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Miss Charity und der maskierte Gentleman

Sarah Mallory

 

Verlag CORA Verlag, 2020

ISBN 9783733729448 , 130 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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0,99 EUR


 

1. KAPITEL

13 Jahre später …

Der scharfe, eisige Wind trieb den Schnee beinahe waagerecht gegen die Fenster der schnellen Überlandkutsche von Scarborough nach York. Charity Weston war froh, dass auf dem Dach des Gefährts wenigstens keine Fahrgäste saßen. Schwarze, tief hängende Wolken verfinsterten den ohnehin schon kurzen Januartag, bald würde es stockdunkel sein. Im Inneren der Kutsche konnte man die Hand kaum vor den Augen erkennen. Es war das ganze Gegenteil des hellen Rampenlichts, in dem sie die meisten ihrer Tage – oder vielmehr Nächte – verbrachte, wenn sie auf der Bühne stand.

Sie überlegte, was ihre Mitreisenden wohl denken würden, wenn sie wüssten, dass sie Schauspielerin war. Sicher hätten der Farmer und seine Frau sie dann nicht so freundlich angelächelt, als sie ihren Platz einnahm. Doch so sahen sie nur eine modisch gekleidete Reisende mit ihrer Zofe vor sich. Charity sprach mit der sanften, kultivierten Stimme einer Dame und vermied die näselnde Sprechweise des Südens, die sie zusammen mit einem neuen Namen während ihres Engagements in London angenommen hatte. Wenn die beiden allerdings in der Nähe von Allingford wohnten, würden sie ihren Irrtum bald erkennen, denn Charity hatte das Angebot eines alten Freundes akzeptiert, seinem Theaterensemble beizutreten.

Eine neue Stadt, neue Rollen, ein neues Publikum. Früher hätte sie dieser Gedanke begeistert, aber aus irgendeinem Grund war es heute nicht so.

Werde ich alt? Ich bin siebenundzwanzig, und ich will nichts lieber als ein eigenes Heim …

Die Kutsche fuhr ratternd durch ein Dorf. Ihr Blick fiel auf ein Cottage, das etwas abseits der Straße lag. Anheimelnd schien das Licht aus den Fenstern im Erdgeschoss, die Haustür war offen. Eine Frau stand mit weit ausgebreiteten Armen davor, um die beiden kleinen Kinder aufzufangen, die auf sie zu rannten. Charity beobachete, wie sie die Kleinen umarmte und dann zu dem Mann aufblickte, der ihnen folgte. Selbst im Dämmerlicht konnte man ihr Gesicht glücklich strahlen sehen.

Das war es, was sie sich wünschte: ein Heim und eine Familie, die sie liebte.

Es war eine Szene des Glücks gewesen, doch sie wusste nur zu gut, wie sehr der Augenschein trügen konnte. Wenn alle im Haus und nicht mehr von draußen zu sehen waren, konnte es durchaus sein, dass die Kinder sich hinter den Röcken ihrer Mutter versteckten, während der Vater sich vor ihnen aufbaute – Bibel in der einen, Reitpeitsche in der anderen Hand –, vollkommenen Gehorsam von ihnen verlangte und jeden Widerstand mit einer Tracht Prügel bestrafte. Charity lehnte sich schaudernd in ihre Ecke zurück und schloss die Augen. Vielleicht war es ein Fehler, nach Allingford zu fahren, wo sie so nah bei ihrem Herkunftsort sein würde.

Unverhofft wurde die Kutsche langsamer, und man hörte laute Stimmen von draußen. Betty, ihre Zofe, fragte ängstlich: „Oh Gott, was ist passiert?“

„Höchstwahrscheinlich steht eine Kuh auf der Straße“, erwiderte Charity gelassen. Sie öffnete das Fenster und lehnte sich hinaus. „Nein“, sagte sie ruhig. „Es ist kein Tier, zumindest keins mit vier Beinen. Es ist ein Wegelagerer.“

Betty schnappte nach Luft. Die Farmersfrau umklammerte ängstlich das silberne Medaillon, das sie an einer Kette über ihrem üppigen Busen trug. Charity jedoch war nicht sehr beunruhigt beim Anblick des Reiters am Straßenrand, der mit gezückter Pistole den Fahrer und den Wachmann bedrohte. Seinen Hut hatte er tief in die Stirn gezogen, sodass sein Gesicht vollkommen im Schatten lag. Alles an diesem Räuber war schwarz, vom Dreispitz bis zu den Hufen des mächtigen Pferdes, auf dem er saß. Mit tiefer, beschwingter Stimme befahl er dem Wachmann, seine Flinte herunterzuwerfen und ihm den Postsack auszuhändigen.

Jemand berührte Charitys Arm.

„Bitte, Madam, halten Sie sich im Hintergrund“, flüsterte der Farmer. „Vielleicht lässt er uns in Ruhe, sobald er die Post hat.“

Sofort lehnte sie sich zurück, ließ jedoch das Fenster offen, um nicht die Aufmerksamkeit des Räubers zu erregen.

„Ich finde den Wachmann ziemlich feige“, sagte sie mit gesenkter Stimme. „Er hat nicht den kleinsten Widerstandsversuch unternommen.“

„Es ist bestimmt eine ganze Bande“, hauchte Betty.

„Nein, das glaube ich nicht.“ Charity schaute vorsichtig hinaus. „Ich sehe nur den einen Mann.“

„Er kommt herüber“, flüsterte Betty aufgeregt. „Herr im Himmel!“

Sie klammerte sich an Charitys Arm, als die Tür aufgerissen wurde und der Fremde gut gelaunt sagte: „Nun schauen wir doch mal, wen wir da haben. Wenn Sie freundlicherweise herauskommen würden, meine Damen und mein Herr!“

Die Farmersfrau wimmerte und klammerte sich an ihren Mann, als sie die Pistole sah.

Charity kletterte hinaus, der Farmer und seine Frau folgten. Bald standen alle auf offener Straße im eiskalten Winterwind. Charity blickte zum Kutschbock hinauf, wo der Fahrer und der Wachmann mit erhobenen Händen saßen.

„Sind das alle?“

„Ja, außer es versteckt sich noch jemand unter dem Sitz“, witzelte Charity und rieb ihre kalten Hände aneinander. „Wenn Sie uns berauben wollen, tun Sie es bitte schnell, damit wir weiterfahren können.“

Das Gesicht des Mannes lag im Schatten, aber sie spürte, dass er sie genau musterte. Nun erkannte sie auch, dass er eine schwarze Halbmaske trug.

„Und wer bitte sind Sie, Ma’am? Wer gibt Ihnen das Recht, Forderungen zu stellen?“

Er wedelte mit der Pistole. Seine Stimme klang immer noch freundlich, aber es lag eine Warnung darin. Charity straffte sich.

„Ich bin Mrs Weston.“

„Sind Sie das?“ Er trat etwas näher heran, und sie spürte, dass er sie prüfend ansah. „Sind Sie auf dem Weg nach Beringham?“

„Nein. Ich fahre nach Allingford.“ Sie zögerte. „Zum Theater dort. Ich bin Schauspielerin.“ Sie streckte ihm ihr Retikül entgegen. „Hier. Wenn Sie mich bestehlen wollen, dann nehmen Sie es!“

Er grinste, und dabei blitzten seine Zähne weiß im Schatten des Hutes.

„Nein, ich glaube nicht. Heute Abend bin ich großzügig gestimmt.“

„Also rauben Sie uns nicht aus?“ Der Farmer starrte ihn fassungslos an.

„Nein. Ich habe beschlossen, das Retikül nicht zu nehmen, und auch nicht das Schmuckstück, das am Hals Ihrer Gattin funkelt. Sie können in die Kutsche zurück … das heißt, alle außer Ihnen, Ma’am.“

Charitys Herz kam fast aus dem Takt, aber um keinen Preis wollte sie ihre Angst zeigen. „Ich habe nichts für Sie.“

„Oh, ich denke doch.“

„Rühren Sie meine Herrin nicht an!“ Betty machte Anstalten, sich zwischen sie und den Räuber zu schieben.

Charity hielt sie am Arm fest. „Sei still.“

Der Mann schwenkte die Pistole.

„Schicken Sie Ihre Dienerin mit den anderen in die Kutsche, Mrs Weston.“

Charity sah der Zofe fest in die Augen. „Tu, was er sagt, Betty.“

Grimmig nickend leistete Betty der Anweisung Folge und ließ Charity allein mit dem Straßenräuber zurück.

„Ich habe es mir anders überlegt“, verkündete er träge. „Ich nehme die hübsche Brosche da an Ihrem Umhang.“ Es war eine nicht besonders wertvolle kleine Kamee. Charity löste sie und hielt sie ihm entgegen. „Nehmen Sie sie. Kann ich jetzt gehen?“

„Noch nicht, meine Dame.“

Er trat so dicht an sie heran, dass ihr ganz beklommen wurde. Obwohl Charity eine hochgewachsene Frau war, überragte er sie um Haupteslänge, und sein Mantel ließ seine Schultern unglaublich breit erscheinen. Ein Schauer lief über ihren Rücken.

„Sicher wollen Sie mir nicht hier vor allen Leuten etwas tun“, sagte sie gelassener, als sie sich fühlte.

Er lachte, und wieder sah sie seine weißen Zähne blitzen.

„Etwas tun? Nein, meine Liebe, nur wenn Sie mir nicht zu Willen sind.“

„So? Nun, ich …“

Er schnitt ihr das Wort ab, indem er sie an sich zog. Sie wollte protestieren, doch im selben Moment beugte er sich zu ihr, senkte seinen Mund auf ihren und küsste sie. Bei der Berührung durchfuhr es sie wie ein Blitz, sie war außerstande, sich zu wehren. Mit seiner Zunge drang er in ihren Mund ein und rief einen Ansturm unbekannter Empfindungen in ihrem Körper hervor. Seine stoppeligen Wangen kratzten auf ihrer Haut, doch sie spürte es kaum. Völlig nebensächliche Gedanken gingen ihr plötzlich durch den Kopf – zum Beispiel, dass er nicht nach Stall und Pferden roch. Stattdessen erkannte sie den Geruch von Leder und Wolle, der von seinem Umhang aufstieg, und als er sie noch näher an sich zog, stieg ihr der angenehme Duft von Seife und Zitronen, von Kräutern und sauberem Leinen in die Nase. Er fuhr fort, ihren Mund mit seiner Zunge zu erforschen, und sie glaubte zu vergehen unter den heißen Wellen des Verlangens, die ihren Körper durchströmten. Es waren gänzlich neue Empfindungen für sie, und sie brachten sie völlig aus der Fassung.

Die Zeit stand still. Sie war seine Gefangene, die stärker gegen ihren Wunsch, seinen Kuss zu erwidern, ankämpfen musste als gegen seine Umarmung. Als er schließlich seinen Kopf hob, war sie seltsam enttäuscht. Sie blieb in seinen Armen, unfähig sich zu bewegen, und sah zu ihm hoch. Inzwischen hatten ihre Augen sich an das trübe Licht gewöhnt, und sie konnte seine Gesichtszüge besser erkennen – den lächelnden Mund und die hohen Wangenknochen, sein energisch geformtes Kinn mit der...