dummies
 

Suchen und Finden

Titel

Autor/Verlag

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Im Bus ganz hinten - Eine deutsche Geschichte

Fler, Julia Kautz, Sascha Wernicke

 

Verlag riva Verlag, 2011

ISBN 9783864130083 , 272 Seiten

Format ePUB, OL

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

10,99 EUR

Für Firmen: Nutzung über Internet und Intranet (ab 2 Exemplaren) freigegeben

Derzeit können über den Shop maximal 500 Exemplare bestellt werden. Benötigen Sie mehr Exemplare, nehmen Sie bitte Kontakt mit uns auf.


 



1. Aller Anfang ist hart

Psycho!

Ich stehe jetzt hier und schreie. Ich schreie diesen beschissenen Gang zusammen. Meine Stimme ist so laut, dass sie vermutlich noch durch die Fenster auf der Straße zu hören ist. Ich spüre die Wut als Rauschen in meinem Kopf. Ich will hier raus. Hier drinnen kann mir eh keiner helfen, niemand kann mir helfen, nirgendwo. Brüllend starre ich auf die Bilder an der Wand. Hässliche Bilder in billigen Rahmen – mit Blumen, Bergen und Bäumen. Ich balle meine Hand zur Faust und halte noch einen Moment lang inne. Ich atme noch einmal durch. Dann renne ich an die Wand und schlage mit voller Wucht die Glasscheiben der Bilderrahmen ein. Immer wieder und immer wieder. Die Splitter fliegen – und sie zerschneiden meine Hände. Die Scherben ritzen mir die Haut auf. Es fängt an zu bluten, und es tropft auf den Boden. Eigentlich sollte das jetzt ziemlich wehtun, aber ich merke nichts. Die Wut regiert alle Gefühle und Gedanken. Mein Körper ist voller Adrenalin, und ich schreie weiter: »Lasst mich endlich raus!« Ich zerschlage jedes einzelne dieser unerträglichen Scheißbilder. Und dann kommen sie: die Männer und Frauen in den weißen Kitteln. »Patrick, beruhig dich!«, ruft Zivi Henning. Aber die anderen sind mir egal. Man kann der Wut nicht einfach gut zureden, sie ein bisschen streicheln, damit sie zu schnurren beginnt. Ich mache weiter, bis mich plötzlich fünf Leute auf einmal packen. Mit aller Kraft zerren sie mich den Gang runter. Ich spucke in ihre Gesichter, trete wild um mich – ich schlage einfach überallhin, wo es nur geht. Es hilft alles nichts. Diese Wichser schleifen mich in ein kahles Zimmer mit einer Liege, drücken mich darauf, halten mich fest und fesseln mich. Sie schnallen dicke Ledergurte um meine Arme und Beine. Jetzt kann ich nichts mehr machen. Okay, ich kann noch immer schreien und fluchen. Ich bin so verzweifelt, dass mir Tränen die Wangen herunterlaufen. Es hört gar nicht mehr auf. Ich bin vollkommen hilflos – jetzt werde ich offiziell für verrückt erklärt. »Du hast kein Recht, hier so durchzudrehen«, sagen diese Typen zu mir und lassen mich dann liegen. Allein. Kein Ton ist zu hören in dem Zimmer. Ich winde mich von links nach rechts. Ich schüttele panisch meinen Kopf. Ich will nur noch weg. Nach einer Stunde gebe ich auf. Die Fesseln schnüren mir eh schon das Blut ab. Alles tut weh. Und dann ist die Wut plötzlich verschwunden. Ich fange innerlich an zu lachen. Irgendwie ist die Situation so dermaßen beschissen, dass es schon wieder witzig ist. Wenn man endlich in der Klapse gelandet ist, dann sollte man sich wenigstens mal fesseln lassen, denke ich. Ich komme mir vor wie in einem Film. Wie in meinem Film, der in einer Nervenheilanstalt in Berlin-Lichtenberg spielt. Ich bin gerade erst 14 Jahre alt und spiele die Hauptrolle. Bombe! Herzlich willkommen in meinem Leben.

Die erste Erinnerung

Aber fangen wir doch hübsch von vorn an. Eine einfache Kindheit hatte ich definitiv nicht. Schon bei der Geburt war ich zu schnell, ich war viel zu klein und wäre beinahe, noch bevor es spannend wurde, gestorben. Natürlich habe ich überlebt – sonst wäre das Buch ja an dieser Stelle schon vorbei. Ich war also als Baby ein halbes Hemd. Aber: Ich sah ganz süß aus. Ich hatte große blaue Augen, nur wenige Haare auf dem Kopf und eine kleine Steckdosennase. Auf der Straße wurde meine Mama von allen beneidet und von wildfremden Menschen angesprochen. »Sie sollten Ihr Kind zum Film schicken. Oder zur Werbung!« Aber aus meiner Karriere als Kinderstar wurde nichts. Meine Mutter hatte zu viele andere Dinge im Kopf.

Sie war Schneiderin. Mein Vater war Alkoholiker. Und nebenbei Truckfahrer. Vielleicht war es auch umgekehrt, jedenfalls waren meine Eltern keine asozialen Penner, sie haben ihr Leben lang hart gearbeitet. Meiner Mutter war es enorm wichtig, nach außen den Schein einer anständigen Familie zu wahren, aber tief im Inneren sah die Sache natürlich anders aus. Ich habe nie mitbekommen, dass die beiden sich lieb gehabt hätten. Bei uns gab es keine Umarmungen, keine Küsse. Eigentlich ist Streit das Einzige, woran ich mich erinnern kann. Eine der ersten Szenen, die mir im Gedächtnis geblieben ist, ist folgende: Ich muss etwa drei Jahre alt gewesen sein und saß mit meiner Mama am Esstisch. Ich löffelte begeistert meinen Lieblingsbrei mit Äpfeln – davon konnte ich nicht genug bekommen, den würde ich noch essen, bis ich fünf oder sechs Jahre alt war. Ich mampfte und mampfte. Essen hat mich einfach schon damals ziemlich glücklich gemacht. Während ich dasaß und futterte, lief meine kleine Spieluhr im Hintergrund. Ding-Dingeling-Ding. Sie spielte mein Lieblingslied, und ich war einfach nur happy. Der perfekte Moment, nichts störte unsere kleine Familienzufriedenheit. Dann schloss mein Vater die Haustür auf und trat mit einem Knall in die Wohnung. Er hatte immer Cowboystiefel an, seine Schritte taten mir in den Ohren weh, so scharf klackerten die Absätze an diesem Abend über den Holzboden. Er lief, ohne uns zu begrüßen, in die Küche zum Kühlschrank. Riss die Tür auf. Stille. Schlug Sekunden später den Kühlschrank wieder zu. Es schepperte, und mein Vater schrie: »Wo ist mein Bieeeer? Ich hab Durst!« Seine Stimme hallte durch die ganze Wohnung. Ich rutschte unruhig auf meinem Stuhl hin und her. Natürlich wusste ich nicht, was los war – aber ich hatte deutlich das Gefühl, dass gleich etwas Schlimmes passieren würde. Meine Mutter warf mir einen ängstlichen Blick zu, dann stand sie auf und ging in Richtung Küche zu meinem Vater. Ich hörte, wie sie tief durchatmete, bevor sie den Raum verließ. Mein Vater kam ihr schon auf dem Flur entgegen, und bevor sie auch nur ein Wort zu ihm sagen konnte, schlug er ihr mit der flachen Hand ins Gesicht. Ich konnte im Esszimmer den lauten Knall hören. Ich bekam Panik und schrie. Meine Mutter dagegen sagte keinen Ton, sie schloss nur schnell die Tür hinter sich. Und ich saß allein im Zimmer – auf einem Kissen auf meinem Kinderstuhl. Ich wusste nicht, ob ich aufstehen oder sitzen bleiben sollte. Ich wusste nicht, ob ich mit den Beinen strampeln durfte oder besser mucksmäuschenstill sitzen blieb. Ich sackte in mich zusammen. Durch das Milchglas der Esszimmertür konnte ich in den Flur sehen. Verschwommen, aber ausreichend deutlich sah ich, wie mein Vater weiter auf meine Mutter einschlug. Seine Hand raste immer wieder auf sie zu. Immer wieder und immer wieder. Er war unfassbar brutal. Mama wimmerte erst leise, dann ließ sie plötzlich einen schrillen Schrei los. Ich wollte auch schreien, aber ich brachte keinen Laut heraus. Ich wollte nicht, dass jemand meiner Mama wehtat. Ich wollte nicht, dass mein Vater so wütend war. Im Hintergrund lief noch immer die Spieluhr, aber die Melodie war jetzt nicht mehr schön. Sie klang wie der Soundtrack zu einem Psychothriller …

Und Tschüss!

Was tat sie da? Ich sah, wie meine Mutter hysterisch irgendwelche Sachen in große Taschen und Plastiktüten packte. Pullover, Hemden, T-Shirts, Unterhosen. Unter Tränen räumte sie die Schränke aus. Zwischendurch schrie sie unzusammenhängende Satzbrocken, die irgendwie mit meinem Vater zu tun hatten. Ich schaute sie nur verwirrt an. »Mama, was ist los?«, fragte ich. »Er muss raus hier«, schrie sie hysterisch und sprang durchs Zimmer. Als ich am nächsten Tag aus dem Kindergarten kam, sah unsere Wohnung seltsam leer aus, und meine Mutter strahlte. Sie schien erleichtert. Und mein Vater? Der war weg. Sie hatte ihn rausgeschmissen, mit seinen Siebensachen einfach vor die Tür gesetzt. Und Tschüss! Den Zeitpunkt hatte sie bewusst gewählt, ich war ja im Kindergarten gewesen und hatte von all dem nichts mitbekommen. Als ich fragte: »Mama, wo ist Papa?«, da sagte sie nur: »Er wohnt nicht mehr bei uns.« »Aber warum? Kommt er jetzt nie mehr wieder?« Eine Antwort darauf habe ich nicht bekommen.

Mein Vater kam schneller zurück als erwartet: Eines Nachts, als ich bereits friedlich im Bett lag und von einer besseren Welt voller Bauklötze und Matchbox-Autos träumte, wurde ich von lauten Schreien geweckt. Die Stimme erkannte ich sofort. Mein Vater stand unten vor dem Fenster, war besoffen und brüllte verzweifelt: »Ich will wieder rein. Macht endlich die Tür auf.« Er klingelte Sturm. Einmal. Zweimal. Dreimal. Ich zuckte bei jedem Klingelton zusammen. Aber meine Mutter machte nicht auf, sie tat so, als würde sie nichts hören. Wir wohnten oben im dritten Stock, und trotzdem war die Stimme meines Vaters gut zu verstehen. Ich lag mit aufgerissenen Augen im Bett und starrte an die Zimmerdecke. Ich bewegte mich keinen Zentimeter, krallte mich nur mit beiden Händen an der Bettdecke fest. Dann ließ mich ein extrem lautes Geräusch panisch zusammenzucken: Ein großer Ziegelstein flog mitten durch das Wohnzimmerfenster. Es klirrte, und ich hörte, wie Tausende Splitter in die Wohnung krachten. Ich sprang auf und lief ins Wohnzimmer und sah, wie meine Mutter sich in ihrem weißen Nachthemd durch das Loch in der Scheibe lehnte. »Geh endlich weg! Lass uns einfach in Ruhe!« »Nein, ich will zurück. Wir sind eine Familie.« »Vergiss es. Es ist zu viel passiert. Verpiss dich.« Dann drehte sie sich zu mir um. »Und du pass auf wegen der ganzen Splitter«, befahl sie in strengem Ton. Sie nahm mich an der Hand und brachte mich in mein Zimmer zurück. Mein Vater verschwand unterdessen draußen wieder in der Nacht.

Trotz solcher Aktionen erlaubte meine Mutter es meinem Vater, mich regelmäßig zu sehen. »Ich will dir nicht deinen Sohn wegnehmen«, versprach sie ihm am Telefon. Ich vermisste ihn sehr und war erleichtert, dass er mich einmal pro Woche von zu Hause abholen durfte. Egal, was er angestellt hatte, er war mein Vater,...