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Der Anfang einer Zukunft

Kenneth Bonert

 

Verlag Diogenes, 2019

ISBN 9783257609424 , 656 Seiten

3. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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11,99 EUR


 

3


Ich erreiche die Weiden zuerst. Vorne lassen die riesigen Bäume ihre biegsamen Zweige ins Wasser hängen, und hinter ihnen drängen sich noch mehr Bäume, so dass man wie von einer Mauer geschützt ist. Zigarettenrauch weht mir in die Nase, aber ich kann in den Schatten nichts sehen, denn wenn man aus der hellen Sonne ins Dunkle guckt, wird man sofort zu Stevie Wonder. Ich blinzle noch und versuche, etwas zu erkennen, als drei Typen rauskommen. Sofort warnt mich so ein kribbliges Gefühl, dass ich abhauen sollte, aber Ari und Pats kommen hinter mir her, und dann sehe ich wieder die Farben – die hat nur eine Highschool in ganz Johannesburg. Ein ziemlich großer Typ, der älter ist als wir, fünfzehn oder sechzehn, kommt auf mich zu und zieht eine Zigarette aus dem Mund. Er hat so einen breiten, weichen Mund, bei dem die Lippen ungefähr zwei Nummern zu groß sind für sein Gesicht, und über den Augen hat er einen dicken Knochenwulst, die mich an einen Totenschädel erinnert, nur dass Totenschädel so aussehen, als würden sie breit grinsen, und dieser Typ hat kein Grinsen für mich übrig. Stattdessen sticht er mit seiner heißen Zigarette genau auf mein Auge, echt jetzt! Er trifft nur deshalb nicht, weil ich reflexartig zurückweiche. Als ich mein Gleichgewicht wiederfinde, sehe ich, dass die andern zwei Jungs hinter Pats und Ari stehen – wir sind umzingelt.

»Was macht ihr Milchbubis hier unten?«, fragt Schädelgesicht.

»Ich war – ich hab nur gesehen, dass er das Rugbyshirt von der Solomon trägt«, antworte ich, drehe mich um und deute mit dem Kinn zu dem Typen mit dem Shirt. »Geht ihr alle auf die Solomon? Welche Klasse?« Ich lege mich ins Zeug, grinse die ganze Zeit, aber es wirkt alles falsch, so funktioniert das nicht.

»Ach so, Süßer«, sagt Schädelfratze. Und noch während er das sagt, holt er mit einem Arm aus, und etwas explodiert mit einem lauten Knall auf der ganzen Seite meines Gesichts. Ich bin für einen Moment weg, und als ich wieder zu mir komme, stoßen die drei Großen uns tiefer zwischen die Weiden. Überall liegt Entenscheiße rum, und im dunklen Schlamm unten um das hohe Unkraut am Wasser sind tiefe Sumpf‌löcher, Millionen von Libellen huschen umher und schweben in der Luft wie winzige Hubschrauber. Keiner sonst ist hier, alle sind draußen in der Sonne auf dem Rasen. Mir wird kalt, und ich fange an zu zittern, aber das liegt nicht am Schatten. Meine eine Gesichtshälfte fühlt sich so dick an wie das blaue Gummi, aus dem Flipflops gemacht werden, und pocht wie verrückt. Ich fühle die rauhe Hand des großen Typen in meinem Nacken, und er packt mich am Kragen. Ich blicke mich um, und er liest das Schild in meinem Hemd. Einer von den anderen fragt ihn: »Was machst du da, Crackcrack?«

Crackcrack sagt: »Der trägt Zeug aus dem OK Bazaar. Ungelogen. Polyester, Sonderangebot aus der Krabbelkiste. Seine Mutter geht auf Flohmärkte. Sie kauft bei den Shochs ein, ich wette mit euch.«

Ich höre, wie Pats mit ihnen diskutiert. Kaum zu glauben, wie ruhig er klingt. Er sagt so was wie, dass wir doch alle Juden seien, sie müssten doch auch welche sein, wenn sie an der Solomon sind, also sollten wir uns doch vertragen. Der mit dem Rugbypulli packt Pats am Kopf und rammt ihn mit der Stirn, als wäre er eine Axt und Pats Kopf das Holz. Pats wird kreideweiß und hört auf zu reden. Ohne mich anzusehen, kneift mir Crackcrack so fest in die Brust, dass ich am liebsten aufgeschrien hätte, aber ich mache keinen Mucks. »Meine Schuhe sind handgemacht und aus Kalbsleder«, sagt Crackcrack. »Ich wette, dein Daddy fährt Toyota. Ich habe meinen eigenen Maserati. Mein Fahrer Edison hat ihn oben geparkt und wartet auf uns. Edison fährt mich, bis ich meinen Führerschein habe. Wir cruisen durch die Gegend, die Mädels gaffen uns an. Und ihr braven Rabbi-Jungs kommt aus der Schul und glaubt, ihr könnt uns anmachen?«

Er zieht mich an der Haut meiner Brust herum, lässt plötzlich los, und ich falle fast gegen den im Rugbyhemd. »Geschenk für dich, Polovitz«, sagt Crackcrack.

»Ich will ihn nicht«, entgegnet Polovitz.

Ich sehe, dass der andere von ihnen Aris rote Jarmie genommen hat. Ich weiß, dass sie ein besonderes Geschenk von seinem Vater war. Ari bedeckt den Kopf mit den Händen und sieht aus, als würde er gleich laut anfangen zu heulen, aber er beherrscht sich und sagt: »Aber ihr verstoßt gegen den Sabbat. Und das nimmt HaSchem sehr übel. Ihr tut mir jetzt schon leid, wenn ich dran denke, was er mit euch machen wird.« Alle erstarren einen Augenblick lang. HaSchem ist ein starkes Wort, ein Schul-Wort. Es ist hebräisch und bedeutet »der Name«, weil der wahre Name G-ttes nicht genannt werden darf, nur geschrieben, in heiligen Texten wie der Thora.

Crackcrack packt Ari am Ohr. »Süßer«, sagt er und dreht Aris Ohr so, dass er ihn dadurch zu Boden zwingt. Er nimmt schwarzen Schlamm, klatscht ihn auf Aris Wange und verschmiert ihn über sein ganzes Gesicht. »Jetzt siehst du wie der Shoch aus, der du bist«, sagt er. »Halt die Klappe, Shoch.« Ari kann nicht mehr und fängt an zu weinen. Tränen laufen über den Schlamm, und er schluchzt, als hätte er einen Asthmaanfall. Er merkt nicht mal, dass die beiden anderen seine Jarmie als Frisbee benutzen. Pats steht einfach nur da, sein Gesicht immer noch so weiß wie Tipp-Ex, nur dass eine dicke rote Beule aus seiner Stirn wächst wie ein Riesenpickel, der zum schlimmsten Fall von Akne seit Menschengedenken erblüht.

Crackcrack schaut auf das Wasser und sagt: »Was meinst du, Russ?«

Der Typ namens Russ grinst breit und schaut runter auf den armen Ari mit seinem mit Matsch und Rotz verschmierten Gesicht. Russ sagt: »Badezeit für die Babys!«

Ich sehe zu, wie Crackcrack seine Zigarette wegschnippt und sich mit einem goldenen Feuerzeug langsam eine neue anzündet. Wie er dabei die Schultern hochzieht, die Augen zusammenkneift und versucht, cool auszusehen, hat er sich sicher aus Filmen abgeschaut. Dann sehe ich, dass er amerikanische Camels raucht. Die gibt’s in den Geschäften gar nicht mehr zu kaufen, wegen der Sanktionen. Aber er will zeigen, dass er welche kriegt, und das zählt mehr als nur Geld. Genau wie die anderen beiden trägt er Puma, Lacoste und Fila – wie eine Art Uniform. Plötzlich trifft es mich wie ein Hieb mit dem Kricketschläger: wie viel weniger ich bin als die, weil ich nicht diese Logos trage. Und dass sie aus einer anderen Welt kommen, von der ich keine Ahnung habe. Und das bringt mich sofort auf Marcus.

»Alles klar«, sagt Crackcrack. »Partytime. Ihr kleinen Rabbi-Jungs schafft jetzt eure Ärsche ins Wasser.«

Keiner bewegt sich.

»Los, ihr Schwulis. Ich sag’s nicht noch mal. Ich zähle jetzt bis drei, und dann geht ihr da rein, oder es wird euch leidtun!«

Ich blicke hinter mich und sehe, dass in dem grünen Wasser zwischen dem Ufergras alles Mögliche rumschwimmt, schleimiges Moos, Schlieren von Entenscheiße, Bierdosen und anderer herumdümpelnder Müll. Ich schaue die drei vor uns an. Ich überlege zuzuschlagen – ich meine ernsthaft. In Gedanken sehe ich meinen Bruder auf den schweren Sack in unserem Garten einprügeln, baff! baff! baff!, wobei die Schweißtropfen fliegen. Wenn ich alleine war, habe ich es auch ein paarmal versucht, aber die Schläge meiner knochigen Fäuste sind nur kleine Schubser gegen den harten Stoff, den ich kaum einbeulen kann. Ich schaue in ihre Gesichter und versuche mir vorzustellen, dass ich so auf eine echte Nase, ein echtes Kinn einschlage, und bei dem Gedanken fühle ich mich schwach, und mir wird fast übel. Mir ist, als würde ich schmelzen, immer weiter, in meine Socken rein.

»Eins«, zählt Crackcrack.

Zwischen zweien von ihnen klafft links eine kleine Lücke. Ich bewege mich langsam darauf zu, drehe mich seitwärts, aber Pats sagt: »Lass das, Helger. Die tun uns sonst nur noch mehr weh.«

Es ist dieses Wort, das dritte Wort. Helger. Es zerplatzt wie eine Bombe. Ich meine, ich sehe es in ihren Gesichtern – kabumm.

Plötzlich denke ich schneller als Jody Scheckter mit 500 km/h auf der Kyalami-Rennstrecke. Ich gehe auf die Lücke zu und weiß, dass sie jetzt nicht mehr versuchen werden, mich aufzuhalten. Ich gehe zwischen ihnen durch, und sie machen – nichts. Sie stehen einfach da wie gefrorene Scheißhaufen, mit offenen Mündern. Ich drehe mich zu Ari und Pats um. »Kommt, Jungs«, sage ich. »Die tun euch nichts. Lasst uns abhauen.«

Polovitz sagt zu Russ: »Verdammte Scheiße. Er ist es, oder?«

»Kann nicht sein«, erwidert Russ. Aber er klingt nicht mehr wie noch vor ein paar Sekunden. Seine Stimme ist ganz hoch, wie die eines Mädchens.

Crackcrack geht auf mich zu, als wolle er diesen Quatsch auf der Stelle klären. »Wie heißt du?«

»Ich bin Martin Helger«, sage ich.

»Was soll der Scheiß?«

»Das ist heftig«, sagt Russ. »Er ist sein Bruder. Sein kleiner Bruder.«

»Der hat doch gar keinen kleinen Bruder«, erwidert Crackcrack.

Ich spüre, wie alle mich ansehen, während ich Crackcracks Blick erwidere. »Mein Bruder geht auf die Solomon«, sage ich. »Vielleicht kennt ihr ihn. Er heißt Marcus. Marcus Helger. Ich wollte euch einfach nur fragen, ob ihr ihn kennt. Vorher.« Jetzt sagt keiner mehr ein Wort. Ich erzähle ihnen, dass mein Bruder Marcus in der Matriek ist – in der zehnten Klasse, der letzten Klasse der Highschool. Also ist er älter als sie, achtzehn inzwischen. Ich frage sie noch einmal, ob sie ihn kennen, aber die Antwort weiß ich bereits. Etwas Riesiges ist unter meiner Kehle...