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Der große Schlaf

Raymond Chandler

 

Verlag Diogenes, 2019

ISBN 9783257609745 , 304 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

2


Wir traten durch die Terrassentür auf einen gepflegten, rotgeklinkerten Weg, der abseits der Garage die Rasenfläche umrundete. Jetzt hatte der jungenhafte Chauffeur eine große Limousine in Schwarz und Chrom draußen und polierte die. Der Weg führte zum Treibhaus, wo der Butler mir eine Seitentür aufhielt. In dem Windfang dahinter war es so warm wie in einem Ofen bei niedriger Hitze. Der Butler folgte mir, schloss die Tür, öffnete eine zweite. Drinnen war es richtig heiß. Die Luft war dumpf, feucht, dunstig und vom süßlichen Geruch tropischer Orchideen geschwängert. Wände und Dach des Treibhauses waren stark beschlagen, dicke Kondenstropfen platschten auf die Pflanzen. Das Licht war unwirklich grün, wie in einem Aquarium. Ein Dickicht aus scheußlichen fleischigen Blättern und Stengeln wie frisch gewaschene Leichenfinger überwucherte den Raum. Sie rochen so überwältigend, als würde man unter einer Pferdedecke Schnaps brennen.

Der Butler tat, was er konnte, damit ich durchkam, ohne von den triefenden Blättern geohrfeigt zu werden, und nach einer Weile erreichten wir eine Lichtung mitten im Dschungel, unter der Glaskuppel. Auf einem gefliesten Sechseck lag ein alter roter Orientteppich, darauf stand ein Rollstuhl, und aus dem Rollstuhl sah uns ein alter, offenkundig sterbenskranker Mann entgegen: Das Feuer der Augen war vor langem erloschen, und doch hatten sie noch immer den kohlschwarzen, direkten Blick wie auf dem Gemälde in der Halle. Ansonsten war sein Gesicht eine bleierne Maske, mit den blutleeren Lippen, der spitzen Nase, den eingesunkenen Schläfen und den nach außen gekrümmten Ohrläppchen des nahenden Verfalls. Sein langer hagerer Körper war – bei dieser Hitze – in einen ausgeblichenen roten Bademantel und ein Plaid gehüllt. Die dünnen Klauenhände mit ihren violetten Nägeln ruhten locker gefaltet auf der Decke. Auf seinem Schädel klebten ein paar trockene weiße Haarsträhnen, als kämpf‌ten Wildblumen auf einem kahlen Felsen ums Überleben.

Der Butler stellte sich vor ihn und sagte: »General Sternwood, Mr. Marlowe ist da.«

Der alte Mann rührte sich nicht, kein Wort, nicht mal ein Nicken. Er blickte mich nur leblos an. Der Butler schob mir einen feuchten Weidenstuhl in die Kniekehlen, und ich setzte mich. Beherzt griff er nach meinem Hut.

Der alte Mann holte seine Stimme aus einem tiefen Brunnen. »Brandy, Norris. Wie trinken Sie Ihren Brandy, Sir?«

»Wie er kommt«, sagte ich.

Der Butler verschwand zwischen den abscheulichen Pflanzen. General Sternwood sagte wieder etwas, langsam, sorgsam mit seinen Kräften haushaltend wie ein arbeitsloses Showgirl mit seinen letzten guten Nylons.

»Früher nahm ich meinen mit Champagner. Den Champagner so kalt wie der Eisberg der Titanic, mit einem Drittel Brandy drunter. Legen Sie ruhig ab, Sir. Es ist zu heiß hier drin für einen Mann mit Blut in den Adern.«

Ich stand auf, streif‌te das Jackett ab, zog ein Taschentuch heraus und wischte mir über Gesicht, Nacken und Handgelenke. St. Louis im August war nichts dagegen. Ich setzte mich wieder, tastete reflexhaft nach einer Zigarette und hielt inne. Der alte Mann bemerkte es und lächelte schwach.

»Rauchen Sie ruhig, Sir. Ich mag den Geruch von Tabak.«

Ich zündete die Zigarette an und blies ihm eine Lunge voll zu. Er schnüffelte wie ein Terrier an einem Rattenloch. Das schwache Lächeln zerrte an seinen verschatteten Mundwinkeln.

»Schöner Zustand, wenn man seinen Lastern nur noch stellvertretend nachgehen kann«, sagte er trocken. »Sie haben die mickrigen Reste eines ziemlich wilden Lebens vor sich, einen an beiden Beinen gelähmten Krüppel mit halbem Unterleib. Ich kann nur sehr wenig essen, mein Schlaf hat seinen Namen kaum verdient, so ähnlich ist er dem Wachsein. Ich überlebe nur noch in der Hitze, wie eine frisch geschlüpf‌te Spinne, so siehts aus, die Orchideen sind reiner Vorwand. Mögen Sie Orchideen?«

»Nicht besonders.«

Er schloss halb die Augen. »Widerliches Zeug. Ihr Fleisch ähnelt zu sehr dem Fleisch der Menschen. Ihr Duft hat die faulige Süße einer Hure.«

Mir stand der Mund offen. Die weiche, feuchte Hitze legte sich auf uns wie ein Leichentuch. Der alte Mann nickte leicht, als fürchtete sein Nacken das Gewicht seines Kopfes. Dann kam der Butler mit einem Teewagen durch den Dschungel, mixte mir einen Brandy-Soda, hüllte den kupfernen Eiskübel in eine feuchte Serviette und entfernte sich sacht zwischen den Orchideen. Eine Tür ging auf und schloss sich wieder hinter ihm.

Ich nahm einen Schluck. Der alte Mann ließ mich nicht aus den Augen, leckte sich immer wieder den Mund und zog grabesversunken eine Lippe über die andere, wie ein Bestatter sich die Hände abwischt.

»Erzählen Sie mir von sich, Mr. Marlowe. Ich darf doch fragen?«

»Klar, aber da gibt es nicht viel zu erzählen. Ich bin dreiunddreißig, war mal auf dem College und kann immer noch britisches Englisch, bei Bedarf. Besteht in meinem Metier aber kaum. Ich habe mal für den Bezirksstaatsanwalt Mr. Wilde ermittelt. Sein Chefermittler, ein Mann namens Bernie Ohls, rief mich an und sagte, Sie wollten mich treffen. Ich bin nicht verheiratet, weil ich Polizistenfrauen nicht leiden kann.«

»Ach, zynisch ist er auch.« Der alte Mann lächelte. »Haben Sie ungern für Wilde gearbeitet?«

»Ich wurde gefeuert. Wegen Unbotmäßigkeit. Da schneide ich immer sehr gut ab.«

»Freut mich zu hören, Sir. Das ging mir auch immer so. Was wissen Sie über meine Familie?«

»Wie ich höre, sind Sie Witwer und haben zwei junge Töchter, beide hübsch und beide wild. Eine war dreimal verheiratet, zuletzt mit einem früheren Alkoholschmuggler namens Regan, Spitzname Rusty. Das wars schon, General Sternwood.«

»Fanden Sie irgendwas davon merkwürdig?«

»Vielleicht den Rusty-Regan-Teil. Aber mit Alkoholschmugglern hatte ich nie Probleme.«

Wieder sein sparsames Lächeln. »Ich offenbar auch nicht. Ich mag Rusty sehr. Ein stämmiger irischer Lockenkopf aus Clonmel mit traurigen Augen und einem Lächeln so breit wie der Wilshire Boulevard. Anfangs hielt ich ihn für genau das, wofür Sie ihn wahrscheinlich halten, einen Abenteurer, der einen fetten Vogel geschossen hatte.«

»Sie müssen Rusty gemocht haben«, sagte ich. »Sie haben sogar seine Sprüche übernommen.«

Er steckte seine dünnen, blutleeren Hände unter die Decke. Ich drückte meinen Zigarettenstummel aus und leerte das Glas.

»Er war für mich der reinste Jungbrunnen – solang er durchhielt. Er saß stundenlang bei mir, schwitzte wie ein Schwein, trank literweise Brandy und erzählte mir Geschichten vom irischen Bürgerkrieg. Er war Offizier in der IRA gewesen. Er war nicht mal legal in den USA. Die Ehe war natürlich eine Farce und hielt als Ehe wahrscheinlich nicht mal einen Monat. Ich erzähle Ihnen hier die Familiengeheimnisse, Mr. Marlowe.«

»Sie bleiben auch geheim«, sagte ich. »Was ist aus ihm geworden?«

Das Gesicht des alten Mannes versteinerte. »Vor einem Monat ist er weggegangen. Einfach so, ohne ein Wort. Ohne sich von mir zu verabschieden. Das tat ein bisschen weh, aber er hat viel hinter sich. Irgendwann meldet er sich schon. Unterdessen werde ich wieder erpresst.«

»Wieder?«

Er zog die Hände unter der Decke hervor, mit einem braunen Umschlag. »Als Rusty noch da war, hätte mir jeder leidgetan, der das versucht. Ein paar Monate, bevor er kam – also vor einem guten Dreivierteljahr –, bezahlte ich einem Mann namens Joe Brody fünf‌tausend Dollar, damit er meine jüngere Tochter Carmen in Ruhe ließ.«

»Ach.«

Die dünnen weißen Augenbrauen zuckten. »Will sagen?«

»Nichts.«

Er starrte mich weiter an, mit einem leichten Stirnrunzeln. Dann: »Hier. Schauen Sie da mal rein. Und bedienen Sie sich beim Brandy.«

Ich nahm den Umschlag von seinen Knien, setzte mich wieder und drehte ihn um, nachdem ich mir die Hände abgewischt hatte. Er war adressiert an General Guy Sternwood, 3765 Alta Brea Crescent, West Hollywood, California. Die Adresse war mit Tinte geschrieben, in der schrägen Druckschrift der Ingenieure. Der Umschlag war aufgeschlitzt. Ich griff hinein und zog eine braune Karte und drei Pappstreifen hervor. Die Karte war aus dünnem braunen Leinen, in Gold bedruckt: »Mr. Arthur Gwynn Geiger«. Keine Adresse. In der unteren linken Ecke, sehr klein: »Seltene Bücher und Deluxe-Ausgaben«. Ich drehte die Karte um. Schräge Druckschrift auch hier. »Sehr geehrter Herr: Obwohl Beiliegendes rechtlich nicht einklagbar ist, da es sich zugegebenermaßen um Spielschulden handelt, gehe ich davon aus, dass Sie diese beglichen sehen möchten. Hochachtungsvoll, A.G. Geiger.«

Ich betrachtete die weißen Pappstreifen. Es waren mit Tinte ausgefüllte Schuldscheine, auf verschiedene Tage Anfang September datiert, gut vier Wochen alt. »Hierfür ist Mr. Arthur Gwynn Geiger oder Überbringer die Summe von eintausend Dollar ($ 1000,00) zinsfrei auszuzahlen. Gegenwert erhalten. Carmen Sternwood.«

Die Handschrift war ausladend und dümmlich, mit Unmengen fetter Schnörkel und Kringel statt Punkten. Ich mixte mir noch einen Drink, nahm einen Schluck und legte das Asservat beiseite.

»Was sagen Sie?«, fragte der General.

»Noch nichts. Wer ist dieser Arthur Gwynn Geiger?«

»Ich habe nicht die geringste Ahnung.«

»Was sagt Carmen?«

»Hab sie nicht gefragt. Hab ich auch nicht vor. Sie würde nur an ihrem Daumen lutschen...