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Rügener Vergeltung: Kommissarin Burmeisters vierter Fall. Insel-Krimi

Sylvia Voigt

 

Verlag Schardt Verlag, 2019

ISBN 9783961522248 , 360 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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12,99 EUR


 

EINS


 

Ich habe Urlaub eingereicht und genehmigt bekommen. Und Andy „Bolle“ Bollermann, mein junger Kollege aus Sachsen, hat mich überredet, den Rest der Vorweihnachtszeit in besagtem Freistaat zu verleben. Es war nicht schwer, mich zu überzeugen. Denn mein Sohn Sebastian ist tatsächlich für ein Jahr nach Skandinavien ausgewandert. Auch wenn es bei Weitem kein Kinderspiel war, alle Kriterien für den einjährigen Aufenthalt zu erfüllen. Gemeinsam mit seiner veganen und allzu dürren Freundin ist er vor drei Wochen in den Flieger nach Bergen gestiegen. Franziska, die ich Schneewittchen nenne, hat sich seitdem immerhin zweimal bei mir gemeldet. Es gehe ihnen gut, und alles wäre schön, lautete ihr kurzer Kommentar. Wohingegen mein Sohn nicht bereit war, mit mir zu reden. Dies lässt in mir eine dunkle und sehr böse Ahnung aufsteigen. Und obwohl ich nun schon unzählige Therapiestunden bei Herrn Gunthau hinter mir habe, gelingt es mir nicht, den Teufelskreis immer wiederkehrender und zermürbender Gedanken zu durchbrechen. Mit ungeahnter Intensität steigt urplötzlich mächtiges Mitleid in mir auf. Mitleid mit allen Psychotherapeuten dieser Welt. Wahrscheinlich gelingt es nur wenigen, ihre Patienten dauerhaft auf die richtige Bahn zu lenken und zu leiten und dort zu halten. Immerhin hat Herr Gunthau erreicht, dass ich mir um meine eigenen Wehwehchen keinerlei Gedanken mehr mache. Es ist mir völlig egal, ob und wo und wie lange es irgendwo zwickt oder zwackt. Ich habe gelernt, dass es irgendwann wieder vorbeigeht. Und dass man seinem Körper Zeit, mitunter viel Zeit geben muss. Es war von bis zu zwei Jahren die Rede. Schon bei dem Wort Vorsorge muss ich heute lächeln. Bedeutete es für mich vor wenigen Monaten noch das blanke Überleben, halte ich es nun für reine Abzocke und außerdem für eine geradezu offensichtlich blöde Wortschöpfung. Man soll sich sorgen, bevor man eine Krankheit hat. VOR-SORGE. Wie dämlich ist das denn? Und mal angenommen, ich gehe heute zum Hautcheck, wer garantiert mir, dass ich nicht zwei Wochen später mitten unter meiner stolzen Haarpracht keinen Krebs wuchern habe? An einer Stelle also, die sowieso von der Untersuchung außen vor bleibt.

Mit einem tiefen Seufzer lehne ich mich zurück. Das Fahren in meinem neuen Škoda, den ich auf den Namen Jakub getauft habe, ist mehr als angenehm. Ich fühle mich als stolzer Kapitän eines sacht dahingleitenden riesengroßen Flaggschiffes. Nebenbei höre ich amerikanische Weihnachtslieder. „Santa Claus is coming to toooooown“, krächzt es mir entgegen. Obwohl die amerikanischen Lieder bei Weitem nicht so viel Sentimentalität verströmen wie die deutschen, verfalle ich plötzlich in Melancholie.

Schluchzend folge ich Bolle in seinem Wagen, der mir zuliebe nur mit 120 Stundenkilometern seiner Heimat entgegenfährt. Seit wir mein geliebtes Mecklenburg-Vorpommern verlassen haben und uns auf die Berliner Region zubewegen, wächst meine Nervosität. Der schlagartig aufkommende Verkehr hat mich fast in Stase versetzt. Ich merke, wie verspannt ich bin, und registriere Nacken-, Schulter und Rückenschmerzen. Da hilft auch der beste und komfortabelste Straßenkreuzer nicht. Mit vor Schreck geweiteten Augen starre ich auf die unendlich lange Schlange von Lkw rechts vor mir. Links von mir rasen die Mutigen oder Lebensmüden mit geradezu irrem Tempo vorbei. Ein Verkehrsschild kündigt eine in sechs Kilometern befindliche Baustelle an, und mein ohnehin knapp bemessener Mut geht rapide den Bach runter. Die angestaute Angst muss raus. Ich fluche laut, kräftig und deftig und beschimpfe alle neben und vor mir Fahrenden. Als dann kurz vor Bolle ein Laster völlig idiotisch ausschert, um den Kollegen vor sich zu überholen, verspüre ich den irren Drang, mit meiner Waffe auf seine Reifen zu schießen. Schade nur, dass es eine Bestimmung gibt, wonach man seine Waffe nicht mit in den Urlaub nehmen darf. „Du bescheuertes Riesenarschloch“, keife ich in meinem Jakub, während ich stetig das Tempo auf die vorgegebenen sechzig Stundenkilometer drossele. Aus den drei Spuren werden zwei. Und es wird eng. Für meinen Geschmack viel zu eng. Plötzlich beginnt Jakub zu vibrieren. Der neben mir fahrende Laster kommt ihm aufgrund leichter Schwankungen in der Fahrweise bis auf zwei Zentimeter näher.

Ich verfluche mich für meine umnachtete Entscheidung, Bolle nach Sachsen zu begleiten. Wie schön wäre es jetzt zum Beispiel auf meiner Insel. Ich könnte mutterseelenallein durch den traumhaft schönen Jasmunder Nationalpark spazieren, auf das grenzenlose Meer blicken und die erhabene Stille und Ruhe genießen oder am Kap Arkona sitzen und dort mein Lager als Eremit aufschlagen. Auf jeden Fall hätte ich keine beschränkten Vollpfosten neben mir.

Irgendwann ist die Baustelle tatsächlich vorbei, und die gereizten Autofahrer geben gemeinschaftlich Gas. Auch Bolle scheint die Schnauze voll zu haben. Mein Tacho zeigt mir an, dass wir mit 150 Stundenkilometern Sachsen anvisieren. Komischerweise gewöhne ich mich schnell an dieses Tempo. Und es hat den Vorteil, dass wir bei Einbruch der Dämmerung Bolles Heimatstadt Freiberg erreichen. Ich bekomme schon mal einen ersten kleinen Schimmer davon, was Weihnachten im Erzgebirge bedeutet. So viele von Schwibbögen erleuchtete Fenster habe ich noch nie gesehen.

Ich wohne im komfortablen Hotel „Kreller“ und unternehme am Abend einen Bummel über den Freiberger Weihnachtsmarkt, obwohl laut den Medien ein Angriff der Russen unmittelbar bevorsteht. Vom sibirischen Frost soll vor allem Sachsen betroffen sein. Man muss froh sein, dass es Russland gibt. Sonst müsste sich Deutschland ein neues Feindbild suchen. Man munkelt, es könnten bis zu fünf Grad unter null werden. Davon spüre ich noch nicht viel. Aber es ist angenehm frisch, und die kühlen Temperaturen passen allemal besser zur vorweihnachtlichen Zeit und dem Überangebot an Bratwürsten und Glühwein. Ich genieße einen Eierpunsch und bin danach stockbesoffen. Keine Ahnung, aus welchen Zutaten der gebraut wurde. Auf jeden Fall schwanke ich durch die Menschenmassen. Unter dem wunderschönen riesigen Weihnachtsbaum genieße ich eine Bratwurst und komme langsam wieder zu mir. Das sanierte Rathaus ist geschmückt und leuchtet festlich. Ich freue mich auf die kommenden Tage. Bolle will mir unbedingt seine Stadt und das weihnachtliche Erzgebirge zeigen.

Während auf der Bühne ein Chor Weihnachtslieder über den Freiberger Obermarkt schmettert, kehrt meine innere Ruhe zurück. Ich bin nun doch froh, dass mich Bolle zu einem Ortswechsel überredet hat. Ich kaufe mir noch zwei Scheiben Stollen und – weil es so schön war – noch einen Becher Eierpunsch. Derart beladen schleiche ich mich vom Weihnachtsmarkt in das nur wenige Schritte entfernte Hotel. Ich plumpse auf das Bett und staune, wie fantastisch der sächsische Stollen schmeckt. Nach dem Eierpunsch falle ich vollends um und schlafe augenblicklich tief und fest ein.

Nach einem tollen Frühstück stehe ich pünktlich und in froher Erwartung im Foyer des Hotels. Auch Bolle schafft eine Punktlandung. Wir schlittern auf der Burgstraße in Richtung Dom, wo wir den Klängen einer der schönsten Silbermann-Orgeln lauschen.

Danach rutschen wir zum Schlossplatz. Als es mir zum vierten Male die Füße fast wegzieht, henkle ich mich bei Bolle ein. „Bei Glätte und Schnee geben die Fahrzeuge des Freiberger Winterdienstes grundsätzlich den anderen Verkehrsteilnehmern den Vortritt“, klärt er mich auf. Trotz des fehlenden Winterdienstes ist er fest entschlossen, mich in die „terra mineralia“ zu zerren, der seiner Meinung nach schönsten Mineralienausstellung der Welt. Er ignoriert meinen Einwand, dass ich mit Steinen nichts am Hut habe. Bereits nach wenigen Minuten bedanke ich mich bei ihm. Die Ausstellung ist großartig. Bolle hat Mühe, mich nach zwei Stunden wieder hinauszuschieben. „Wir haben noch mehr vor“, begründet er seinen Hang zur Eile und schleppt mich zum Freiberger Polizeirevier. „Ich muss unbedingt einen Kumpel aufsuchen. Es dauert nicht lange.“

Zehn Minuten später weiß ich, dass unser Polizeirevier in Sassnitz nicht das hässlichste ist. Ich bin fassungslos. Wir stehen vor einem riesigen, zerfallenen Gebäude, das mich an so viele zerfallene Gebäude erinnert, die vor langer Zeit zu jedem Bahnhof gehörten. Nur waren sie damals noch intakt. Und es gab auf den vielen intakten Bahnhöfen viele arbeitende Menschen. Mit Wehmut denke ich an die mit einer grünen Kelle schwenkenden Mitarbeiter, ohne deren Signal kein Zug abgefahren ist.

„Das ist nur eine Interimslösung“, klärt mich Bolle auf. „Bald ziehen die wieder um.“ Er stellt mich seinem Freund Jens Heidrich vor, dem man ansieht, dass er einen Großteil seiner Freizeit mit sportlichen Aktivitäten verbringt. Heidrich entpuppt sich als unsagbar netter Beamter, den ich am Ende des Gespräches frage, ob er für ein Tauschgeschäft bereit wäre. „Wir bieten Sachsen eine nordische, hohle Leitkuh. Und Sie kommen zu uns auf die Insel.“ Heidrich schmunzelt verschmitzt und verspricht, darüber nachzudenken.

Am Nachmittag lenkt Bolle seine Schritte ins Café „Markgraf Otto“, und ich genieße die...