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Die Elfen - Roman

Bernhard Hennen, James A. Sullivan

 

Verlag Heyne, 2011

ISBN 9783641065010 , 1040 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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11,99 EUR


 

DER MANNEBER

Inmitten der tief verschneiten Lichtung lag der Kadaver eines Elchbullen. Das zerschundene Fleisch dampfte noch. Mandred und seinen drei Gefährten war klar, was das bedeutete: Sie mussten den Jäger aufgeschreckt haben. Der Kadaver war mit blutigen Striemen bedeckt, der schwere Schädel des Elchs aufgebrochen. Mandred kannte kein Tier, das jagte, um dann nur das Hirn seiner Beute zu fressen. Ein dumpfes Geräusch ließ ihn herumfahren. In wirbelnden Kaskaden fiel Schnee von den Ästen einer hohen Kiefer am Rand der Lichtung. Die Luft war erfüllt mit feinen Eiskristallen. Misstrauisch spähte Mandred ins Unterholz. Jetzt war der Wald wieder still. Weit über den Baumwipfeln zog das grüne Feenlicht tanzend über den Himmel. Das war keine Nacht, um in die Wälder zu gehen!

»Bloß ein Ast, der unter der Last des Schnees gebrochen ist«, sagte der blonde Gudleif und klopfte sich den Schnee von seinem schweren Umhang. »Jetzt schau nicht drein wie ein tollwütiger Hund. Du wirst schon sehen, am Ende folgen wir doch nur einem Rudel Wölfe.«

Sorge hatte sich in die Herzen der vier Männer geschlichen. Jeder dachte an die Worte des alten Mannes, der sie vor einer todbringenden Bestie aus den Bergen gewarnt hatte. Waren sie doch mehr als Hirngespinste, gesprochen im Fieberwahn? Mandred war der Jarl von Firnstayn, jenes kleinen Dorfes, das hinter dem Wald am Fjord lag. Es war seine Pflicht, jede Gefahr abzuwenden, die dem Dorf drohen mochte. Die Worte des Alten waren so eindringlich gewesen, er hatte ihnen nachgehen müssen. Und doch …

In Wintern wie diesem, die früh begannen, die zu viel Kälte brachten und in denen das grüne Feenlicht am Himmel tanzte, kamen die Albenkinder in die Welt der Menschen. Mandred wusste das, und seine Gefährten wussten es auch.

Asmund hatte einen Pfeil auf den Bogen gelegt und blinzelte nervös. Der schlaksige, rothaarige Mann machte nie viele Worte. Er war vor zwei Jahren nach Firnstayn gekommen. Man erzählte sich, er sei im Süden ein berühmter Viehdieb gewesen und König Horsa Starkschild habe ein Kopfgeld auf ihn ausgesetzt. Mandred scherte sich nicht darum. Asmund war ein guter Jäger, der viel Fleisch ins Dorf brachte. Das zählte mehr als irgendwelche Gerüchte.

Gudleif und Ragnar kannte Mandred von Kindesbeinen an. Sie beide waren Fischer. Gudleif war ein stämmiger Kerl mit Bärenkräften; stets gut gelaunt, zählte er viele Freunde, auch wenn er als etwas einfältig galt. Ragnar war klein und dunkelhaarig, er unterschied sich von den großen, meist blonden Bewohnern des Fjordlands. Manchmal wurde er dafür verspottet, und hinter vorgehaltener Hand nannten sie ihn ein Koboldkind. Das war närrischer Unsinn. Ragnar war ein Mann mit dem Herzen auf dem rechten Fleck. Einer, auf den man sich unbedingt verlassen konnte!

Wehmütig dachte Mandred an Freya, seine Frau. Sie saß jetzt gewiss an der Feuergrube und lauschte hinaus in die Nacht. Er hatte ein Signalhorn mitgenommen. Ein Hornstoß bedeutete Gefahr; blies er hingegen zweimal ins Horn, so wusste jeder im Dorf, dass keine Gefahr hier draußen lauerte und die Jäger sich auf dem Heimweg befanden.

Asmund hatte den Bogen gesenkt und legte warnend einen Finger an die Lippen. Er hob den Kopf wie ein Jagdhund, der Witterung aufgenommen hatte. Jetzt roch Mandred es auch. Ein seltsamer Geruch zog über die Lichtung. Er erinnerte an den Gestank fauler Eier.

»Vielleicht ist es ja ein Troll«, flüsterte Gudleif. »Es heißt, in harten Wintern kommen sie aus den Bergen herab. Ein Troll könnte einen Elch mit einem Fausthieb niederstrecken.«

Asmund blickte Gudleif finster an und bedeutete ihm mit einer Geste zu schweigen. Das Holz der Bäume knarrte leise in der Kälte. Mandred beschlich das Gefühl, beobachtet zu werden. Etwas war hier. Ganz nah.

Plötzlich stob das Geäst eines Haselstrauchs auseinander, und zwei weiße Schemen stürmten mit lautem Flügelschlag über die Lichtung hinweg. Mandred riss unwillkürlich den Speer hoch, dann atmete er erleichtert aus. Es waren nur zwei Schneehühner gewesen!

Aber was hatte sie aufgescheucht? Ragnar zielte mit dem Bogen auf den Haselstrauch. Der Jarl senkte die Waffe. Er spürte, wie sich sein Magen zusammenzog. Lauerte das Ungeheuer dort im Gebüsch? Lautlos verharrten sie.

Eine Ewigkeit schien zu vergehen, doch nichts rührte sich. Die vier hatten einen weiten Halbkreis um das Dickicht gebildet. Die Spannung war kaum mehr zu ertragen. Mandred spürte, wie ihm kalter Schweiß den Rücken hinabrann und sich am Gürtel sammelte. Der Weg zurück zum Dorf war weit. Wenn seine Kleidung durchgeschwitzt war und ihn nicht länger gegen die Kälte schützte, wären sie gezwungen, irgendwo ein Lager aufzuschlagen und Feuer zu machen.

Der dicke Gudleif kniete nieder und steckte den Speer in den Boden. Sodann grub er die Hände in den frischen Schnee und formte mit leisem Knirschen einen Ball. Gudleif blickte zu Mandred, und der Jarl nickte. In weitem Bogen flog der Schneeball ins Gebüsch. Nichts rührte sich.

Mandred atmete erleichtert aus. Ihre Angst hatte die Schatten der Nacht lebendig werden lassen. Sie selbst waren es gewesen, die die Schneehühner aufgescheucht hatten!

Gudleif grinste erleichtert. »Da ist nichts. Das Mistvieh, das den Elch gerissen hat, ist längst über alle Berge.«

»Ein schöner Jagdtrupp sind wir«, spottete nun auch Ragnar. »Demnächst laufen wir noch vor einem Hasenfurz davon.«

Gudleif stand auf und nahm seinen Speer. »Jetzt spieß ich die Schatten auf!« Lachend stocherte er im Geäst des Buschwerks herum.

Plötzlich wurde er mit einem Ruck nach vorn gerissen. Mandred sah eine große, krallenbewehrte Hand den Speerschaft umklammern. Gudleif stieß einen schrillen Schrei aus, der abrupt in kehliges Blubbern überging. Der stämmige Mann taumelte zurück, beide Hände auf die Kehle gepresst. Blut spritzte zwischen seinen Fingern hindurch und rann über sein Wolfsfellwams.

Aus dem Gebüsch trat eine riesige Gestalt, halb Mann, halb Eber. Durch das Gewicht des massigen Eberkopfs stand die Kreatur tief vorgebeugt, und dennoch ragte sie mehr als zwei Schritt auf. Der Leib der Bestie war der eines kräftigen Hünen; dicke, knotige Muskelstränge zogen sich über Schultern und Arme. Die Hände endeten in dunklen Krallen. Die Beine waren unterhalb der Knie unnatürlich dünn und dicht mit grauschwarzen Borsten besetzt. Anstelle von Füßen hatte die Kreatur gespaltene Hufe.

Der Manneber stieß ein tiefes, kehliges Grunzen aus. Dolchlange Hauer ragten aus seinen Kiefern. Die Augen schienen Mandred verschlingen zu wollen.

Asmund riss den Bogen hoch. Ein Pfeil schnellte von der Sehne. Er traf die Bestie seitlich am Kopf und hinterließ eine feine rote Schramme. Mandred packte seinen Speer fester.

Gudleif aber brach in die Knie, verharrte einen Herzschlag lang schwankend und kippte dann zur Seite. Seine verkrampften Hände lösten sich. Noch immer quoll Blut aus seiner Kehle, und seine stämmigen Beine zuckten hilflos.

Blinde Wut packte Mandred. Er stürmte vor und rammte den Speer in die Brust des Mannebers. Ihm kam es so vor, als wäre er auf einen Fels aufgelaufen. Das Speerblatt glitt seitlich von der Kreatur ab, ohne Schaden anzurichten. Eine Krallenhand schnellte vor und zersplitterte den Schaft der Waffe.

Ragnar griff das Ungeheuer von der Seite her an, um es von Mandred abzulenken. Doch auch sein Speer vermochte nichts auszurichten.

Mandred ließ sich in den Schnee fallen und zog eine Axt aus dem Gürtel. Es war eine gute Waffe mit schmaler, scharfer Klinge. Der Jarl hieb mit aller Kraft nach den Fesseln des Mannebers. Das Ungeheuer grunzte. Dann senkte es den wuchtigen Kopf und rammte den Krieger. Ein Hauer traf Mandred an der Innenseite des Oberschenkels, zerfetzte die Muskeln und zersplitterte das silbergefasste Signalhorn, das an Mandreds Gürtel gehangen hatte. Mit einem Ruck riss der Manneber den Kopf in den Nacken, sodass Mandred in den Haselstrauch geschleudert wurde.

Halb betäubt vor Schmerz, drückte er mit einer Hand die Wunde zu, während er mit der anderen einen Streifen Stoff von seinem Umhang riss. Schnell presste er die Wolle in die klaffende Wunde und nahm dann den Gürtel ab, um das Bein notdürftig abzuschnüren.

Gellende Schreie klangen von der Lichtung. Mandred brach einen Ast vom Strauch und schob ihn durch den Gürtel. Dann drehte er das Lederband enger, bis es so stramm wie ein Fassband um seinen Oberschenkel lag. Der Schmerz ließ ihn fast ohnmächtig werden.

Die Schreie auf der Lichtung waren verstummt. Vorsichtig bog Mandred die Äste des Gebüschs auseinander. Seine Kameraden lagen leblos im Schnee. Der Manneber stand über Ragnar gebeugt und rammte ihm wieder und wieder die Hauer in die Brust. Mandreds Axt lag dicht neben der Bestie. Alles in ihm drängte danach, das Ungeheuer tollkühn anzuspringen, ganz gleich, ob er bewaffnet war oder nicht. Es war ehrlos, sich aus einem Kampf davonzuschleichen! Aber es war dumm, einen aussichtslosen Kampf zu führen. Er war der Jarl, er trug die Verantwortung für das Dorf. Deshalb musste er jene warnen, die noch am Leben waren!

Doch er konnte nicht einfach nach Firnstayn zurückkehren. Seine Spur würde das Ungeheuer direkt zum Dorf führen. Er musste einen anderen Weg finden.

Zoll um Zoll kroch Mandred rückwärts aus dem Gebüsch. Jedes Mal, wenn ein Ast knackte, blieb ihm fast das Herz stehen. Doch die Bestie scherte sich nicht um ihn. Sie kauerte auf der Lichtung und hielt ihr schauriges Mahl.

Als er aus dem Gebüsch herausgekrochen war, wagte es Mandred, sich halb aufzurichten. Ein stechender Schmerz fuhr durch sein Bein. Er...