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Dead Lions - Ein Fall für Jackson Lamb

Mick Herron

 

Verlag Diogenes, 2019

ISBN 9783257609790 , 480 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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10,99 EUR


 

TEIL EINS

Schwarze Schwäne


2


Nachdem die Straßenarbeiten endlich abgeschlossen sind, ist es ruhiger auf der Aldersgate Street im Londoner Stadtteil Finsbury. Man würde dort nicht gerade ein Picknick veranstalten wollen, aber die Straße gleicht auch nicht mehr einem Schlachtfeld mit Fahrzeugen. Der Pulsschlag der Gegend hat sich wieder normalisiert, und obwohl der Lärmpegel noch immer hoch ist, ist er doch weniger von Presslufthämmern geprägt und enthält Fetzen von Straßenmusik: Autos singen, Taxis pfeifen, und Anwohner starren erstaunt den fließenden Verkehr an. Früher war es klug, sich ein Sandwich einzupacken, wenn man mit dem Bus durch die Straße fuhr. Jetzt konnte es eine halbe Stunde dauern, bis man sie überquert hatte.

Vielleicht erobert sich mal wieder der Stadturwald sein Terrain zurück, und wie jeder Urwald beherbergt er bei näherem Hinsehen wilde Tiere. Eines Vormittags wurde ein Fuchs gesichtet, der vom White Lion Court ins Barbican Centre trabte, und oben zwischen den Blumenbeeten und Wasserspielen des Komplexes kann man sowohl Vögel als auch Ratten beobachten. Wo Pflanzen über die Wasseroberfläche hängen, verbergen sich Frösche. Nach Einbruch der Dunkelheit huschen Fledermäuse umher. Daher wäre es keine Überraschung, wenn vor unseren Augen eine Katze von einem der Barbican-Türme fiele und erstarrte, sobald sie auf dem Backsteinboden landete und sich in alle Richtungen gleichzeitig umblickte, ohne den Kopf zu bewegen, wie es Katzen eigen ist. Es ist eine Siamkatze. Hellbraun, kurzhaarig, schlitzäugig, schmal und leise; fähig, wie alle ihre Artgenossen durch kaum geöffnete Türen und vermeintlich geschlossene Fenster zu schlüpfen. Sie verweilt nur einen kurzen Augenblick – dann ist sie weg.

Sie schleicht unmerklich wie ein Gerücht, diese Katze; über die Fußgängerbrücke, dann die Treppe hinunter zum Bahnhof und hinaus auf die Straße. Eine nicht ganz so edle Katze wäre vielleicht stehen geblieben, bevor sie die Nebenstraße überquerte, aber nicht unsere; im Vertrauen auf ihre Instinkte, ihr Gehör und ihre Flinkheit, ist sie auf dem Bürgersteig gegenüber, bevor ein LKW-Fahrer fertig gebremst hat. Und dann verschwindet sie, so scheint es zumindest. Der Fahrer blickt sich verärgert um, aber er sieht nichts außer einer schwarzen Tür in einem schmutzigen Eingang zwischen einem Zeitungskiosk und einem chinesischen Restaurant. Die uralte schwarze Farbe ist mit Straßendreck bespritzt, und eine einsame, gelblich gewordene Milchflasche steht auf der Eingangsstufe. Und keine Spur von unserer Katze.

Die natürlich hintenrum geschlichen ist. Keiner betritt Slough House durch die Vordertür; seine Insassen gehen durch einen schmuddeligen Hof mit schimmeligen Mauern und durch eine Tür, die morgens zumeist einen energischen Tritt erfordert, wenn Feuchtigkeit, Kälte oder Hitze sie verzogen haben. Doch die Pfoten unserer Katze sind zu geschickt, um Gewalt zu benötigen, und wie der Blitz ist sie schon durch diese Tür und eine ausgetretene Treppe hinauf zu zwei Büros geschlüpft.

Hier im ersten Stock – denn das Erdgeschoss gehört zu anderen Häusern; zum Chinarestaurant New Empire und zum Kiosk, der periodisch den Namen wechselt – schuftet Roderick Ho in einem durch elektronisches Zubehör urwaldartig chaotischen Büro: Ausrangierte Tastaturen nisten in Ecken, und neonfarbene Kabel winden sich wie Darmschlingen aus Monitoren ohne hintere Abdeckung. Metallgraue Bücherregale enthalten Software-Handbücher, Kabel und Schuhkartons mit höchstwahrscheinlich seltsam geformten Metallteilen, während neben dem Schreibtisch ein Pappkartonturm aus den Legosteinen des Computernerds aufragt: leeren Pizzaschachteln. Ziemlich viel Krempel.

Doch wenn unsere Katze den Kopf zur Tür hineinsteckt, wird sie nur Ho finden. Das Büro gehört ihm allein, und Ho ist es lieber so, da er andere Leute in der Regel nicht mag; umgekehrt wäre ihm nie in den Sinn gekommen, dass andere Leute vielleicht auch ihn nicht mögen. Und während Louisa Guy bekanntlich spekuliert, dass Hos Persönlichkeit irgendwo ziemlich weit oben auf der Autismus-Skala rangiert, erwidert Min Harper üblicherweise, dass er auch den Schwachkopf-Index anführt. Daher wäre es nicht überraschend gewesen, dass Ho, wenn er die Anwesenheit unserer Katze bemerkt hätte, eine Coladose nach ihr geworfen hätte und enttäuscht gewesen wäre, wenn er sie verfehlt hätte. Denn das ist noch etwas, was Roderick Ho sich niemals eingestehen würde, nämlich, dass er besser darin ist, unbewegliche Ziele zu treffen. Er wirft selten daneben, wenn er eine Dose in den Mülleimer auf der anderen Seite des Büros schmeißt, trifft jedoch oft den springenden Punkt nicht, selbst wenn der sehr viel nahe liegender ist.

Unverletzt zieht sich unsere Katze zurück, um das angrenzende Büro zu inspizieren. Hier entdeckt sie zwei bis dato unbekannte Gesichter, die erst kürzlich nach Slough House versetzt wurden: eines weiß, das andere schwarz, eines weiblich, eines männlich, so neu, dass sie bisher noch keinen Namen haben, und beide sind über ihren Besuch erstaunt. Ist die Katze Stammgast – eine Slough-House-Kollegin? Oder ist sie auch ein lahmer Gaul? Oder ist das ein Test? Sie wechseln beunruhigte Blicke, und während sie sich in ihrer vorübergehenden Verwirrung näherkommen, schlüpft unsere Katze hinaus und huscht die Treppe hinauf ins nächste Stockwerk und zu zwei weiteren Büros. Das erste ist das von Min Harper und Louisa Guy, und falls sie aufmerksam gewesen wären und die Katze entdeckt hätten, hätte es zu einer höchst peinlichen Situation für sie geführt. Louisa wäre in die Knie gegangen, hätte die Katze in die Arme genommen und sie an ihren beachtlichen Busen gedrückt – wobei Min findet, dass dieser Busen weder zu klein noch zu üppig, sondern genau richtig ist. Falls Min sich lange genug vom Anblick von Louisas Busen hätte losreißen können, hätte er die Katze mit festem männlichen Griff im Nackenfell gepackt und ihren Kopf so weit zurückgezogen, dass sie einen Blick hätten tauschen und sich von den Katzenqualitäten des anderen überzeugen können – nicht den pelzigen, weichen, sondern der nächtlichen Eleganz und dem Schleichen durch die Dunkelheit, der raubtierhaften Unterströmung, die unter den Tagesaktivitäten einer Katze schlummert.

Sowohl Min als auch Louisa hätten überlegt, ob sie Milch holen sollten, doch keiner von ihnen hätte es tatsächlich getan, da sie damit zugegeben hätten, dass Freundlichkeit und Milch besorgen zu ihren Fähigkeiten gehörte. Unsere Katze hätte ihnen verständlicherweise auf den Teppich gepinkelt, bevor sie ihr Büro verlassen hätte.

Und dann wäre sie in River Cartwrights Zimmer geschlüpft, und während unsere Katze die Schwelle so unauffällig überquert hätte wie all die anderen auch, wäre es nicht unauffällig genug gewesen. River Cartwright, ein hellhaariger, blasshäutiger junger Mann mit einem kleinen Muttermal auf der Oberlippe, hätte sofort seine momentane Tätigkeit unterbrochen – Papierkram oder Computerarbeit, irgendwas, was eher Nachdenken als Handeln erfordert und vielleicht für den Geruch von Frustration in der Luft verantwortlich ist – und dem Blick unserer Katze standgehalten, bis sie weggeschaut hätte, nervös geworden von derart ungenierter Musterung. Cartwright wäre es nicht eingefallen, ihr Milch zu geben; er wäre zu sehr darauf konzentriert gewesen, das Tun und Lassen der Katze auszuforschen und zu berechnen, durch wie viele Türen sie schlüpfen musste, um bis hierher zu gelangen. Er hätte sich gefragt, was sie nach Slough House gezogen hatte und welche Motive sich hinter ihren Augen verbargen. Noch während er darüber nachdachte, hätte sich unsere Katze zurückgezogen und die letzte Treppe erklommen, auf der Suche nach einer weniger strengen Taxierung.

Mit diesem Hintergedanken hätte sie das erste der letzten beiden Büros erreicht: ein gastfreundlicheres Refugium, denn hier arbeitet Catherine Standish, und Catherine Standish weiß, wie man mit einer Katze umzugehen hat. Catherine Standish ignoriert Katzen. Katzen sind entweder Anhängsel oder ein Ersatz, und Catherine Standish braucht weder das eine noch das andere. Vom Besitz einer Katze ist es nur ein kleiner Schritt zu dem zweier Katzen, und als alleinstehende, knapp fünfzigjährige Frau mit zwei Katzen neigt man dazu, das Leben als beendet zu erklären. Catherine Standish hat ihr Quantum gefährlicher Momente gehabt und bisher alle überlebt, da wird sie doch jetzt nicht klein beigeben. Daher kann es sich unsere Katze hier drin so gemütlich machen, wie sie will, doch egal, wie viel Zuneigung sie heuchelt, wie anschmiegsam sie ihren schlanken Körper um Catherines Waden schlängelt, es wird keine Leckerli für sie geben, keine mit Küchenpapier abgetupfte Sardine wird ihr zu Füßen gelegt, kein Becher Sahne für sie in eine Untertasse gegossen werden. Und da keine Katze, die etwas auf sich hält, einen Mangel an Verehrung tolerieren kann, verabschiedet sich unsere und schlendert nach nebenan …

… wo sie schließlich in Jackson Lambs Höhle gerät, wo die Decken schräg geneigt sind, zugezogene Jalousien die Fenster verdunkeln und das einzige Licht von einer Lampe stammt, die auf einem Stapel Telefonbücher steht. Der Mief wäre ein olfaktorischer Leckerbissen für jeden Hund: Fast Food, unerlaubte Zigaretten, tagealte Fürze und schales Bier, doch die Katze hätte keine Zeit, die Gerüche zu katalogisieren, denn Jackson Lamb kann sich für einen Mann mit seiner Wampe überraschend schnell bewegen, jedenfalls,...