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Der letzte Schattenschnitzer - Roman

Christian von Aster

 

Verlag Klett-Cotta, 2011

ISBN 9783608102284 , 312 Seiten

Format PDF, ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR

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Ehrt eure Magier. Das ist, worum ich euch bitten will. Und fragt ihr mich, warum, dann werde ich euch verraten, dass ich einen dieser Magier gekannt habe. Oh ja, ich glaube, wahrhaft von mir behaupten zu können, dass ich Jonas Mandelbrodt gekannt habe. Besser, als irgendjemand sonst ihn gekannt hat. Doch über ihn zu schreiben fällt mir nicht leicht. Zumal es das Letzte ist, was ich tun werde. Und kaum, dass ich damit begonnen habe, spüre ich bereits, wie die Kraft aus mir herausfließt, sehe, wie sie sich vor mir auf dem Papier zu Buchstaben formt. Ich will diese Kraft zu Worten verbinden, Sätze daraus formen, mit denen ich diese Seiten fülle.Auf ihnen will ich die Geschichte Jonas Mandelbrodts erzählen, damit die Menschen ihn nicht vergessen. Ich will, dass sie von dem erfahren, was sich hinter den Dingen verbirgt und das zu erwecken es nicht mehr braucht, als mit Augen zu schauen, die gewöhnlich nach innen blicken. Ihr werdet euch fragen, wer ich bin, dass ich mir anmaße, von solchen Dingen zu schreiben.Von jenen Dingen hinter den Dingen. Sie zu ergründen bedurfte es Generationen weiser Frauen, Zauberkundiger und Gelehrter, die sich ganz und gar, mit Geist, Herz und Verstand, in die Wirren kosmischer Geheimnisse warfen, um diesen eine Ahnung des Verstehens zu entreißen. Nichts bin ich von alldem.Weder ein Magier noch ein Gelehrter. Niemals könnte ich selbst eintauchen in jene Strudel kosmischer Rätsel. Doch ich bin ein Teil von ihnen gewesen und aus ihnen aufgetaucht. Und darum sind sie mir weniger fremd als euch. Ich habe mehr gesehen, als eure Federn, Stifte und Tasten jemals auf Papier festhalten können. Ich sah Menschen tote Materie erwecken; sah Menschen, deren Bücher mehr bewegten als der Zorn alter Könige! Selbst solche, die Blei in Gold verwandelten, habe ich gesehen. Ihnen allen war ich bestimmt zu dienen. Und war nicht ich es, so waren es andere meiner Art. Ich sah Menschen schlafende Ungeheuer in den Herzen anderer wecken und mit ihrer Hilfe die Welt verheeren. Städte sah ich aus dem Nichts entstehen, und zu Nichts sah ich sie wieder zerfallen. All das sah ich und will euch doch nur um eines bitten: Ehrt eure Magier! Jene, die aus Schrecken und Wundern Geschichten formen, welche ihr verstehen könnt. Diese Zauberer sind die Menschen, die euch die Sprache der Dinge - der sichtbaren wie auch der unsichtbaren - übersetzen. Sie sind es, die euer inneres Auge lenken. Und selbst, dass ich diese Worte in eurer Sprache niederzuschreiben vermag, verdanke ich einem jener Zauberer. Einem, wie es ihn nur einmal gab auf der Welt: Jonas Mandelbrodt, der mich euch verstehen lehrte. Ich habe viele gekannt, war zahllosen zu Diensten, der einzige aber, an den ich mich erinnern will, während ich vergehe, ist er. Und darum bitte ich euch, eure Magier zu ehren. Und während eure Geschichtsschreiber bemüht sind, die Würde eines Cäsar, die Größe eines Napoleon und die Schönheit einer Nofretete zu überliefern, glänzt all das doch bloß matt verglichen mit dem Zauber Jonas Mandelbrodts.Vielleicht ist mein Urteil über ihn getrübt. Getrübt von all den Jahren, die ich ihm zu Füßen lag, den Jahren, die er mir ein guter Herr war, bevor er mir mein Dunkel verzieh und mir schließlich ein Freund wurde.Anfangs sah ich zu ihm auf wie zu zahllosen anderen zuvor. Doch wirklich zu ihm aufschauen tat ich erst, als ich ihm in die Augen blicken durfte ... Aber ich will keine weiteren Worte verschwenden, weiß ich doch nicht, wie viele mir noch bleiben. Gewiss wäre manches eurer Bücher ein besseres geworden, wäre die Tinte seines Autors so begrenzt gewesen wie die meine ... Doch genug davon. Ich will beginnen mit meiner Geschichte, denn ich will, dass man eines weiß: Ich habe Jonas Mandelbrodt gekannt. 1. BUCH Salz Körper KRISTALLISIERUNG 1. Who knows, what evil lurks in the hearts of men? The shadow knows! IntrozurRadiohörspielserieThe Shadow (1930) Als Jonas Mandelbrodt auf die Welt kam, stand ein satter Vollmond am Himmel. Und doch war an seiner Geburt nichts von dem, was ich bei der Geburt von Männern empfand, die als Magier in eure Geschichte eingingen. Als Simon Magus in die Welt kam, be gann eine Sonnenfinsternis, die einen halben Tag andauerte und vier Könige vor Angst erzittern ließ. Ohne dass seine Mutter überhaupt von ihm gewusst hätte, entband sich Cagliostro inmitten eines Gewitters, das seine Ankunft wie mit Paukenschlägen begleitete. Houdini löste seine Nabelschnur sogar selbst, und als Crowley schließlich seine Augen öffnete, flammte ein neuer Stern am Nachthimmel auf ... So etwas geschieht, wenn die magisch Begabten in eure Welt kommen. Es heißt, dass die geheimen Kräfte des Kosmos den sieben ten Söhnen eurer siebenten Söhne innewohnen. Diese, so sagt man, sind die Magischen unter euch Menschen. Jonas Mandelbrodt hingegen war lediglich der Sohn von irgendwem, der ein Sohn von sonstwem gewesen war. Doch dessen ungeachtet begann er schon vor seiner Geburt, die Welt auf magische Weise zu verändern: So rauchte zum Beispiel seine Mutter mehr als ein MayaSchamane vom Stamm der Quichése, die das Rauchen einst erfunden hatten. Kaum aber, dass sie von dem heranwachsenden Kind in ihrem Leib erfuhr, da hörte sie auf.Von einem Tag auf den anderen. Und noch mehr vollbrachte Jonas, lange bevor er überhaupt zur Welt kam: Dadurch nämlich, dass er im Leib seiner Mutter heranwuchs, veränderte er auch seinen Vater. Kaum nämlich, dass dieser von Jonas erfuhr, löste er sich in Luft auf. Das haben Väter schon immer getan. Einige zumindest. Und diese sind, wie ich zu behaupten wage, nicht die besten ihrer Art ... Dreitausend Gramm wog der kleine Jonas, als er ankam in eurer Welt. Und der fehlenden Zeichen wegen hätte ich schwören können, dass keine Unze an ihm magisch war ... Und auch der Ort seiner Geburt, die grauen Reihenhausabgründe einer deutschen Kleinstadt, besaßen keinen wirklichen Zauber. Hier warteten auf ihn das Licht der Welt, das Gesicht seiner Mutter und ein Hund, der zu alt zum Bellen war. Und all das sah Jonas mit den Augen eines Kindes, das unfertig und in der wirklichen Welt noch nicht ganz angekommen war. Das liegt daran, dass euer Körper in beinahe allem schneller ist als euer Geist. Wie schnell ist die Liebe gemacht, ein Buch gelesen oder ein Leben gelebt, ohne dass der Geist sich überhaupt auf den Weg begeben hat ... Der Körper Jonas Mandelbrodts war also in der Welt angelangt, in die seine Augen ohne Ziel und Sinn hineinstarrten. Und wenn ich ihn in jenen ersten Tagen schreien hörte, hätte ich einmal mehr schwören mögen, dass er nichts Besonderes war und nichts an ihm magisch ... Doch einem Menschen zu dienen, den die Götter ausersehen haben, nichts Besonderes zu sein, ist alles andere als schlecht.Wir sind, was wir sind. Eure Schatten. Nicht weniger und nicht mehr, und wir dienen demjenigen, an dessen Fuß das Schicksal uns heftet.Wer immer es ist. Und es ist ein angenehmes Dasein, wenn niemand auf die Idee kommt, uns zu formen, zu befragen oder zu Dingen zu bewegen, die wider unsere Natur sind. Auf eben solch ein gewöhnliches Dasein, abseits von Magiern, Alchemisten und Schattensprechern, richtete ich mich ein. Ich wollte mich treiben lassen in eurem entzauberten Zeitalter der Atome und künstlichen Stoffe, wollte durch eure Straßen fließen, stumm und unbemerkt, der Diener eines Menschen, der ebenso gut jeder andere hätte sein können ... Hund und Mutter würden mir bei diesem Dasein zur Seite stehen. Der Hund, ein Irish Setter, trug den Namen Argos, und die Mutter hieß Ruth. Den Namen des Hundes hörte ich jedoch öfter, denn da war niemand, der die Mutter gerufen hätte. Beinahe jedenfalls, denn es gab noch ihre Eltern. Die wohnten ein Haus weiter und schauten nun, kaum dass ihre Tochter sich von der Geburt erholt hatte, beinahe täglich vorbei, um nach ihrem Enkel zu sehen und nach einem neuen Schwiegersohn zu suchen. Ihre alten Gesichter erschreckten mich, wenn sie über dem Bettchen meines Herrn auftauchten. Ich kannte Menschen dieser Art. Mit jedem Zentimeter, den Jonas wuchs, würden sie bei ihm sein. Und sie würden eine Antwort parat haben. Auf jede Frage, die er sich stellte, während er wuchs. Ihre Antwort. Und sie würden ihm beibringen, ihr Leben zu leben, so dass mir nicht mehr zu tun blieb, als mich von ihm durch die Welt zerren zu lassen und zu schlafen. Kaum dass ich mich mit diesem Gedanken abgefunden hatte, erschrak ich weit weniger beim Anblick der Alten, die das Haus, das Auto und so gut wie alles in jenem Reihenhaus bezahlt hatten. Abgesehen von dem Hund, der die beiden nicht leiden konnte. Tiere sind in solchen Dingen ähnlich feinfühlig wie unsereiner. Sie benutzen ihr inneres Auge, und es bedarf viel, dies zu blenden ... Während der ersten Monate unseres gemeinsamen Daseins hatte ich nicht mehr zu tun, als mich an der Seite meines Herrn an der Brust seiner Mutter festzuklammern. Ich kannte seinen vorbestimmten Weg, hatte im Geist die Grenzen seiner Zukunft abgesteckt und wartete auf die ruhigen Wogen eines belanglosen Menschenlebens. Dann aber klärte sich eines Tages der Blick meines Herrn, und er war wirklich angekommen. Mit einem Mal existierte da jemand hinter seinen Augen. Das aber war an sich nicht das Verwunderliche. Auch dass er mich nun wahrnahm war alles andere als seltsam. Selbst dass er bei meinem Anblick erschrak war nicht ungewöhnlich. Sogar, dass er deswegen schrie, war es nicht. Dieser Schrei aber war wie keiner, den ich je zuvor gehört hatte: Ein Ruck ging durch den Leib des Kindes, und Jonas schrie aus Leibeskräften, derart laut und markerschütternd, dass es mir schien, als ob eine unbändige Macht mich von ihm fortreißen wollte! Im Stimmchen jenes Säuglings lag eine Kraft, dass sein Schrei den Posaunen Jerichos zur Ehre gereicht hätte! Und wenn auch nicht das Haus zu Schutt und Asche zerfiel, so eilten doch Hund und Mutter bestürzt herbei und sahen verwundert, wie das Kind in seinem Bettchen vor mir zu fliehen versuchte. Es versuchte davonzukommen, sich loszureißen von seinem Schatten, mich hinter sich zu lassen und mich in die gegenüberliegende Ecke seines Bettes zu bannen. Inzwischen bin ich mir sicher: Hätte seine Mutter nicht nach ihm gegriffen, und wäre ihm die Wärme ihrer Brust nicht ein Grund gewesen, von mir abzulassen, es wäre ihm gelungen. Er hätte mich abgestreift, und ich hätte mich, meiner Bestimmung beraubt, in den Kissen jenes Bettes verloren. Ein namenloser Schatten im Nirgendwo, dazu verdammt, bis zum Tod seines Herrn in der Welt umherzuirren, ohne zu irgendetwas oder irgendwem zu gehören ... Dies war also meine erste Begegnung mit jener unglaublichen Kraft, die Jonas Mandelbrodt innewohnte; die zu vervollkommnen er sein ganzes kurzes Leben brauchen würde und die mich bald schon all die großen Magier und Alchemisten vergessen lassen würde. Der Hund war dabei der Einzige, der mir mein ungläubi ges Staunen ansah. Denn während sein linkes Auge komplett blind war, sah er mit seinem inneren doch derart viel, dass ich lieber ihm als dem größten Teil der Menschheit gedient hätte. Ich hoffe, ihr werdet mir verzeihen, dass ich von eurem Leben weder viel verstehe noch halte, aber jener Hund und ich brauchten nach diesem Ereignis nur wenige Tage, um uns zu verständigen. Gemeinsam fällten wir den Entschluss, Jonas Mandelbrodt als unser Heiligstes zu betrachten und ihn zu lieben, wie man eine Menschenseele, die noch keine Gelegenheit hatte, sich zu versündigen, nur lieben kann.Wenn ich schlief, wachte Argos, wenn er schlief, wachte ich, und Jonas Mandelbrodt genoss den Schutz guter Mächte. Er gewöhnte sich an mich. Ebenso wie er sich an Brust, Brei und Mittagsruhe gewöhnte, die seit ehedem das Leben eurer Neuankömmlinge bestimmen. Mit dem mittäglichen Schlummer tat er sich schwerer als mit mir, denn Jonas Mandelbrodt wollte wissen. Kaum dass in seinen Augen jene kleine Ahnung des Bewusstseins leuchtete, da huschte sein Blick umher und saugte an der Welt, als ob er sie ganz verschlingen wollte. Mitunter fielen seine Augen dabei auch auf mich. Und wenn im Blick eines Säuglings so etwas wie Irritation zu liegen vermochte, dann war er stets, sobald er mich erkannte, eben dies: irritiert. Doch recht bald begriff er, dass ich da war, blieb und sein würde. Dass er und ich durch ein Band miteinander verbunden waren, das mich ihm näher noch als seine Mutter sein ließ. Dennoch versuchte er, kaum dass er sich die niederen Weihen der Fortbewegung erschlossen hatte, immer wieder vor mir davonzukrabbeln. Auch wenn er meine Existenz akzeptieren musste, so mochte der kleine Jonas es dennoch nicht, mich sehen zu müssen. Ich schien ihn zu stören, ihm zu missfallen. Und als er begriff, wie sich unsereiner zum Licht verhält, wandte er mir den Rücken zu und ließ mich, wann immer er konnte, hinter sich fallen. Diese einfachen Gesetze der Schatten erkannte er, bevor er noch sein erstes Wort gesprochen hatte. Beinahe als wäre ich das Problem gewesen, das zu lösen er seine gesamte Energie aufgewendet hätte.Als hätte er, bevor er zu wachsen begann, zunächst einmal mich aus dem Sinn haben müssen.Während er aber versuchte, mich hinter sich zu lassen, blickte er doch von Zeit zu Zeit über seine Schulter zurück, um sich meiner zu versichern. Es schaudert mich schwärzlich, wenn ich daran zurückdenke. Denn nie zuvor war mir ein Kind begegnet, das die Gesetze der Schatten noch vor euren Worten erlernte ... Von jener außergewöhnlichen Kraft jedoch, die mich an jenem Abend fast von seinem Fuß gerissen hätte, habe ich seit jenem Schrei niemals wieder etwas gespürt. Jonas Mandelbrodt war ein gewöhnlicher Knabe. Auf eine sonderbare Art gescheit, aber doch nicht mehr als jeder andere von euch. Geboren, um zu sterben und die Zeit dazwischen damit zu verbringen, einfach zu existieren. Und auch wenn ich an jenem Abend geglaubt hatte, diese Kraft zu erahnen, so schien Jonas mir nun allenfalls noch ein leeres Blatt, eine Projektionsfläche, auf der man - wenn man wollte - Dinge sehen konnte. Ein Knabe, der später zum Hohepriester taugen würde, ein Verführer. Einer, der womöglich tatsächlich etwas in sich trug, das aber eben nicht mehr als nur möglich war ... Während seine Mutter bald wieder mit dem Rauchen an fing, wuchs Jonas Mandelbrodt heran. Und sobald er es selbst nicht mehr tat, begannen andere, bei seiner Mutter zu schlafen ... Als die Eltern jener Ruth den ersten dieser Männer trafen, hielten sie ihn, einem natürlichen Reflex folgend, für ihren neuen Schwiegersohn. Bis der nächste kam, der bald darauf schon vom übernächsten abgelöst wurde. Und dann erschien in ihrem Haus schließlich einer, der einen ganz und gar hässlichen Schatten hatte. Kaum dass ich ihn erblickte, schmeckte ich schon das Übel in ihm. Seine Augen glänzten von Schnaps und Gier.Von all ihren Männern ist er der Einzige, der mir im Gedächtnis blieb. Ich erinnere mich noch, wie er dort stand. Ein lüsterner, trunkener Faun, der hinter Jonas' Mutter herstakste, als sie ihn und mich zu Bett brachte. Im Schatten jenes Fauns vibrierte seine Stimme, die kaum mehr als ein rauhes, geiles Krächzen war. »Komm Süße, lass den kleinen Scheißer schlafen, und wir gehen rüber ins Bett ...« »Oh ja, Baby, genau das sollten wir tun ...«, hauchte sie zurück, und auch in ihren Augen glänzte Gier. Sie wollte nicht bloß Mutter sein, war zu jung und zu hübsch, als dass sie auf ihrem Schoß bloß Kinder hätte wiegen wollen. Begehrt wollte sie sein, erobert, genommen, geliebt. Und doch beugte sie sich liebevoll zu uns herab, um ihren Sohn auf die Stirn zu küssen und ihn zuzudecken. Der brünstige Stier in ihrem Rücken aber scharrte, die Flasche in der Hand, ungeduldig mit den Füßen. Er umfasste ihre Hüfte und zerrte sie fort, während er gierig raunte: »Lass ihn liegen! Du hast was Wichtigeres vor ...« Sie lachte auf. Jonas hatte begonnen zu schreien. Sie wollte kurz zurück zu uns und hielt das Drängen des Kerls für einen Scherz. Bis er sie an ihren Haaren aus dem Kinderzimmer schleifte. Und dabei schmeckte ich seinen Schatten: bitter, fahl, verschwitzte Fantasien und vergorener Samen. Eine widerliche Mischung, nach der auch seine Stimme klang. »Ich sagte, lass das Balg! Du kannst ihm seinen Arsch immer noch pudern, wenn ich mit deinem fertig bin.« Während er sie durch den Flur schleifte, lachte sie noch immer. Doch nun klang es gequält. Und durch die Schatten des Hauses hörte ich seine widerlichen Gedanken. Was war ihm dieses Kind? Nicht mehr als ein Hindernis, das zwischen ihm und ihr stand. Ich konnte seine Lüsternheit spüren, die dieses Hindernis nicht duldete. Er schleifte Ruth, die Flasche in der Hand, zum Bett und warf sie darauf. Er konnte es nicht erwarten, dass sie sich ihm hingab. »Jetzt werde ich dafür sorgen, dass du die kleine Kröte vergisst ...« Mit diesen Worten öffnete er, während Jonas weiter schrie, lächelnd seine Hose. Nein, er war nicht der Erste in ihrem Leben, nicht einmal in diesem Monat. Doch seit sich sein Schatten mit mir vereint hatte, ahnte ich, dass er womöglich der Schlimmste war ... Und dennoch hatte ihr Schatten mir verraten, worauf sie hoffte. Trotz allem. Trotz seiner groben Art. Sie erhoffte sich, dass dieser Mann blieb, dass er Geliebter und Vater werden würde, nicht immer so viel trank, auch gute Seiten hatte und in Wahrheit kein schlechter Mensch war. Um ihn zu halten, würde sie alles mit sich tun lassen. Alles, so wie sie es immer tat, bevor man sie erneut verließ ... »Oh ja, Baby, lass mich vergessen, lass mich alles vergessen.« Eilig schälte sie sich aus ihrem TShirt und ihrer Hose. Er grinste schmutzig. »Genau das werde ich tun. So wie es mir gefällt, Kleine.« Dann zeigte sie ihm, dass sie bereit war für ihn, und ich hörte ihren Schatten lüstern wispern ... Dieser Mann aber war nicht, was sie sich erhoffte. Konnte es nicht sein. Ich hatte seinen Schatten gespürt. Er war ein lüsterner Bock, gesegnet mit dem Geist eines Wurmes und dem Jähzorn eines Berserkers. Unglücklich und unzufrieden. Ein Mann, der, wann immer er konnte, seine Wut und Verzweiflung mit den Fäusten hinausschrie. »Oh ja, ich werde dich gleich etwas spüren lassen, das du dein Lebtag nicht vergisst, du kleines Biest!« Mit diesen Worten drehte er Ruth wüst zu sich herum. Ich kenne eure Betten, euren Schweiß, obwohl ich nur selten gerne zugegen bin, wenn ihr euch liebt. Ich habe zwischen Laken gezuckt, wo ich wahrhaftig Liebe schmeckte. Dieser Nacht jedoch würde das nicht geschehen. Ein triebigtrunkener Faun, dumm bis unters Schädeldach, und eine Frau, die sich einen Vater und einen Mann wünschte. Einer, der nicht geben kann, was er will, und eine, die nicht bekommen wird, was sie sich wünscht. Seit Urzeiten schon entsteht aus solchen Zutaten ein schlimmes Gift ... Er mühte sich mit ihr, doch konnte er seiner Lust nicht seinen Willen aufzwingen. »Verdammt, was zum Teufel ...« Schließlich ließ er von ihr ab. Wütend und frustriert. »Zur Hölle noch eins! Das kann doch nicht wahr sein!« Er schleuderte die Nachttischlampe gegen die Wand, und ich begann, Angst um die Mutter meines Herrn zu haben ... Doch auch ich irre bisweilen. Denn es war keinesfalls sie, um deren Unversehrtheit ich fürchten musste ... Sie legte ihre Arme um ihn. Er aber stieß sie fort, sprang auf und zischte wütend: »Es ist diese kleine Drecksratte! Das Balg ist schuld ...« Mit diesen Worten zog er den Gürtel aus seiner Hose und setzte sich schwerfällig in Bewegung. Ich sah Jonas schlafen, die kleinen Äuglein geschlossen, sein Geist bereits auf dem Weg in die Welt der Träume, als es mich kalt durchfuhr. Die Schatten im Flur wisperten unheilvoll, dann öffnete sich die Tür zum Kinderzimmer, und das Licht aus dem Flur warf den Schatten des schwitzenden Fauns in den Raum! Kaum, dass dieser mich streifte, als er über das Bettchen fiel, wusste ich, um wen ich fürchten musste. Der Alkohol hatte die Lenden des Fauns welk werden lassen. Er hatte sich umsonst gemüht über ihr, auf ihr, in ihr. Hatte versagt. Versagt, wie er immer versagte. Doch es war nicht seine Schuld. Nein, er war sicher, dass es an dem Balg lag, das Balg, das den ganzen Abend geschrien hatte, das mehr Aufmerksamkeit bekommen hatte als er, das Drecksbalg dort in seinem Bettchen, das ...Er wankte auf uns zu und schlang das eine Ende des Gürtels eng um seine Faust. »Na warte, du Dreckszwerg. Ich werde dir zeigen, was du davon hast, wenn du mir meine Nacht versaust!« Ich spürte seinen dumpfen Zorn, sah seine zitternden Fäuste. Er wollte zuschlagen, seine Faust mit dem Gürtel zwischen den Kissen und in den kleinen Körper versenken, seinen Rivalen bestrafen, vernichten, die Mutter für sich haben! Wenn ein Schatten Furcht empfinden kann, dann ergriff sie mich in diesem Moment. Eine kalte, hässliche Furcht war es, und ich schrie aus meinem dunkelsten Inneren heraus, in der Hoffnung, dass etwas geschehen würde, irgendetwas, ein Wunder womöglich, das diesem Unhold Einhalt gebot. Und dieses Wunder geschah. Mein Herr schlug erschrocken die Augen auf. Er hatte mich gehört! Jonas Mandelbrodt hatte mich gehört! Dann erblickte er den Unhold, begann ebenfalls zu schreien, und der Faun stutzte für einen kurzen Moment. Dann wollte er auf das Kind zustürzen, es zum Schweigen bringen, da aber hatte seine Mutter es längst gehört. Einer Furie gleich fegte sie ins Zimmer, ihr Schatten ein Zeugnis ihres Zorns. »Lass die Finger von meinem Sohn! Du verdammter Mistkerl!« Der Faun starrte sie entgeistert an. Sie aber war noch nicht fertig: »Glaub mir, ich werde dir die Augen aus dem Schädel kratzen und dir jeden Knochen ein zeln brechen, wenn ...« Er wollte lachen, sich ihr entgegenstellen. Dann aber hatte sie plötzlich ein Messer in der Hand. Und damit jagte sie den Kerl tobend und fluchend hinaus. Es gelang ihm mehrfach, sie zu schlagen, sein trunkener Zorn aber war nichts gegen die Wut einer Mutter. Sie spürte nichts davon. Er war stärker als sie, viel stärker, doch als er sah, dass sie schlimm blutete und dennoch weiterhin wild entschlossen war, ließ er sich - wie gelähmt von ihrer Wut - durch den Flur jagen. Er spürte, dass sie ihn getötet hätte. Notfalls sogar mit bloßen Händen. Ich hörte die Schreie im Flur verklingen, und ganz lang sam schwand mein Entsetzen. Jetzt erst begriff ich, was überhaupt geschehen war. In diesem Zimmer. Diesem Kinderbett: Jonas Mandelbrodt hatte mich gehört, meinen Schrei, den Schrei eines Schattens, einen unwirklichen tonlosen Schrei aus Zwielicht und geronnenem Dunkel, beinahe nicht vorhanden und schier unhörbar für ein gewöhnliches Menschenohr! Keiner von euch hat je von Geburt an unsere Sprache gesprochen. Keiner vermochte, uns ohne Studium der alten Schriften zu verstehen! Wir sind für euch nicht mehr als ton und inhaltslose Schemen, leere Abbilder. Dass Jonas mich heute Nacht gehört hatte, schien mir nicht weniger als ein Wunder zu sein. Ungläubig ruhte mein dunkles Auge auf dem Kind, das mich keck musterte, während seine Mutter den trunkenen Peiniger von unserer Schwelle vertrieb. Kaum, dass der Unhold fort und die Tür in seinem Rücken verschlossen war, kam sie wieder zu uns. Sie weinte. Um ihr rechtes Auge wucherte ein dunkler blauer Fleck. Aber als sie Jonas sah, lächelte sie wieder. Ein stilles Lächeln, gequält und mit dem bitteren Beigeschmack enttäuschter Hoffnung, doch in seinem tiefsten Wesen glücklich. Sie nahm uns auf den Arm und drückte Jonas eng an sich. Der Mann, an dessen Seite sie in dieser Nacht schließlich einschlief, war klein. Das Glück aber, das sie dabei umfing, war größer als jenes, das die erwachsenen Männer dieser Welt in ihr hätten wecken können. Und ebendas war es, was ich spürte, als jene beiden in den Schlaf glitten und auch mir ein wenig Ruhe zuteil wurde. Und während ich schwand, wusste ich, dass sich von heute an alles verändern würde. Denn in dieser Nacht hatte ich erkannt, dass mein Schützling eine unglaubliche Gabe besaß. Ich ahnte, dass er womöglich eine Aufgabe hatte, zu etwas Großem ausersehen war, und ich wusste, dass ich eherne Regeln verletzen würde. Ich würde tun, was noch nie einer von uns getan hatte. In dieser Nacht beschloss ich, Jonas Mandelbrodt zu stärken und vor allem Unbill zu schützen. Entgegen aller uns bindenden Gesetze würde ich ihn, meinen Herrn, Dinge lehren, die wir Schatten gewöhnlich für uns bewahren, und die zu erfahren einige eurer besten Magier ihre Seele gegeben hatten. AmEndederWelt,imHerzendesKaukasus,amFußeinerTreppe,vorUrzeitenvonjenenindenFelsgeschlagen,diedenSchattenalsErstegedienthatten,lageinRauminvölligerDunkelheit. AndiesenOrt,dietiefsteHöhlederWelt,warnochnieeinSonnenstrahlgedrungen,hierhattenochnieeinLichtgeschienen.DenndieseHöhlewareinzigundalleindafürgeschaffenworden,dasssichinihremDunkelalteSchattenmitsonderbarenSchattenverbanden.Sotatensieesvonaltersher.DieSchattenmagierallerSchulenundTraditionen-werimmerdieSprachederSchattenbeherrschte,inihnenwandelteundihreGeheimnissekannte-kehrtenhierein.Frühereinmalwarensiemehrgewesen,inaltenZeitensogarviele.DochheutewieeinstformtensiedenRatderSchatten,dessendunklesAugeaufdenGeschickenderWeltruhte. Hier,indiesemRaumausNacht,amFußderTreppeamEndederWeltversammeltensichdieMitgliederjenesRates.MochteinderWeltaucheinerüberdemanderenstehen,hierwarensiegleich,hiermischtensichihreSchattenundesgabkeineGeheimnissemehr.Dennwaseinervonihnenwusste,daswussteauchseinSchatten,undinebendiesenmischtesichdasWissendeseinenmitdemderanderen. AuchindieserNachtfandensieihrenWegindieHöhle. FünfSchattenglittendieTreppehinab.FünfSchatten,geformtausMachtundDunkel.Schatten,diesichnichtmitdengewöhnlichenvermischten.DieSchattenderGroßmeister. SieergossensichindasDunkelderHöhle,erfülltendasundurchdringlicheSchwarzmiteinerAhnungvonbeinahenochschwärzerscheinendem,schemenhaftemLebenundvermengtensichkraftihresWillenszueinereinzigenvollkommenenSchwärze.UnddannbegannendieSchatten,leiseundmitunhörbarenStimmenineinerSprachezuraunen,welchediewenigstenverstanden.SieflüstertenvonDingen,diedenmeistenaufewigverborgenbleibenwürden.»EinSchattenhatbeschlossen,sichüberdieOrdnunghinwegzusetzen...«,ergossendieGedankendeserstensichinsDunkelderübrigen.DieStimme-dennumeinesolchehandelteessich,obwohlkeinerleihörbareLaute geäußertwurden-klangseltsamundhatteetwaseigentümlichIrritierendesansich,währendsiederartkaltundscharfwar,dassesschien,alskönnemansichmitihrdiePulsadernaufschneiden. »Erwillihnlehren«,mischtesichruhigundbedachtdieStimmeeinesweiterenein. »EinenKnaben!«,wisperteeinedritte,wärmeralsdiebeidenzuvor,eherweiblichklingend. »VonniederemBlut...«,kristallisiertesichzuletztderGedankedesviertenGroßmeistersausderSchwärze.Brüchigklangesundalt,wievoneinemGreisgedacht. »DukannstdieReiheseinerAhnenbisindieSteinzeitabschreitenundwirstnichteineAhnungdessenwittern,wasjeneausmacht,mitdenenwirunsereGeheimnisseteilen...« »AberwenndanichtsMagischesanihmist,weshalb beschließteiner,derbereitszuFüßengroßerundweiserHerrengedienthat,einessolchenwegenseinDaseinaufsSpielzusetzen?« »ErhältihnfüreinenAuserwählten«,rauntedieweiblicheStimme. »Ha,wenmannichtallesschonfürauserwählthielt!«,dachtederAltegehässig. »InunseremSinne«,ergänztedieFrau.»ErwilldieMenschendazubringen,sichihremSchattenzuzuwenden.« »MenschundSchattensindentzweit.NiemandaußerunsweißdieEinheitzuleben.SieahnenihreSchattenjanichteinmalmehr,geschweigedenndas,wassichinihnenverbirgt«,drangdiescharfeStimmeinsDunkel. DieSchattenderGroßmeisterumfuhren,durchmischtenundverändertensich,tonlosflüsternd,Gedankentauschend,dievonihrenHerrenTausendevonKilometernentferntgedachtwurden. DiesefünfSchattenwarendieEinzigen,diesichnichtmitanderenmischten,wennsieesnichtwollten;die Einzigen,diedenWillenihrerHerreninsichtrugen.SiewarenderRatderSchatten.DieletzteInstanz,dieüberdasGleichgewichtzwischenSchattenundMenschenwachteunddiealteMagiedesZwielichtsbewahrte. NunstanddasgewöhnlicheAbbildeinesMenschenimBegriff,dieältestenallerGesetzezubrechenundseinemHerrndie GeheimnissederSchattenzuoffenbaren.UnddamitgefährdeteesdasGleichgewichtderDinge... »WennerdiesemKnabenunsereGeheimnisseverrät,solltemanihmEinhaltgebieten,ihnvondenFüßenseinesHerrnzerrenundimNimbuszuSchwarzzerreiben,bevornochSchlimmeresgeschieht«,flüstertederAlte. »Wennerihnweiterlehrt,wirdderKnabeamEndenochhierinunsererMitteweilen«,gabdiezweiteStimmezubedenken. »HateinerdenWächterbefragt?«,wolltedieweiblicheStimmewissen. »Wonach?ObdiesemFreveleinhöhererWilleinnewohnt?«,schaltsiescharfdieerste. »ErweißmehralsdieOrakel,erhatanderQuellegeruht,imSchattenGottesgestanden«,entgegnetesiedemDunkelimDunkel. »AlsernochaufdieErdefiel...«,stimmtederBedächtigezu. »IhrwisstauchohnedenWächter,wasdieZeichenflüstern.DieZeitdervergorenenSchattennaht,derAufstandderKnechte,dieSchmähungderHerren«,zischtescharfundhartdieStimmedeserstendazwischenundvibrierteimDunkel. »Jedervonunsweißes.Unddochverstehtkeiner,wasesbedeutet«,wispertederRuhige. »Nur,dassesdieWeltderSchattenverändernwird«,mischtedieStimmederFrausichinsSchwarz. »VonGrundauf«,ergänztederAlte. »VielleichthatdieserKnabeetwasdamitzutun...«,dachtederRuhigeweiter. »Wirsolltenihnbeobachten«,regtedieweicheStimmederFrauinmittendesSchwarzan.UndderAltestimmteihrzu. »GebtihmZeit.WaserdiesesKindineinemJahrlehrenkann,mussunskeineAngstmachen.Waserinzweienlehrt,wirdunsnichtgefährden,undselbstindreienwirdderKnabeunsnichtebenbürtigsein.SelbstdannbleibtnochgenügendZeit,seinenSchattenabzutrennenundseineKnochenzuzerschmettern,wennesseinmuss.« »LassenwirdieSacheschwelen,bevordasFeuerausbricht...«,flüstertederharteToninihrgemeinsamesDunkel. »SelbstwenneinFeuerdarauswird,kommtesnochimmerdaraufan,wasesschließlichverbrennt«,gabderAltezubedenken. »Dusprichst,alsgäbeesDinge,diedugernbrennensähest.« »Feuerreinigt.Dashatesschonimmergetan.« »Dashabenauchanderegesagt.UndihreFlammenhabenimLaufderJahrhundertesowohldieBücherderWissendenalsauchdieAngehörigenderaltenSchuleverzehrt.« UnddannklangendieWortejenesSchattens,derbisdahingeschwiegenhatte,durchdasDunkel.UndseineStimmeließdieFinsterniserschaudern:»WerimmerdieseFeuerentfachteundwasimmersieverbrannten-wennmandenZeichenglaubenkann,dannwarendieFlammenallervergangenenFeuerkaltimVergleichzudenen,diebaldlodernwerden.Unddaswisstihrebensogutwieich...« John Dee ALCHIMIA UMBRARUM (1604) Kapitel II (Seite 32 ff.) VOMWESENDERSCHATTEN Den meisten Menschen wird ihr Schatten, so wie im ersten Kapitel dieser Schrift beschrieben, nicht mehr scheinen als ihr eigenes schemenhaftes Abbild, das einzig dem Lichte und den Gesetzen der Logik folgt. Da aber du, als Leser dieses Buches, kaum zu jener Mehrheit gehören wirst, will ich es wagen, dich mit der Wahrheit über deinen vermeintlichen Schemen zu konfrontieren, der doch weit mehr ist als ein bloßes Bild deiner selbst ... Von der ersten Stunde seines Daseins auf Erden begleitet der Schatten seinen Herrn. Was immer der eine erlebt, muss auch der andere erdulden. Keinem Menschen, der nicht in Kenntnis der großen Geheimnisse der Magie lebt, ist es jemals gelungen, seinen eigenen Schatten zu täuschen oder zu belügen. Kraft ihres scheinbar untrennbaren Bandes weiß der Schatten um die Gefühle und Gedanken dessen, der ihn wirft. Er liest in ihm wie in einem offenen Buche. Und dabei sam melt er alles, was seinem Herrn widerfährt. Selbst wenn dieser vergisst, wird doch sein Schatten sich am Ende seines Lebens an alles erinnern, das jemals im Lauf dieses Lebens geschah. Nach dem Tode des Herrn wird er sich aufmachen, all das mit den anderen seiner Art zu teilen. Denn jeder Schatten, der existiert, ist eine Mischung aus allen Schatten, die jemals existierten, und sein wahres Wesen gewinnt er an einem Ort, der dem Menschen auf immer verborgen ist. Diesen Ort nennen die Eingeweihten Limbus. Ich gedenke auf ihn zu einem späteren Zeit punkt noch einmal näher einzugehen. In jenen Ort geht der Schatten mit dem Tode seines Herrn ein. Sobald die Seele eines Menschen den Körper verlässt, verlässt ihn auch sein Schatten. Solange sein Herr aber lebt, ist der Schatten an ihn gebunden und teilt in dieser Zeit auch sein Wissen, Denken und Fühlen. Und wann immer ein Schatten sich mit einem anderen mischt, sie einander durchdringen, fließt das Wissen des einen in den anderen hinüber. Was Dichter, Denker und Maler Inspiration nennen, ist nicht mehr, als zur richtigen Zeit im richtigen Schatten zu weilen. Denn durch diese dunklen Begleiter fließt alles, was Gedanke, Wissen und Wahrheit ist. Will einer wirklich ein Geheimnis bewahren, so muss er erst seinen Schatten zügeln lernen, dass dieser nicht weiterträgt, was sein Herr zu verbergen trachtet. Und ist die Grenze zwischen Schatten und Mensch von Natur aus nur nach einer Seite durchlässig, so gibt es doch auch solche, die mit ih rem Schatten zu reden vermögen. Und diese wenigen heißt man in den Kreisen der Magier Schattenkundige. Zwei Schulen gibt es, von denen die ältere dieser Tage beinahe ausgestorben ist. Statt der alten Schattenschnitzer sind es heute jene, die sich Schattensprecher nennen, die im Bündnis mit der Kirche die alten Künste und die Sprache der Schatten bewahren. Diese Sprache zu beherrschen ist vonnöten, wenn man seinen Schatten formen oder beherrschen will. Die meisten Eingeweihten dieser Sprache befleißigen sich ihrer im Geheimen. Denn einen, der mit seinem Schatten spricht, erachten die Menschen heute wie ehedem als verrückt und verwechseln, wie so oft, Wissen mit Wahnsinn. Dabei öffnet die hohe Kunst der Schattenmagie dem Eingeweihten ungeahnte Räume. Großmeister wissen gar ihren Schatten besser zu nutzen als ihren eigenen Leib. Ihre Schatten unterstehen allein ihrem Willen und mischen sich nicht mit denen gewöhnlicher Sterblicher. Großmeister wie diese, die wahrhaft mächtig sind in den Belangen des Schattensprechens, gibt es nur wenige. Sie verstehen das Wissen der Menschen aus ihnen herauszuziehen und die Greuel der Folter, wie sie der spanische Dominikaner Thomas de Torquemada für den Leib des Menschen niederschrieb, selbst noch auf seinen Schatten anzuwenden ... 2. Habent sua fata libelli. (Bücher haben ihre Schicksale.) LateinischesSprichwort AlsEdwardLysanderMeredithimseligenAltervondreiundneunzigJahreninseinemLondonerStadtsitzentschlief,riebensichdieLeiterdernamhaftestenBibliothekenEuropasbereitsdieHände.DennjenesGebäudeimvornehmenEastEndwarwenigereinWohnhausalsvielmehreineliterarischeSchatzkammer.AbgesehenvonseinemKellerbeherbergteMeredithHallaufüberdreiStockwerkeninendlosenFlurenundzigZimmernRegaleaushellem,rotemKirschholz.SieerstrecktensichvonderEmpfangshallebisaufdenDachbodenundbogensichunterdemGewichtunzähligeralterBücher.EingedenkderlegendärenBibliothekvonAlexandriapflegtenfanatischeBüchersammlerdasHaushintervorgehaltenerHandehrfürchtigNew Alexandria zunennen,waresdochnichtwenigeralseineeinzigeriesigeBibliothek,wieessieaufderWeltkeinzweitesMalgab. DerverstorbeneEdwardLysanderMeredithwareinSammlergewesen,undseinEhrgeizgrenzenlos.ImLaufedervergangenensiebzigJahrehatteerdieSammlungenChurchillsunddesBuckinghamPalastesaufgekauft.AufderSuchenachbedeutendenBüchernhattenseineMittelsmännerweltweitMuseen,UniversitätenundAuktionengeplündert.UnddementsprechendhatteMeredithamEndeseinesLebensbeinahejedeswertvolleBuchbesessen,dasjeirgendwozumVerkaufgestandenhatte,undgenaugenommenaucheinige,dieniemalskäuflichzuerwerbengewesenwaren.DennochhatteerletztlichnichtalleseineZieleerreichenkönnen:EinigewenigeBücherhatteerniezuGesichtbekommen.VorallembedeutendeWerkederpraktischenMagie,umdieersichzwarmehrfachbemühthatte,dieabervonEingeweihtengehütetwurden,diesichnichtumMeredithsGeldgescherthatten.UndsowarauchseingrößterTraum,nämlichvorseinemTodeinmaldasunmöglicheBuch,dasTintenlose,dielegendäreAlchimia Umbrarum JohnDeeszuGesichtzubekommen,unerfülltgeblieben. ZeitlebenshatteMeredithsichfürnichtsanderesalsseineBibliothekinteressiertunddasErbeseinesVaters,einesbritischenTee-Magnaten,alleinmitdemZieleingesetzt,seineeinzigartigeSammlungaufzubauen.SoverströmtendiepapierenenInnereienvonMeredithHalljeneneigentümlichenGeruchausWissenundModer,währendseinetatsächlicheBibliothek,indersichdiemitAbstandwertvollstenSchriftenfanden,eineminnerenHeiligtumgleich.HierfandensichBücher,vonderenExistenznurwenigeüberhauptwussten.Titel,dieseitJahrhundertenalsverschollengalten. DafandsicheinederletztenBibelnausGutenbergserstemDruck,beideBändevonWebstersursprünglichemAmerican Dictionary undaufeinerReihevonRegalendergrößteTeilderSchriftenvonderrömischenListe. Hier,imInnerendesHeiligtums,wosichverschlisseneHolzbündeanvernarbteLedereinbändereihtenundalchemistischeTraktatenebenwissenschaftlichenAbhandlungenstanden,fandensichHerodotsHistoriennebenPlatonsDialogenundvonJunztsUnaussprechliche KultenebendenWerkenLudwigPrinns-einigeBücherindiesemHortalterInkunabelnundFoliantenwarenihrGewichtinGoldwert. SeitihremBestehenhatteesindieserBibliothekeineRegelgegeben,dieMereditheinstaufgestellthatteunddieniemalsgebrochenwordenwar:Kein Buch verlässt jemals das Haus. Undjenewenigen,diedenBüchernihreAufwartungmachendurften,hatteMeredithstetspersönlichausgewählt.DieListederInteressentenwarstetslanggewesen.DiederGästehingegenkurz,dennzuLebzeitenhattederalteMannseinenBücherngegenübereinederartbeschützendeHaltungeingenommen,dasskeinUnbefugtersichjezwischendieRegalevonMeredithHallgewagthatte. SeinTodaberändertealles. SchonwährendderletztenJahre,seitklargewordenwar,dassdasEndedesHerrnvonNew Alexandriaabsehbarwar,hattenUniversitäten,MuseenundSammlersichbemüht,sichmitMeredithundseinemNachlassverwaltergutzustellen.InderHoffnung,seinWohlwollenzuerlangen,hattensiesichdazuhinreißenlassen,ihmwertvolleBücherzuübereignen,umnachseinemTodumsomehrdavonzurückzubekommen.EinBuchnachdemanderenhatteMeredithinseineriesigeBibliothekeingereiht,dieseimmerweitervergrößertundsichzuletztmehralszehnJahrelanggeweigertzusterben. Nunaberlager,seinemletztenWillenentsprechend,nachdreiundneunzigJahreneineserfülltenLebenszwischenBuchdeckeln,aufgebahrtinderBibliothekvonMeredithHall. SeinebleichenWangenwirktendabeinochhohleralszuLebzeiten.DasweißeHaarstrengnachhintengelegt,dasfunkelndeMonokelunterderstrengenBraue,wirkteerselbstjetzt,daerdieewigeRuhegefundenhatte,nocheigentümlichangespannt. InseinemTestamenthatteerakribischverfügt,werwelchesBuchbekommensollte.BisaufeinenkleinenTeildecktediese VerfügungdengesamtenBuchbestandab.DiewenigenverbliebenenTitelsollten,damitsieauchfortanihremWertentsprechendbehandeltwurden,untereinigenauserwähltenPersonenversteigertwerden.NochbevorEdwardLysanderMeredithkaltgewesenwar,hatteseinNachlassverwalter-nichtzuletztseinerProzentewegen-jenemkleinenKreisausMuseumsvertretern,SammlernundPrivatiersdieListederzuversteigerndenBücherzugespielt. SobalddiesterblichenÜberresteseinesHerrnNew Alexandriaverlassenhatten,würdendieBücherseinesinnerenHeiligtumsvorOrtunterdenHammerkomme.NochaberruhteMeredith,zwischenfliederfarbenenKissenaufgebahrt,ineinemSargausdemgleichenKirschbaumholz,ausdemdieRegaleimHerzenderBibliothekgemachtwaren.InmittenseinerBücherundimSchatteneinerStatuedesHeiligenLaurentius,desSchutzheiligenallerBibliothekare.IndenhölzernenHeiligenscheinderFigurstandendieWorte Libri amici, libri magistrigeschnitzt.BüchersindFreunde,BüchersindLehrer.DasLebensmottodesHerrnvonNew Alexandria. WährenddiekleineWeltderwirklichBibliophileninAufruhrwarundBüchernarreninallerWeltihreErsparnissezusammenkratzten,umMeredithHallzumindesteinBuchabzutrotzen,scherteeinerdortsichherzlichwenigumdieZukunftderRegale:JeremyBradshaw.ErsaßimKellerdesHauses,ineinemRaum,indemerwährenddervergangenenzehnJahredenGroßteilseinerZeitverbrachthatte.ErhocktedortvorderkleinenMonitorwand,vonderdieFlureundRäumedesHausesaufihnherabflimmerten.DieBildschirmezeigtenausnahmslosRegalemitBüchern.Bilder,diefüreinenAußenstehendennichtzuunterscheidengewesenwären.TeilnahmslosbetrachtetederuntersetzteManndieMonitore,rückteseineBrillezurechtundschlangbeiläufigdenResteinesButterbrotesherunter.Bradshaw wargenauderrichtigeMannfürdenJobimKeller.DieSicherheitsfirmahätteihnkaumanderswosinnvolleinsetzenkönnen.SeineKörpergrößelagmit1,75MeternzehnZentimeterunterdenMindestanforderungen,dieUniformhatteseinerFigurwegeneigensgeschneidertwerdenmüssen,undwahrscheinlichhätteihm-UniformundWaffezumTrotz-nichteinmaleinaufmüpfigerZwölfjährigerRespektentgegengebracht. AberfüreinengemütlichenBrillenträger,derzugleichderSchwagerdesBetreibersderSicherheitsfirmawar,stelltedieÜberwachungvonMeredithHalleineangemesseneAufgabedar.HierkonnteBradshaweinerseitsseinGeldverdienenundandererseitskeinenSchadenanrichten. Schnaufend,aberohnedabeidieBildschirmeausdenAugenzulassen,zerrtederWachmannseinenRucksackunterdemStuhlhervor.ZweiderMonitorewarendunkel.AusGründenderPietät.DamitMereditheinletztesMalmitseinenBüchernalleinseinkonnteundBradshawnichtdieganzeNachtübereineLeicheanstarrenmusste,hatteerdieKamerasinderBibliothekeinfachabgeschaltet.Zumalohnehinnichtzubefürchtenstand,dassetwaspassierte.Dennabgesehendavon,dasshiernochnieirgendetwaspassiertwar,konnteBradshawsichnichtvorstellen,dassüberhauptirgendjemandaufdieIdeekam,Bücherzustehlen.ZudembedeuteteMeredithsTodfürBradshawohnehindasEndeseinesArbeitsverhältnisses.SobaldderAltedasHausmitdenFüßenvoranverlassenhatte,würdeauchergehenmüssen.Underwussteselbst,wielangeesdauernkonnte,bisseinSchwagereinenneuenJobfürihnfand.Manhatteihmbereitsmitgeteilt,wieeslaufenwürde.DerNachlassdesAltenwürdeverteiltundversteigertundMeredithHallinnerhalbderkommendenMonateFirmensitzeinerrenommiertenImmobilienfirmawerden. UndsowardiesJeremyBradshawsletzteNachtinNew Alexandria,weshalberauchkeineKonsequenzenzufürchtenbrauchte,wennergegendieRegelnverstieß...EröffneteseinenRucksackundzogzweiDosenBierhervor,dieerlächelndvorsichaufdenSchreibtischstellte.DanngriffernocheinmalhineinundhieltkurzdaraufeineZigarreinderHand.Erwürdesierauchen,auchwennesindiesemHausnochsoverbotenwar.DieswarseineletzteNacht.NachzehnJahren,indenenerohneeinWortdesDankesodereinefreundlicheGestevondemaltenGrantelgreisdessenwurmstichigeSchwartenbewachthatte.WährendderAlteheuteNachtüberihmverrottete,würdeJeremyBradshawSpaß haben. Und das würde er sich, verdammt noch mal, nicht verbieten lassen. Von niemandem. GrinsendstreifteerseineSchuheab,streckteentspanntdieBeineunterdenTischundschobseinenwulstigenZeigefingerunterdenMetallring.DannrisserdieersteDoseauf,nahmeinenkleinenSchluckundhobdieZigarreanseineNase.ErschlossdieAugenundsogihrAromaein. AlserdieAugenwiederaufschlug,saheres.AufeinemderMonitore.NureinenkurzenMomentlang.AberimWiderscheinderNotbeleuchtungsah er es.EswarlediglicheinSchatten,dessenKonturensichjedocheigentümlichdeutlichgegendasmatteZwielichtderNotbeleuchtungabhoben.ImerstenMomenthieltBradshawesfüreineStörung. ErklopftemitdemKnöchelseinesZeigefingersgegendenMonitor,dochschonimnächstenMomentsaher,wiesichderSchattenausdemSichtfeldderKamerabewegteundaufdemnächstenMonitorwiederauftauchte.VerwundertkniffderWachmanndieAugenzusammen,stelltedasBierabundkam-wennauchwiderwillig-zudemSchluss,dassessichwohldochnichtumeineStörunghandelte... MissmutigließerseineZigarrezurückindenRucksackgleiten,zogseineSchuhewiederanundsetzteleisefluchendseineMützeauf.DannstanderaufundverließdenÜberwachungsrauminRichtungTreppe. DieHandamRevolverdurchquerteBradshawvorsichtigdieEingangshalle.Erkamsichalbernvor.Jagte er wahrhaftig einem Schat ten nach?WahrscheinlichwaresnurirgendeinInsekt,dasvorderLampeherumgeflattertwar.SchließlichwarderAlarmnichtausgelöstworden,sodassesunwahrscheinlichwar,dassirgendjemandinsHauseingedrungenwar.DennochbeschlossBradshaw,dasHauptlichtnichteinzuschaltenundmitderNotbeleuchtungvorliebzunehmen. AlsErsteskontrollierteerdieEingangstür.Verriegelt.DasSchlossunbeschädigt.Leiseatmeteerauf.Alsokonntetatsächlichniemandhierdrinnensein.DennochschauteersichnocheinmalumundgingleisezumanderenEndederHallehinüber,passierteeinriesigesGemälde,dasseinerAnsichtnachJesus,inWirklichkeitjedochJohannesGutenbergzeigte.AndemBildvorbeischlichderWachmannuntereinigenhölzernenTorbögenhindurchindenFlur.DurchdieFensterkonnteerdraußendasSchneetreibenbeobachten.ErrisssichvondemAnblicklosundstarrtestattdessenindenFlur,indemjedochauchnichtszuerkennenwar.WedereinSchatten,dersichgegenirgendeinZwielichtabhob,nochetwasanderesBemerkenswertes.ImkargenScheinderNotbeleuchtungerkannteerlediglichdiegleichenBücher,RegaleundausgetretenenTeppichfliesenwieehundje. JeremyBradshawwolltegeradewiederzurückinseinenKellergehen,alserplötzlichdasLichtbemerkte,dasunterderTüramEndedesFlureshindurchschien. DasLichtinderBibliothek,daswussteergenau,hatteeraufseinemerstenRundganggelöscht.DerWachmannschluckte. KalterSchweißtratihmaufdieStirn,alsermitzitterndenFingernnachseinemHolstertastete. SohatteersichseineletzteNachtindiesemHausnichtvorgestellt.Bier,ZigarreundSpaßschienenplötzlichinunerreichbareFernegerückt,undirgendwotiefinsichverspürteJeremyBradshawdasBedürfnis,einfachdavonzulaufen. Docherrisssichzusammen,bewegtesichlangsamweitervoran,unddann,alserkaumnocheinenMetervonderTürentferntwar,begannderLärm.AusdemInnerenderBibliothekdrangendumpfeGeräusche,beinaheso,alsobjemandzwischendenRegalenrandalierteundBücherumherwarf.KeuchendlehntederWachmannanderWand,hobseineWaffeundatmetetiefdurch.DannrutschteernäherzurTürundsprachlautundvernehmlichjeneWorte,vondenenergehoffthatte,sieniemalsaussprechenzumüssen:»Security!WerimmerSiesind,ichbinbewaffnetundautorisiert,vonderSchusswaffeGebrauchzumachen.« Bradshawhieltkurzinne.ErerwarteteeineReaktion.Irgendeine.WobeiihmeineüberstürzteFluchtamehestenrechtgewesenwäre.Dochstattdessenpolterteundrumpelteesweiter,alsobderEindringlingnichteinmalNotizvonseinemRufengenommenhatte. ZitterndspannteBradshawmitleisemKlickendenHahndesRevolvers.Erspürte,wieseineHändefeuchtwurden.Ein Schat ten. Er hatte auf jenem Monitor nicht mehr als einen gottverdammten Schatten gesehen. »Ichkommejetztrein.StellenSiesichmitdemGesichtaneinesderRegaleundstreckensieHändeundFüßeweitvonsich.HabenSiemichverstanden?« AufeineAntworthoffend,hielternocheinmalinne.Nichts.NichtsalsjenesRumpelnundPoltern.BradshawschlosskurzdieAugen,lehntesichzurückundschnellte,dieWaffeimAnschlag,vor.SeineSchulterpralltegegendieTür.Dieflogauf,knalltegegeneinesderRegale,unddannstandderkleine,dickeBradshaw-beinahewieeinrichtigerSicherheitsmann-miterhobenerWaffemitteninderBibliothek...undtrauteseinenAugennicht. AufdiesenAnblickwarernichtvorbereitet.Vorihmlag,imSchattenderStatuedesHeiligenLaurentius,derumgestürzteSarg.KeinezweiMeterdavonentfernthäuftensichunachtsamzuBodengeworfeneBücher.UndvordenRegalenstand,einBuchnachdemanderenhervorziehend,esbetrachtendunddannzuBodenwerfend,Edward Lysander Meredith.IrritiertblicktederWachmanndenkaumzweiTagezuvorverstorbenenHausherrnan. Das war unmöglich. Alleinschon,wieermitdenBüchernumging.Vollkommen unmöglich. Unddochsaher,wieMeredithsichimnächstenMomentumdrehteund-ohneihnauchnureinesBlickeszuwürdigen-aneinesdernächstenRegaleherantrat. BradshawfuhrderSchreckenbisindieKnochen.EntgeistertließerseineWaffesinken.Erverstandnicht,washiervorsichging;konnteessich,sosehrersichauchbemühte,nichterklären.Allerdingsmeinteer,schoneinmalgehörtzuhaben,dassMenschenirrtümlichfürtotgehaltenundlebendigbegrabenwordenwaren. FüreineSituationwiediesehatteerkeinerleiAnweisungenundwusstedementsprechendnicht,obernuneherdiePolizeioderMeredithsHausarztanrufensollte.SoodersosahersichindiesemMomentinmittendesinnerenHeiligtumsvonMeredithHallniemandGeringeremalsdemEigentümergegenüber,derbeibesterGesundheitschienundmitseinenBüchernschlussendlichverfahrenkonnte,wieimmeresihmgefiel.Undwennihmplötzlichdanachwar,jeneBücher,dieerjahrelangnurmitderPinzetteumgeblätterthatte,aufdenBodenzuwerfen,dannwaresnichtseineSache,ihmdabeiimWegezustehen. MitgesenktemBlickmurmelteBradshawleise:»VerzeihenSie,Sir,wennichSiegestörthabensollte«,undfügte,umderSituationirgendwiegerechtzuwerden,nochhinzu:»Freutmich,wennesIhnenbessergeht.«DanntrotteteerausderBibliothek,durchdenFlurundzurückinseinenKeller. DortgrübelteBradshawnocheinegutehalbeStundedarübernach,obundwenerangesichtsdesVorfalleskontaktierensollte,kamdannaberzudemSchluss,sichstattdessenlieberwiederseinemBierundseinerZigarrezuzuwenden.SokonnteerwenigspäteraufdenFlurmonitorenerkennen,wieEdwardLysanderMeredithinseinemBegräbnisanzugundmiteinemBuchunterdemArmausseinerBibliothektratundlangsamdenFlurhinabschritt. DurchdenQualmseinerZigarrefolgtenBradshawsAugendenSchrittendesAlten,sahenihnvoneinemMonitoraufdennächstenhinüberwanken,biserdieEingangshalleerreichte. OhnesichumdieAlarmanlageoderdendraußentobendenSchneesturmzuscheren,öffnetederzweiTagezuvorVerstorbenedieTürundverließschließlich,währendderjaulendeAlarminnerhalbvonSekundenbruchteilenzuschierunerträglicherLautstärkeanschwoll,unterdenfassungslosenBlickenJeremyBradshawseinletztesMalseinenLondonerStadtsitz. KurznachdemdiePolizeidesAlarmswegeninMeredithHalleingetroffenwar,fandmanwenigeStraßenentferntMeredithsleblosenKörper,derdennachfolgendenUntersuchungenzufolgetatsächlichseitmehrals48Stundentotwar. DieAussagendesalkoholisiertenWachmannsschienendenermittelndenBeamtenwenigglaubwürdig.IhmzufolgewarderHausherrkurznachMitternachtalleinundaufeigenenFüßenausdemHausgegangen.DasaberwarnichtnurseinesTodeswegeneineabsoluteUnmöglichkeit,hatteEdwardLysanderMeredithdochseitmehralsdreißigJahrenimRollstuhlgesessen. Wasimmerauchmitihmgeschehenseinmochte,alsmanihnfand,hieltderToteinseinenkaltenHändennochimmer daseinzigeBuch,welchesdasinnereHeiligtumimLaufdervergangenensiebzigJahreverlassenhatte.EinealchemistischeSchriftausdemspäten15.Jahrhundert,GeorgeRipleysThe Compound of Alchymy. UndmochtedasBuchauchvomtobendenSchneenachhaltigruiniertwordensein,sowurdeseinursprünglicherWertzusätzlichnochdurcheinenanderenUmstandgeschmälert: IrgendjemandhattedieersteSeiteherausgerissen...