dummies
 

Suchen und Finden

Titel

Autor/Verlag

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Die Kreatur

Hunter Shea

 

Verlag Festa Verlag, 2020

ISBN 9783865528186 , 464 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz frei

Geräte

4,99 EUR


 

1

Kate Woodson lag im Sterben, und ihr eigener Körper war der Henker.

Während der letzten Untersuchung hatten es die Ärzte nicht so deutlich zum Ausdruck gebracht, aber selbst ihr war bewusst, dass es eine Grenze dessen gab, was ein Körper aushalten konnte. Es war ihr schon schlechter gegangen. Viel schlechter. So schlecht, dass es nach der letzten Ölung und den Beerdigungsvorbereitungen ausgesehen hatte. Doch Kate hatte sich davon erholt wie ein moderner Lazarus.

Aber sie war müde. Sie hatte Schmerzen. Und ihr war übel. Immer war ihr so übel. Sie wusste schon gar nicht mehr, wie es war, ohne Schmerzen aufzuwachen, ohne Muskeln, die so schwach waren wie die eines Neugeborenen. Sie konnte sich nicht einmal mehr erinnern, wann sie das letzte Mal das Haus verlassen hatte, etwa um einkaufen zu gehen oder mit Andrew ins Kino.

Obwohl sie nicht heute sterben würde (Vergiss es, Sensenmann!), befand sich Kate nach wie vor am oberen Ende der Leidensskala. Verschlimmert wurde alles noch durch den Schatten, der sie von der Küche aus beobachtete. Jedes Mal wenn sie den Kopf nach ihm umwandte, huschte er aus ihrem Blickfeld.

»Ich kann dich sehen«, sagte sie mit tiefer und kratziger Stimme von ihrem Sofa im Wohnzimmer aus, auf dem sie sich tagsüber ausruhte.

Bei dem Gedanken, dass der Schatten sich vor ihr fürchtete, kicherte sie. Dann wurde ihr jedoch klar, dass sie sich allein bei dem Gedanken an ihn vor lauter Angst fast in die Hosen machte.

»Ruf schnell alle Fernsehsender an, die Sendungen über Gespenster bringen. In Sayreville, New Jersey, treibt ein Geist sein Unwesen.« Andrew war nicht zu Hause, um zu fragen, wovon sie eigentlich redete. Er war bei der Arbeit, in einem Job, den er ihretwegen machte. Einem Job mit Zusatzleistungen, auf die sie nicht verzichten konnten.

Nicht dass Kate ihm von dem Schatten erzählt hätte. Er machte sich schon genug Sorgen um sie. Was sie nicht gebrauchen konnte, war, dass er meinte, sie schlittere auch mental dem Abgrund entgegen.

Oder schlimmer noch, dass er die Schuld bei den Medikamenten suchte und ihr dadurch das Gefühl gab, eine Süchtige zu sein, die an Wahnvorstellungen litt. Die paar Male, die er ihr Verhalten oder ihre Gedanken den Medikamenten zugeschrieben hatte, hatten sie so sehr verärgert, dass sie befürchtete, dadurch einen Schlaganfall zu bekommen. Das war zweifellos eine extreme Reaktion, aber Kate war nie eine von denen gewesen, die etwas in sich hineinfraßen.

Trotzdem unterdrückte sie die Angst, dass er vielleicht doch recht haben könnte.

Und war es nicht außerdem besser, dass der Schatten eine Halluzination war, ein Gebilde ihrer dunklen Fantasien statt einer realen, lauernden Kreatur?

Sie kratzte sich hinten an der Schulter und renkte sich dabei das Handgelenk aus, sodass sie einen Moment lang Sterne sah.

Ja, es war besser, dass es sich um ein Hirngespinst ihrer Fantasie handelte. Sollte der Schatten doch in der Küche bleiben, wenn er wollte. Sie hatte andere Sorgen. Zum Beispiel ihr Handgelenk wieder einzurenken. Sie ergriff es mit der anderen Hand und drehte es leicht. Mit einem zarten, gedämpften Knack schoben sich die Knochen wieder an ihren Platz.

»Schon besser«, sagte sie zu Buttons, ihrem Assistenzhund und treuen Begleiter. Er lag neben dem Sofa und stieß pfeifendes Hundeschnarchen aus. Sie ließ ihre Hand über den Rand des Sofas gleiten und berührte seinen Kopf mit den Fingerspitzen. Durch Buttons war sie wenigstens nie allein. Ein leichtes Lächeln kräuselte Kates Lippen. Sie starrte an die Decke und vermied es bewusst, in Richtung Küche zu blicken.

Sie hatte nicht einmal gewusst, was eine Autoimmunerkrankung ist, bis ihr gesagt wurde, dass sie selbst an einer litt. Als bei ihr dann mehrere Jahre später eine zweite, noch schlimmere Krankheit diagnostiziert wurde, war sie sowohl fassungslos als auch am Boden zerstört. Sie war der Meinung gewesen, nichts könne sie mehr schockieren. Das seltene Ehlers-Danlos-Syndrom, gepaart mit dem häufig auftretenden, entsetzlichen Lupus, war eine gnadenlose Links-rechts-Kombination. Die Kate, die nicht unter unerträglicher Erschöpfung litt, unter Schwellungen, nachlassender Sehkraft, einem zusammenklappenden Verdauungssystem, Herzproblemen und einer ganzen Palette weiterer furchtbarer Dinge, war nur noch eine zunehmend verblassende Erinnerung. An den meisten Tagen kam es ihr so vor, als wäre sie schon immer so gewesen … gebrochen, voller Schmerzen und voller Angst.

Die riesige Ansammlung von Tabletten auf Kates Nachttisch konnte keine Abhilfe schaffen. Bei Ehlers und Lupus gab es keine Heilung. Bestenfalls betäubten die Tabletten die Schmerzen, hielten das Aufflammen der Beschwerden in Schach, und manchmal fühlte sie sich durch sie sogar noch schlechter.

Kate überprüfte den Medikamentenplan, den sie auf ihrem Tablet erstellt hatte. Es wurde Zeit für einen ihrer Nervenblockierer. Auf dem Tablet waren die Medikamente ihrer Hausapotheke in all ihrer Pracht stichpunktartig aufgelistet: Fentanyl (ein extrem gefährliches Pflaster, das sie alle drei Tage wechselte und das Patienten mit alarmierender Regelmäßigkeit ins Grab beförderte), Neurontin und Gabapentin (zwei Mittel gegen Epilepsie, die auch in der Schmerztherapie angewandt wurden), Percocet (eine Mischung aus Oxycodon und Paracetamol), Ultram (besser bekannt als Tramal oder Tramadol), Prednisone (ein Cortisonpräparat) und Tagamet zum Schutz der Magenschleimhaut. Ihr Magen war allerdings schon allein durch all die Tabletten vollkommen kaputt. Monatliche Kontrollen waren nötig, um die durch die Medikamente verursachten Schäden an ihrer Leber und ihren Nieren, an Herz und Bauchspeicheldrüse zu messen.

Eine Tablette zu viel, und Exitus …

Andrew versuchte immer wieder, sie dazu zu bewegen, ihre Tabletten in einer dieser Plastikschachteln zu verstauen, auf denen die Wochentage über dem jeweiligen Fach aufgedruckt waren. Aber die einzige Schachtel, die groß genug gewesen wäre, dass sich all ihre Medikamente darin unterbringen ließen, könnte man auch als Beistelltischchen benutzen, wenn man Beine dranschraubte. Die schiere Größe löste Depressionen in ihr aus. Und außerdem fühlte sie sich durch so eine Schachtel wie eine klapprige alte Dame.

Stattdessen hatte sie die Tabletten in ein Einmachglas geschüttet. Damit es hübsch aussah, hatte sie sogar eine rot-weiß-karierte Schleife darumgebunden. Martha Stewart wäre stolz auf sie gewesen.

Sie schluckte die gelbe Tablette ohne Wasser, schraubte den Deckel wieder auf das Glas und wandte ihre Aufmerksamkeit dem Fernseher zu. Kate hatte eine Schwäche für Joseph Cotten. Ganz besonders gefiel er ihr in Portrait of Jenny. Ihre Mutter hatte immer gesagt, sie sehe aus wie Jennifer Jones, die geheimnisvolle Frau, die die Fantasie des am Hungertuch nagenden Künstlers befeuert … und schließlich sein Herz erobert hatte. Was Kate erblickte, wenn sie sich jetzt im Spiegel betrachtete, war Welten von einer Jennifer Jones entfernt. Ihr langes, kastanienbraunes Haar war spröde geworden, ständig hatte sie dunkle Ringe unter den Augen und aufgedunsene Tränensäcke. Sie hatte Schwierigkeiten, ihr Gewicht zu halten, und hatte daher eingefallene Wangen – so, wie sie es sich als Kind gewünscht hatte, als sie glaubte, Kate Moss wäre die schönste Frau der Welt. Was war ich doch für ein dummes Ding, dachte Kate. Was würde sie jetzt für ein bisschen Cellulitis geben.

Als sie das Fernsehprogramm durchstöberte, stellte sie enttäuscht fest, dass Portrait of Jenny heute nicht gezeigt wurde. Oh, aber nach dem Abendessen lief Niagara. Niemand hatte ihr jemals gesagt, sie sehe wie Marilyn Monroe aus. Aber sah überhaupt jemand so aus? Vielleicht das arme Mädchen Anna Nicole Smith, und man schaue sich nur an, wie es ihr ergangen war.

Kate musste pinkeln, aber ihre Fußgelenke, Knie und Hüften schienen in Flammen zu stehen; die Schwellungen brachten die Dehnbarkeit ihrer geröteten Haut an ihre Grenze. Den kurzen Flur hinunter konnte sie das Badezimmer sehen, es hätte genauso gut in einem anderen Bundesstaat liegen können.

»Wirklich schade, dass du nicht größer bist«, sagte sie zu dem Hund. »Wie einer dieser schottischen Hirschhunde. Ich könnte dich satteln und mit dir zum Klo reiten.« Mit traurigen, feuchten Augen blickte Buttons zu ihr auf. »Aber nein, ich musste mich ausgerechnet in einen Beagle verlieben.«

Er leckte ihre Hand und vergrub dann seinen Kopf wieder zwischen seinen Pfoten.

»Kannst du wenigstens für mich pinkeln gehen? Pinkeln kannst du nämlich wirklich gut.«

Er wedelte mit dem Schwanz, doch seine Augen blieben geschlossen. Er war müde und sie störte ihn.

Die Tablette müsste bald wirken. Sobald sie den schlimmsten Schmerz betäubt hatte, würde sie endlich schlafen können. Ums Pinkeln würde sie sich später kümmern. Der Schatten würde sich dahin zurückziehen, wo er hingehörte. Ins Nichts.

Wenn sie jetzt einschlief, verpasste sie nur Peking Express, und der gehörte nicht zu ihren Lieblingsfilmen.

Jetzt ein zweistündiges Nickerchen – oder »kontrolliertes Koma«, wie sie es nannte –, und sie würde ungefähr zu der Zeit aufwachen, zu der Andrew nach Hause kam. Vielleicht schaffte sie es sogar anzufangen, Abendessen zu kochen, bevor er seine Schlüssel in die Schale neben der Haustür warf; denn das würde bedeuten, dass sie sich nicht irgendeinen Fraß über eine der vielen Apps auf ihrem Handy bestellten.

»But-But, willst mit Mommy kuscheln?«,...