dummies
 

Suchen und Finden

Titel

Autor/Verlag

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Die stille Mitte der Welt

Patricia Highsmith, Paul Ingendaay

 

Verlag Diogenes, 2020

ISBN 9783257608328 , 400 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

9,99 EUR


 

Stories 19381949


Die Morgen des ewigen Nichts


1


Der Zug, der über eine Stunde neben einem klaren Flüßchen entlanggefahren war, umrundete eine bewaldete Biegung, ließ sein Signal ertönen und tuckerte gemächlich einer kleinen Stadt am Fuß eines Berges entgegen.

In einem der Waggons näherte ein Mann, der unterwegs jede Stadt gemustert hatte, sein Gesicht aufgeregt dem Fenster. Seine Miene entspannte sich, er hörte auf, nervös an den Fingernägeln zu kauen. Ein langer erregender Schauder des Entzückens durchfuhr ihn, denn er wußte, daß diese Stadt, die er nie zuvor gesehen hatte, die Stadt war, nach der er suchte.

Unter dem verhangenen Himmel sah der Ort nicht gerade verheißungsvoll aus, dachte er, und dennoch einladend und freundlich, befand er sich doch genau an der Bahnlinie, wie um jedermann gefällig zu sein, der an dieser Stelle auszusteigen wünschte. Er konnte eine Kirche sehen, ein Amtsgebäude und eine Hauptstraße, die parallel zu den Gleisen verlief und von allen Läden, die ein Mensch brauchen konnte, je ein Exemplar aufwies. Und hinter dieser offenen und gastfreundlichen Fassade lagen ordentliche zweistöckige Häuser, die auf ein Grün gestellt waren, das in die noch grüneren und blaugrünen Berge überging, die sehr wohl den Rest der Erde bedecken mochten.

Er legte seine zehn Fingerkuppen, die unter den fast ganz abgenagten Nägeln geschwollen und sauber hervortraten, auf den Fensterrahmen, als schlage er den Schlußakkord einer Schicksalssymphonie an. Er stand im Begriff, auf die Knie zu fallen und »Dem Herrn sei Dank!« zu murmeln, als er ein heiseres »Einsteigen!« vom Bahnsteig vernahm.

Den Koffer unterm Arm eilte er den Gang entlang und stieß beim Aussteigen mit dem Schaffner zusammen.

»Ich muß aussteigen!« sagte er und sprang von dem Zug, der sich langsam in Bewegung setzte.

Der Zug fuhr nach Norden weiter und trug den Abdruck der zehn Fingerspitzen auf einem seiner schmutzigen Fensterrahmen nach Nirgendwo davon.

Ein paar Schritte vom Bahnhof entfernt erreichte der Mann die geteerte Hauptstraße, die Trevelyan Boulevard hieß. Die Markise des Kinos kam in Sicht; die angekündigten Filme klangen verheißungsvoll; er liebte Filme; der Reklamepfosten des Friseursalons drehte sich fröhlich im Gegenuhrzeigersinn, die Gittertür eines Cafés klapperte, als ein Mann heraustrat, und zwei kleine Mädchen mit Eiswaffeln, eine Hausfrau mit Einkaufstasche und ein Farmer in Arbeitskleidung gingen an ihm vorbei, so passend und pittoresk wie Bühnenfiguren. Und doch war es keine Bühne, sondern eine wirkliche Kleinstadt, in der wahrscheinlich jeder, den er zu sehen bekam, geboren war und sein Leben verbringen und sterben würde. Ihm war schon, als fühle er sich den Leuten verwandt.

Es fiel ihm schwer, daran zurückzudenken, daß er heute morgen mit dem Quietschen eines Zugs auf einer Brücke in den Ohren aufgewacht war und daß er an diesem Morgen am Steuer seines Taxis gesessen hatte. Hatte er heute Fahrgäste gehabt? Er erinnerte sich, daß er langsam gefahren war und Leute, die nach ihm winkten und pfiffen, ignoriert hatte, so widerwillig wie immer, sich in die New Yorker Hysterie zu stürzen, und mit einemmal außerstande dazu. New York an diesem Morgen! Wenn er aus einer Distanz von acht Stunden zurückblickte, kam ihm die krampfhaft gezügelte Raserei der Stadt wie eine Krankheit vor. Er dachte an New York, eindringlich und zum letztenmal. Dann schaltete er seine Gedanken ab wie ein Radio, das ein Footballspiel übertrug.

Glücksgefühl, guter Wille und Optimismus ließen ihn wie auf Wolken gehen. Eine neue Stadt, jungfräulich, voller Möglichkeiten, wo er von vorne anfangen konnte! Er fühlte sich wie neugeboren. Am Sonntag würde er in die Kirche gehen, deren schwarzen Kirchturm, bekrönt von einer goldenen Kugel und einem Kreuz, er über den Baumwipfeln sehen konnte, und Gott zusammen mit den übrigen Bewohnern der Stadt seinen Dank darbringen.

Gerade als ein hungriges Knurren ihn an seinen Magen erinnerte, fiel sein Blick auf ein weißes Gebäude ein paar Meter weiter vorne am Trevelyan Boulevard. Große schwarze Buchstaben schrieben von oben nach unten das Wort IMBISS, und kleine Neonschilder davor und dahinter verkündeten: Die heiße Kiste.

Die Tür war widerspenstig, und eine Stimme aus den Dampfschwaden dahinter rief etwas, was klang wie: »Sachte, sachte!«

Aaron schlüpfte hinein, und die Tür schloß sich sofort wieder. Drinnen war es warm; es duftete nach Spiegeleiern in Butter und frisch gebratenen Hamburgern.

»’n Abend!« sagte dieselbe Stimme. Sie gehörte einem heiseren Mann im Drillichhemd hinter der Theke.

»Guten Abend!« erwiderte Aaron und nickte allen Anwesenden zu. Er setzte sich auf einen Hocker.

Seine blauen Augen ruhten vergnügt auf den hausgemachten warmen Kuchen mit ihrer hellen Kruste, den Reihen zischender Hot dogs auf dem Grill, der Schüssel mit glänzender weicher Butter und den verschiedenen süßen Brötchen auf Tellern in ihren Fächern. Für gewöhnlich standen seine Augen leicht hervor und waren von der Seite gesehen unergründlich wie Katzenaugen, doch jetzt traten sie noch weiter hervor, als sie den Laden auf jede Einzelheit abtasteten. Er nahm den Hut ab und fuhr sich mit der Hand oberflächlich über sein braunes Haar. Er sah zu, wie der Mann hinter der Theke eine Waffel aus dem Waffeleisen nahm, sie großzügig mit Butter bestrich und vor einem Mann abstellte, den sein blau-weiß gestreifter Overall als Gleisbauarbeiter auswies.

»Sirup?«

»Klar doch«, erwiderte der Mann mit rollendem R.

Der Imbißbetreiber stellte ihm einen Krug mit Sirup hin und trat zu Aaron. »Was darf’s sein?«

Aaron preßte die Handflächen aneinander, erhob sich unmerklich mit Hilfe der Fußstützen und bestellte einen Hot dog, eine Waffel, ein Stück warmen Pfirsichkuchen, ein süßes Brötchen und Kaffee. Während all das zubereitet wurde, hörte er dem scherzhaften Geplauder des Imbißmannes und des Gleisbauarbeiters zu und dem leiseren Gespräch der zwei Neger, das immer wieder von Gelächter unterbrochen war.

Das Summen des elektrischen Ventilators bündelte die Welt in dem Imbißladen zu einem vollkommenen Ganzen.

Das Telefon läutete, und das junge Mädchen, das neben der Kasse mit offenen Augen geschlafen hatte, sprang hin. »Du-u!« gurrte sie lächelnd. »Mac sagt, ich muß heute bis um halb neun die Stellung halten.«

»Ach was, du kannst frei haben«, rief Mac gutmütig. »Arbeiten tust du ja sowieso nie.«

Als ihm die Waffel serviert wurde, faßte Aaron sich schuldbewußt ans Kinn. »Ich hätte mich wohl erst mal rasieren sollen«, sagte er und lächelte den Imbißmann an.

Mac lächelte zurück. »Ach, das macht doch nichts. Wir sind hier nicht so. Sehen Sie mich an.« Er lachte. »Wo sind Sie her?«

»Aus New York.« Aaron duckte den Kopf und begann die Waffel zu essen. Er goß eine bescheidene Menge Sirup darauf (als New Yorker wollte er sich nicht so gierig aufführen wie diejenigen, die er in Raststätten beobachtet hatte – so gefräßig, daß Sirup und Sahne ihnen in vernünftigen Portionen zugemessen wurden), und zwischen den einzelnen Bissen schaute er sich um und las die Anschläge an den Wänden.

KOMMT, LEUTE, KOMMT!

WILLIE WALKERS BERÜHMTE SIEBENKÖPFIGE KAPELLE

EINTRITT $ 1.50 PRO PAAR

FREIZEITHALLE BRIGHTON

BRIGHTON, VERMONT

Der Anschlag war einen Monat alt. Er fragte sich, ob das junge Mädchen heute abend zu einer dieser Tanzveranstaltungen ging. Von keiner der Städte, in denen sie stattfanden, hatte er je gehört. Dann sah er einen Anschlag, der besagte:

ZIMMER

MRS. HOPLEYS KOMFORTABLE MÖBLIERTE ZIMMER

WÖCHENTLICH UND MONATLICH

PLEASANT STREET 17, CLEMENT, N.H.

»Wo ist die Pleasant Street?« fragte er Mac, so ängstlich besorgt, diese Stadt könne nicht Clement sein, daß er die Frage fast nicht zu stellen wagte.

Nach einer Weile nahm Mac die Hand vom Nacken, deutete auf eine Ecke der Imbißbude und erklärte Aaron den Weg, den dieser sich in seiner Aufregung nicht merken konnte. Vor seinem inneren Auge erstanden Bilder des Hauses, des Zimmers, das er bewohnen würde. Er staunte über sein Glück, auf eine Straße namens Pleasant gestoßen zu sein; allein schon Clement klang angenehm und beschwor in ihm das Bild einer sonnenbeschienenen Landschaft und einer Picknickgesellschaft herauf.

»Sind Sie länger hier?« fragte Mac, der ihm die Rechnung überreichte.

»Das hoffe ich«, sagte Aaron lächelnd; er legte einen Dollar hin und glitt zur Tür. »Danke, war prima!«

»Bis nächstes Mal!«

»Tschüs!« sagte das Mädchen.

Aaron folgte der Richtung des Fingerzeigs zu einer Straße, die hinter dem Drugstore lag. An der Straßenecke blieb er stehen und bewunderte ein bescheidenes Kriegerdenkmal. Es bestand aus einem Betonpfosten auf einem Rasendreieck, in den eine Metallplatte eingelassen war, die Hunderte von Namen aufführte, alle Kriegsteilnehmer aller Kriege aus Clement. Adams, Barber, Barton, Burke, Child – Hopley? Ja, es gab einen Zachariah P. und einen William J. Hopley. Vielleicht sollte er Mrs. Hopley gegenüber erwähnen, daß er ihre Namen gesehen hatte.

Er ging eilig weiter, lächelte einem strubbeligen, barfüßigen kleinen Mädchen zu, das an einem Baum lehnte, sagte »Guten...