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Drei

Dror Mishani

 

Verlag Diogenes, 2019

ISBN 9783257609868 , 336 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

10,99 EUR


 

Eins


1


Sie hatten sich über ein Dating-Portal für Geschiedene kennengelernt. Sein Profil war einigermaßen nichtssagend, und gerade deshalb hatte sie ihn angeschrieben. Zweiundvierzig, einmal geschieden, wohnhaft in Givatayim. Ohne ein »Voller-Heißhunger-auf-das-Leben« oder »Noch-auf-der-Suche-will-mich-mit-dir-entdecken«. Zwei Kinder, ein Meter siebenundsiebzig, Akademiker, selbstständig, wirtschaft‌lich gut gestellt, aschkenasischer Herkunft. Politische Einstel‌lung fehlte. Auch ein Teil der anderen Rubriken war leer geblieben. Drei Bilder, eines davon älter, zwei neueren Datums, und auf allen hatte sein Gesicht etwas Beruhigendes, nicht allzu Besonderes. Und er war nicht dick.

Eran hatte nun eine Gesprächstherapie angefangen, und sein Psychologe meinte, es wäre für ihn gut zu sehen, dass auch sie nicht nur trauerte, sondern ihr Leben weiterlebte. Sie versuchte, sie beide wieder auf Alltagsroutine zu eichen: Abendessen um sieben, Duschen und eine Fernsehsendung aus der Online-Mediathek, und dann packten beide ihre Taschen für den nächsten Tag. Um halb neun oder Viertel vor neun war er im Bett, und sie las ihm, obwohl er schon alleine lesen konnte, eine Geschichte vor, weil das jetzt nicht der Zeitpunkt war, damit aufzuhören. Danach saß sie vor dem Computer in ihrer Arbeitsecke im Wohnzimmer, ging Profile und Mittei‌lungen durch, auch wenn sie keinem Mann antworten würde, der von sich aus Kontakt zu ihr aufnahm. Sie ergriff lieber selbst die Initiative. Es war schon Ende März, aber abends trug sie noch immer einen Pullover und manchmal, wenn sie allein ins Bett ging, regnete es leicht.

Sie hatte ihm eine Nachricht geschickt: »Würde mich freuen, dich kennenzulernen.« Und er hatte nach zwei Tagen geantwortet: »Dann los. Wie?«

Erst hatten sie gechattet.

»In was für einer Schule unterrichtest du? Grundschule? Gymnasium?«

»Gymnasium.«

»Hat das auch einen Namen?«

»Im Moment wär’s mir noch lieber ohne Details. In Cholon.«

Sie war vorsichtig, er mitteilsam. Die Angaben, die im Profil ausgespart waren, vervollständigten sich von Chat zu Chat. Er fuhr viel Fahrrad. »Nach Jahren, in denen ich meinen Körper vernachlässigt habe, habe ich angefangen, ins Fitnessstudio zu gehen. Eine Wohltat.« Sie dachte bei sich, dass man das auf den Bildern nicht sah. Er war Anwalt, »keiner der großen Haie, mit eigener, kleiner Kanzlei«, und begleitete hauptsäch‌lich Israelis, die in osteuropäischen Ländern familiäre Wurzeln hatten, bei dem ganzen Prozedere von der Klärung eines Anspruchs bis zum Erhalt eines polnischen, rumänischen oder bulgarischen Passes. In diesem Feld war er gelandet, nachdem er einige Jahre lang für die Rechtsabtei‌lung einer Zeitarbeitsfirma, die Arbeitskräfte aus Osteuropa nach Israel holte, gearbeitet und dabei Kontakte zu den jeweiligen Behörden geknüpft hatte. »Brauchst du vielleicht einen polnischen Pass?«, fragte er, und sie schrieb zurück: »Keine Verwendung, bei mir sind die Eltern aus Libyen. Hast du auch Kontakte zu Gaddaf‌i?«

Freundinnen aus der Schule warnten sie vor Dating-Portalen. Meinten, man dürfe nicht alles glauben, was Leute dort von sich erzählten. Aber er erzählte ja gar nichts Spektakuläres über sich, im Gegenteil, es war, als bemühte er sich, unspektakulär zu klingen. Nach ein paar Tagen fragte er: »Treffen wir uns irgendwann?« Und sie schrieb zurück: »Irgendwann.«

 

Ein Donnerstagabend um halb zehn. Anfang April.

Er hatte ihr die Wahl des Treffpunkts überlassen, und sie entschied sich fürs Café Landwer am Platz vor dem Habima-Nationaltheater in Tel Aviv. Drei Tage vorher hatte sie einen Termin mit Erans Psychologen und sprach dabei hauptsäch‌lich von sich selbst. Der Psychologe deutete an, sie solle vielleicht auch mal zu einem Gespräch kommen, und sie lachte. Entschuldigte sich, dass sie ihm zu viel erzählt hatte, und erklärte, dafür fehle ihr das Geld. Auch Erans Therapie könne sie nur dank ihrer Mutter finanzieren.

Der Psychologe riet ihr, das erste Date nicht zu verheim‌lichen, aber auch keine große Sache daraus zu machen. Sie solle lieber nicht ihre Mutter bitten, auf Eran aufzupassen, ihn auch nicht bei ihr übernachten lassen, weil sie sich dann von beiden unter Druck gesetzt fühlen und Eran mehr erzählen würde, als er wissen musste. Am besten, sie fragte die Oberstufenschülerin, die auch schon früher bei ihnen gebabysittet hatte, wenn sie zu zweit ins Kino gegangen waren. Sollte Eran fragen, mit wem sie ausging, könne sie sagen, »mit einem Freund«. Und wenn er frage, wer dieser Freund sei, könne sie sagen, es sei ein neuer Freund, den er noch nicht kenne. Und dass er Gil heiße.

In Tel Aviv war die Hölle los. Der Stau begann schon bei der Abfahrt von der Ayalon-Autobahn zum Derech HaSchalom und setzte sich auf der Ibn-Gvirol-Straße fort, und die neu erbaute Tiefgarage unter dem Kulturpalast war bis auf den letzten Platz besetzt. Am Morgen hatte er ihr im Chat seine Telefonnummer geschickt, und jetzt simste sie ihm, sie würde sich verspäten. Sie fuhr zurück zum Parkhaus in der Kaplan und ging von dort zu Fuß, im dichten Ausgehgetümmel, zwischen jungen tätowierten Männern mit Bart, schönen jungen Frauen, jungen Paaren mit Baby. Vielleicht hätte sie besser einen anderen Ort vorschlagen sollen. In dem Outf‌it, das sie trug – weiße, knöchellange Leinenhose, dazu passende weiße Bluse und dünnes, ebenfalls weißes Jackett – fühlte sie sich alt, schlimmer noch, wie eine alte Frau, die versucht, jugend‌lich auszusehen, aber schon mit dem ersten Satz, den er sagte, kam sie sich weniger fehl am Platz vor.

»Was machen wir hier überhaupt? Ich fühle mich steinalt.«

Es war weitaus befremd‌licher, als sie gedacht hatte, auf einmal wieder mit dem Daten anzufangen, sich mit einem wildfremden Mann zu treffen.

Als sie im Café ankam, erhob er sich und gab ihr die Hand, wie bei einem Geschäftstermin. Bestellte sich einen Cappuccino, also trank auch sie keinen Wein, sondern einen warmen Apple Cider mit Zimtstange. Er war nicht gertenschlank, aber man konnte sehen, dass er im Fitnessstudio ‌trainierte. Und er war legerer gekleidet als sie: Jeans und blaues Poloshirt zu weißen Joggingschuhen. Auch übernahm er gleich die Rolle des Erfahreneren, denn er hatte nicht eben wenige solche Begegnungen schon erlebt.

»In der Regel spricht man erst mal über die Scheidung«, sagte er. »Tauscht Berichte vom Schlachtfeld aus. Ein bisschen wie beim Reservedienst. Ziem‌lich deprimierend, aber ich bin bereit, den Anfang zu machen.«

Sie sagte: »Nein, bloß das nicht«, war aber neugierig. Selbst darüber sprechen konnte sie noch nicht, alles war noch ganz frisch und blutig, ja zuweilen geradezu unwirk‌lich. Auch während des Dates mit ihm hatte sie momentweise das Gefühl, all das passiere in Wirk‌lichkeit gar nicht und eigent‌lich säße Ronen vor ihr. Er sagte, er habe zwei Töchter, beide auf dem Gymnasium, Noa und Hadas. Die Scheidung sei nicht von ihm ausgegangen, sondern von seiner Exfrau, und anfangs habe er sich dagegen gesträubt, offenbar weniger aus Liebe, denn aus Angst.

Im Gegensatz zu dem, was sich zwischen ihr und Ronen abgespielt hatte, war Gils Trennungsprozess einigermaßen lang gewesen. Seine Frau hatte die Idee einer Scheidung aufgebracht, doch er hatte sie zunächst überzeugen können, noch einen Versuch zu unternehmen, die Beziehung zu kitten. Darauf folgte die kurze Phase einer Paartherapie, und am Ende hatte er die Waffen gestreckt. Soweit er wisse, hatte sie ihn nicht betrogen und habe auch heute noch keinen Freund. Sie habe einfach aufgehört, ihn zu lieben, habe das Interesse an ihm verloren, wollte etwas anderes ausprobieren, das Leben nicht an sich vorbeiziehen lassen, solche Dinge, die er damals nicht verstanden habe, oder doch verstanden, aber nicht habe verstehen wollen, und die er heute sehr viel besser verstehe. Unter dem Strich sei es für ihrer aller Leben gut gewesen. Auch für die Mädchen. Die Scheidung selbst war dann unkompliziert, vielleicht weil sie beide Anwälte waren und keine Geldsorgen hatten. Seine Exfrau sei in der Wohnung in Givatayim geblieben, und die Wohnung in Haifa, die als Anlageobjekt gedacht war, habe er verkauft und mit dem Geld eine Vierzimmerwohnung ganz in der Nähe gekauft. All dies erzählte er nicht zum ersten Mal, das war klar, und sein versöhn‌licher Tonfall ließ sie spüren, wie verletzt sie selbst noch war. Zumal sie dachte, ihre Geschichte mit Ronen sei eine vollkommen andere, aber vielleicht stimmte das gar nicht? Die Motive, die er so lakonisch wiedergab, »etwas anderes ausprobieren«, »das Leben nicht an sich vorbeiziehen lassen«, explodierten wie Granaten in ihr.

Gil bekam nichts davon mit, oder zumindest hoff‌te sie das. Als er fragte, »Und wie war es bei dir?«, sagte sie: »Anders. Ich habe … wir haben einen neunjährigen Sohn, und er hat sich schwer damit getan. Aber ich würde jetzt lieber nicht darüber reden.«

Danach war sie nicht mehr ganz bei der Sache. Gil sprach über die Arbeit, erzählte von kurzen Reisen nach Warschau und Bukarest, versuchte, sich für ihr Leben zu interessieren, hakte aber nicht nach, wenn sie abblockte. Die Zeit verging langsam. Um Viertel nach zehn, als die Vorstel‌lungen endeten, füllte sich der Platz vor dem Habima-Theater erst und leerte sich dann wieder. Um zwanzig vor elf bestellte er sich eine Cola Zero und fragte, ob sie etwas essen wolle, aber sie bestellte auch keinen weiteren Apple Cider,...