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Wo das Böse lauert - Thriller

Ania Ahlborn

 

Verlag Festa Verlag, 2019

ISBN 9783865527967 , 464 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz frei

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4,99 EUR


 

1

Jude Brighton war verschwunden. Stevie Clark stand am Rand des Waldes, die kleinen Hände gefaltet, während er beobachtete, wie die Menschen zwischen den Bäumen nach seinem Freund suchten.

Jude war an diesem Sonntag verschwunden, nachdem er und Stevie stundenlang hinter Gebäuden nach alten Kanthölzern gesucht hatten. Ihre Festung, ihr Fort war beinahe fertig. Fehlten nur noch ein paar weitere Bretter und Ersatzsprossen für die Leiter. Die Sprossen, die sie an den Baumstamm genagelt hatten, waren tückisch wie der Aufstieg in Saurons Turm. Aber die Gefahr gefiel ihnen beiden – sich mit bloßen Händen an den splitterigen Brettern festklammern, oben die Kratzer und Abschürfungen vergleichen, sich bei jedem Abstieg von ihrem Verschlag beinahe den Hals brechen. Denn, so sagte Jude: Ohne Risiko macht das Leben keinen Spaß. Und wenn Stevie jemanden kannte, der die Gefahr suchte, dann unbestreitbar sein Cousin. Sein bester Freund. Nun verschwunden wie ein Geist.

Stevie hatte auf der Couch gesessen und ferngesehen, als seine Tante Amanda an die Vordertür geklopft hatte. »Ist Jude da?«, hatte sie mit dem üblichen brüchigen Lächeln im Gesicht gefragt. Allerdings schwang zu dem Zeitpunkt etwas in ihrer Stimme mit, das Stevie aufhorchen ließ. Es klang wie etwas Schwärendes, das sie plagte. »Wäre an der Zeit, nach Hause zu kommen«, sagte sie. »Das Abendessen ist im Ofen.«

Stevie liebte seine Tante Mandy. Trotz ihrer zu stark ausgeprägten Züge empfand er sie als hübsche Frau. Sie besaß ein langes Gesicht und riesige Augen. Sie hat ’n Pferdegesicht. So hatte es sein Stiefvater Terry beschrieben und dazu schallend gelacht. Pferdegesicht Brighton. Wir sollten sie beim Kentucky Derby ins Rennen schicken, damit sie ’n bisschen Knete für uns gewinnt. Terry Marks war ein gewaltiges Arschloch. Stevie hasste ihn, wahrscheinlich mehr als jeden anderen Menschen auf der Welt.

Und dennoch, obwohl er »den Tyrannen« hasste, weil er so ein Arsch war, ertappte sich Stevie gelegentlich dabei, dass er gegen seine Mutter einen noch größeren Groll hegte. Teilweise, weil sie Tante Mandy nicht verteidigte, wenn Terry über sie herzog. Überwiegend jedoch, weil sie zuließ, dass der Tyrann ihr Leben versaute. Einmal hatte sie fast zwei Wochen lang ein blaues Auge gehabt. Bin mit voller Wucht in die Ecke des Küchenschranks gelaufen, hatte sie lachend behauptet. Ehrlich, wenn mein Kopf nicht angewachsen wäre … Du weißt ja, wie das ist. Ja, Stevie wusste es. Die ganze Gemeinde wusste es, trotz der Lüge.

Deshalb wirkte Tante Mandy immer angespannt, wenn sie vorbeischaute. Man konnte Terry nicht unbedingt als gastfreundlich bezeichnen. Es kam einem Wunder gleich, dass sie Jude überhaupt zum Spielen zu Stevie nach Hause kommen ließ. Zum Glück tat sie es trotzdem, denn in ihrem Haus bekam Stevie immer Kopfschmerzen. Es roch dort irgendwie rosa, wie Blumen. Abgesehen davon war er ziemlich sicher, dass in ihrer Toilette eine Schlange hauste. Er hatte sie gesehen, auch wenn Jude steif und fest behauptete, das hätte er sich bloß eingebildet.

»Nee, er ist nicht da«, antwortete Stevie.

Dass Jude an jenem Nachmittag nicht vorbeigekommen war, um abzuhängen, oder dass er noch nicht zu Hause aufgekreuzt war, schien für Stevie keine große Sache zu sein. Jude lebte nach eigenen Regeln. Wenn er sich den ganzen Tag lang im Wald herumtreiben wollte, dann tat er es. Wenn ihm danach zumute war, das Abendessen auszulassen, dann tat er auch das. Aufhalten konnte ihn niemand, schon gar nicht seine Mutter.

Aber wenngleich Jude ein Regelbrecher war, wie er im Buche stand, und trotz des alten Sprichworts Jungs sind nun mal Jungs, überzeugte Stevie die kaum verhohlene Panik in Tante Mandys Gesichtsausdruck, dass diesmal viel mehr dahinterstecken musste. Nicht nur dass sich ihr Sohn von seiner üblichen trotzigen Seite zeigte. Diesmal ging es um etwas anderes. Um etwas weit Ernsteres als eine verspätete Heimkehr. Tante Mandys brüchiges Lächeln zerbarst in tausend Scherben blanker Besorgnis.

»Weißt du, wo er ist?«, fragte sie.

»Mhm.« Stevie vermutete, Jude könnte in der Festung sein, allerdings war es dorthin ein langer Marsch, zudem langweilig, wenn man ihn allein antrat. Abgesehen davon galt die Festung als streng geheim. Da die Hauptstraße aus einem Park und einer nicht mal einen Kilometer langen Geschäftszeile bestand, konnte man Deer Valley nicht gerade als angesagte und ereignisreiche Ortschaft bezeichnen. Die beiden Jungen hatten den ganzen Sommer damit verbracht, jenes Baumfort zu bauen, und bereits darüber gesprochen, eine weitere – größere und bessere – Festung in Angriff zu nehmen, sobald die erste Konstruktion fertig wäre. Sie fantasierten sogar davon, eine viereinhalb Meter hohe Seilrutsche einzubauen – eine weitere Möglichkeit, Kopf und Kragen zu riskieren, wenn sie sich nicht gerade gegenseitig mit ihren Spielzeugblastern Schaumstoffgeschosse in die Augen feuerten oder sich Wasserballons an die Köpfe warfen. Wenn sie Glück hätten, würden sie auf dem Schrottplatz ein Rohr aufspüren, das lang genug für eine Rutschstange wäre. Diese Ergänzungen waren ihnen alle erst nach Beginn der Arbeit an der ersten Festung eingefallen, viel zu spät, um sie noch in den ursprünglichen Plan einzubauen. Stevie hatte nicht vor, ihr Geheimnis auszuplaudern, nur weil sich Tante Mandy ein wenig wegen Judes verspäteter Rückkehr nach Hause sorgte.

Bei jedem anderen Jungen hätte es Orte gegeben, die man abklappern könnte. Zum Beispiel ein anderer Freund auf der gegenüberliegenden Seite der Ortschaft. Oder man könnte bei Nachbarn nachfragen, andere Eltern anrufen. Allerdings hatte Jude keine Freunde. Nicht in dem Sinn, dass man gemeinhin scherzhaft meinte: Er ist ja so ein Einzelgänger. Eher so, dass es aufrichtig hieß: Niemand kann Jude Brighton leiden. Man konnte getrost sagen, dass er nur deshalb Hunderte Stunden damit verbracht hatte, mit Stevie, einem zwei Jahre jüngeren Cousin, ein Baumhaus zu bauen, weil ihm sein Ruf vorauseilte. Stevie mochten andere Kids nicht, weil er schräg war und weil ihm Finger an der rechten Hand fehlten. Ihre Abneigung gegen Jude war simpler: Ihn mochten sie nicht, weil er ein Arsch war.

Eltern wiederum konnten Jude nicht leiden, weil er als Unruhestifter galt. Er sprach Wörter wie gottverdammt und Scheiße und Arschloch sogar in der Gegenwart von Erwachsenen aus. Einmal hatte er ein herzhaftes verfickt fallen gelassen, einfach nur, um das Wort zu benutzen. Er hatte es ganz beiläufig eingestreut, um die Unterhaltung abwechslungsreicher zu gestalten.

Stevie hörte solche Wörter regelmäßig durch die Wände in seinem Haus dröhnen. Sein großer Bruder Duncan ließ gelegentlich Flüche vom Stapel. Und Terry verfügte in der Hinsicht über ein beachtliches Vokabular und genierte sich nicht, es die gesamte Nachbarschaft hören zu lassen. Aber Dunk besuchte die High School, und Terry war erwachsen, Jude hingegen erst zwölf. Das harsche, schneidende Schimpfwort von einem Kind zu hören, hatte Stevies Nerven damals zum Kribbeln gebracht wie Knisterbrause direkt auf der Zunge.

Man konnte Jude als taff und unerbittlich bezeichnen. So war er seit dem Tod seines Vaters – Stevies Onkel Scott. Nichts jagte Jude Angst ein. Vor zwei Sommern hatte er beim Spielen am Bach einen knurrenden Kojoten verscheucht, abgemagert, wahrscheinlich am Verhungern und in der Stimmung für einen nachmittäglichen Imbiss. Jude griff sich nur einen abgefallenen Ast und stürmte mit einem gellenden Schlachtruf auf das Tier los, als wollte er es damit aufspießen, während Stevie wie vom Donner gerührt zurückblieb und seinem draufgängerischen Waffenbruder mit großen Augen hinterherstarrte.

»Mensch«, hatte Stevie gesagt, als Jude schließlich zurückgekommen war. »Was, wenn er dich angegriffen hätte, statt wegzurennen?«

»Dann wär er jetzt tot statt nur erschrocken«, hatte Jude erwidert, als wäre nichts weiter dabei, Kojoten mit bloßen Händen zu töten. Bei dem Vorfall mit dem Tier war Onkel Scott seit über einem Jahr tot gewesen. Jude war damals zehn, aber die Wut in ihm hätte genügt, um einen doppelt so großen, erwachsenen Mann auszufüllen.

Bereits am nächsten Morgen kursierten Gerüchte, Jude wäre von zu Hause ausgerissen, und es fiel nicht allzu schwer, die Theorie zu glauben. Jedermann wusste, dass mit Jude nicht alles stimmte. Er galt als Deer Valleys Problemkind, eine Bedrohung, ständig in irgendwelchen Schwierigkeiten. Und Amanda Brighton war nicht unbedingt eine strenge oder durchsetzungsfähige Frau. Sie hatte zwar versucht, Jude in eine Therapie zu stecken, doch das schien seinen inneren Aufruhr nur zusätzlich zu schüren. Nach einigen gescheiterten Versuchen ließ sie Jude einfach tun und lassen, was er wollte.

Mehr als einmal war er von der Polizei wegen Bagatelldelikten wie Ladendiebstahl aufgegriffen worden. Einmal auch wegen Vandalismus und Besitzstörung, allerdings bezog sich dieser Verstoß bloß auf eine unzählige Hektar umspannende Farm. Die Besitzer hatten keine Schilder aufgestellt, um Fremde fernzuhalten, deshalb war es Stevies Meinung nach eine völlig haltlose Anschuldigung. Aber die Polizei mochte Jude ebenso wenig wie alle anderen, deshalb machte man ihm dafür trotzdem die Hölle heiß.

Am schlimmsten war es gewesen, als man Jude erwischt hatte, wie er ein Stück Holz mit rostigen Nägeln darin schwang wie einen mittelalterlichen Streitkolben. Er triezte damit eine der unzähligen streunenden Katzen von Deer Valley...