer Sorglosigkeit wärmer vorkam, auch wenn sie einen im Vorübergehen nicht anlächelten.

Die Gedanken an seine Bienen versetzten Sergejitsch in friedliche Stimmung und brachten den Schlaf schon näher. Er dachte an jenen Tag, der in seinem Herzen und seiner Erinnerung einen besonderen Platz einnahm: als ihn zum ersten Mal der Herr des Donbass und beinahe des ganzen Landes, sein ehemaliger Gouverneur, besucht hatte, ein Mensch, der in jeder Hinsicht verständlich und vertrauenerweckend gewesen war wie ein alter Abakus. Er kam in einem Jeep mit zwei Leibwächtern. Das Leben war damals ganz anders, ruhig. Bis zur Stille des Krieges waren es noch zehn Jahre oder mehr! Die Nachbarn kamen herausgelaufen und sahen neidisch und neugierig zu, wie der Hüne von einem Mann durch Sergejitschs Tor trat und ihm mit seiner Riesenpranke die Hand schüttelte. Vielleicht hörten auch manche, wie er damals fragte: »Du bist also Sergej Sergejitsch? Bei dir kann man ein Nickerchen auf Bienen machen? Hast du dir das selbst ausgedacht?« – »Nein, die Idee ist von einem anderen, ich habe es in der Imkerzeitung gesehen. Aber den Liegeplatz habe ich selbst gemacht!«, hatte Sergejitsch ihm damals geantwortet. »Na dann zeig mal!«, hatte der Gast mit seiner tiefen Stimme und ernstem, aber freundlichem Lächeln gesagt. Sergejitsch führte ihn in den Garten, wo sechs Bienenstöcke paarweise mit den Rücken aneinanderstanden. Darauf lagen ein Holzbrett und eine dünne, mit Stroh gefüllte Matratze.

»Soll ich die Schuhe ausziehen?«, fragte sein Gast.

Sergejitsch sah auf die Schuhe und erstarrte ungläubig: Sie liefen spitz zu, waren äußerst präzise geformt und schillerten perlmuttfarben wie in einer Pfütze schwimmendes Benzin im hellen Sonnenlicht, nur war das Perlmutt edler als die Benzinmuster. Das Perlmutt der Schuhe leuchtete so, als würde die Luft über ihnen schmelzen, wie es bei großer Hitze vorkam, und ließ Farbe und Form der Schuhe noch plastischer und flirrender aussehen.

»Nein, wozu ausziehen?!«, sagte Sergejitsch kopfschüttelnd.

»Gefallen sie dir?«, fragte sein Gast lächelnd und brachte den Hausherrn mit seinen Worten dazu, den Blick von den Schuhen loszureißen.

»Ja, natürlich! So etwas Schönes habe ich noch nie gesehen«, gestand Sergejitsch.

»Was für eine Schuhgröße hast du?«, erkundigte sich unerwartet der Gouverneur. –

»Zweiundvierzig!«

Der Gast nickte und trat zu der mittleren Kiste, unter der ein hölzerner Hocker als Stufe stand. Er stieg hinauf und setzte sich behutsam auf die dünne Matratze. Er legte sich auf die rechte Seite, streckte vorsichtig die Beine aus und sah Sergejitsch kindlich wie ein Schüler den strengen Lehrer an. »Besser auf den Rücken oder auf den Bauch?«, fragte er. »Auf dem Rücken ist es besser«, riet Sergejitsch ihm. »Mehr Berührungsfläche zwischen Körper und Bienenstöcken.« – »Du kannst gehen, ich schlafe ein Weilchen. Man wird dich rufen!«, sagte der Gast und warf einen Blick zu den Bodyguards hinüber, die ein wenig abseits von der Bienenliegebank standen. Einer von ihnen nickte zum Zeichen, dass er verstanden hatte.

Sergejitsch kehrte ins Haus zurück und schaltete den Fernseher ein – damals gab es Strom. Er versuchte, sich abzulenken, aber konnte sich in Gedanken von dem hohen Gast und seinen Schuhen nicht losreißen. Etwas ließ ihm keine Ruhe: Wenn nur die Füße der Bienenstöcke unter dem Gewicht des auf ihnen liegenden Riesen nicht einknickten! Sergejitsch kochte sich einen Tee und trank, aber die Besorgnis über die möglicherweise fehlende Stabilität seiner selbstgebauten Bienenstöcke verschwand nicht. Denn beim Bauen hatte er nur auf den Komfort der Bienen geachtet; dass der Schlaf auf den Bienen nützlich und heilsam war, hatte er noch nicht gewusst.

Damals ließ der hohe Gast aus Dankbarkeit dreihundert Dollar und eine Literflasche Wodka zurück. Von dem Tag an hatten alle, die ihn, Sergejitsch, nicht mochten oder nicht beachteten, zu grüßen begonnen, als hätte ihn ein Erzengel mit dem Flügel gestreift!

Ein Jahr später, wieder im frühen Herbst, war der Gouverneur erneut zu ihm gekommen. Zu der Zeit hatte Sergejitsch auch schon die Laube um die Liegebank gebaut. Sie war leicht und zerlegbar, so dass man sie in einer Stunde auf- und in einer Stunde wieder abbauen konnte. Die Matratze hatte er noch dünner gemacht, damit das Stroh nicht die leiseste Vibration der hunderttausend Bienen dämpfte.

Sein Gast sah müde aus. Er hatte etwa zehn Männer als Wachen dabei, und wohl genauso viele Autos standen in der Leninstraße an seinem Zaun aufgereiht. Wer darin saß und warum sie nicht ausstiegen, begriff Sergejitsch nicht. Dieses zweite Mal lag oder schlief der Herr des Donbass fünf oder sechs Stunden auf den Bienenstöcken. Zum Abschied schenkte er Sergejitsch nicht nur tausend Dollar im Umschlag, sondern umarmte ihn auch kräftig wie ein Bär. Als würde er sich von einem ihm lieben Menschen verabschieden.

›Das war’s‹, hatte Sergejitsch gedacht. ›So ein Glück wiederholt sich nicht!‹ Gründe, so zu denken, gab es mehrere. Einer davon war vollkommen banal: Für das Schlafen auf Bienen wurde jetzt in jeder größeren Stadt geworben. Die Konkurrenz war sehr groß. Und er, Sergejitsch, machte für sich überhaupt keine Werbung. Im Dorf wussten sie, dass der Exgouverneur eigens aus Kiew hergefahren war, um auf seinen Bienen zu schlafen. Und sie erzählten es ihren Freunden, Verwandten und Bekannten aus anderen Dörfern und Städtchen. So, dass mit einer für die anderen Imker beneidenswerten Regelmäßigkeit Menschen an Sergejitschs Gartentor auftauchten, die auf den »Gouverneursbienen« schlafen wollten. Den Preis erhöhte Sergejitsch nicht, für besonders nette Kunden brachte er Tee mit Honig und redete mit ihnen bereitwillig über das Leben. Im Haus gab es ja niemanden mehr, mit dem er über das Leben reden konnte: Seine Frau hatte ihn mit der Tochter verlassen, sie waren davongelaufen, als er in Horliwka auf dem Großmarkt gewesen war. Sie hatten ihn mit verwundetem Herzen zurückgelassen. Aber er hatte standgehalten. Hatte sich zusammengerissen und die Tränen, die ihm in die Augen stiegen, nicht übers Gesicht laufen lassen. Und das Leben war weitergegangen. Er freute sich im Sommer am Summen der Bienen und im Winter an der Stille und Sorgenfreiheit, den schneeweißen Feldern und dem grauen, reglosen Himmel. So hätte er das ganze Leben verbringen können, aber daraus war nichts geworden. Etwas im Land ging zu Bruch, dort in Kiew, wo...